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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Natur und Behandlung des Verbrechers

maßen oder Organen geboren werden, so kommen auch Menschen ohne alle oder
"ut sehr schwachen sittlichen Trieben zur Welt. Dieser seelische Fehler kann
eine Folge leiblicher Fehler, z. B- eines mangelhaften Gehirns sein und als
halber oder vollständiger Blödsinn erscheinen, kann aber auch bei körperlich
und geistig gesunden Menschen vorkommen. Solche Wesen sind dann geborne,
oder wie Ellis sie nennt, instinktive Verbrecher. Sie sind weder zurechnungs¬
fähig, "och können sie gebessert werden.

Wahrscheinlich sind aber solche moralische Ungeheuer außerordentlich selten.
Die meisten Verbrecher sind entweder Verbrecher aus Leidenschaft oder, genauer
gesagt, aus Mangel an Selbstbeherrschung, oder sie sind dazu geworden, weil
sie ihrer Leibes- und Geistesbeschaffenheit nach den Anforderungen nicht ge¬
wachsen waren, die die Gesellschaft an sie stellt. Unglücklicherweise trifft es
sich nun in der modernen Gesellschaft so, daß ihren schwächsten Gliedern die
schwierigsten Aufgaben zugemutet werden, und da kann es nicht Wunder nehmen,
daß ein großer Teil von ihnen dem Verbrechen verfällt. Die Kinder des
großstädtischen Proletariats sind teils schon von Geburt, teils infolge der ge¬
sundheitsschädlichen Lage, in der sie ihre Kindheit verlebt haben, körperlich und
geistig schwach und mit mancherlei Mängeln behaftet, sie müssen sich vom
vierzehnten, oft schon vom zehnten Jahre ab ihr Brot selbst suchen, und dabei
haben sie Anstrengungen, Entbehrungen und Leiden zu bestehen, deren bloße
Vorstellung einen riesenstarken Korpsstudenten mit Grauen erfüllen würde:
werden manche von ihnen keine Verbrecher, so ist das ein Wunder, an dem
die Gesellschaft ganz unschuldig ist. Der "biologische Faktor" ist nicht so zu
verstehen, als ob das Kind die Neigung zu bestimmten Verbrechen erbte,
sondern es erbt nur einen schwachen und zerrütteten Leib, der den Anfor¬
derungen der Gesellschaft nicht gewachsen ist, insbesondre ist dies bei Kindern
von Trunkenbolden der Fall, sowie auch bei Kindern, die von einem für ge¬
wöhnlich dem Trunk nicht ergebner Vater im Rausche gezeugt send. Dazu
kommen dann noch die schlechten Beispiele, schlechten Gewohnheiten und zer¬
rütteten Familien- oder ganz familienlosen Verhältnisse, in denen die Kinder
von Verbrechern und Trunkenbolden aufwachsen, ja auch selbst solche von
ordentlichen Eltern, die dnrch Armut in Proletariervierteln zu leben gezwungen
sind. Es ist möglich, daß schlechte Neigungen unmittelbar vererbt werden,
aber es ist nicht nötig, das anzunehmen, weil die soeben gegebne Erklärung
für alle Fülle ausreicht.

Die Bemühungen der Gelehrten, den leiblichen Verbrechertypus zu er¬
mitteln, entspringen einerseits der an sich wahren Idee der Harmonie zwischen
Leib und Seele, andrerseits der rein materialistischen Auffassung des Menschen¬
wesens. Diese Auffassung halten wir für falsch, und jener Idee ergeht es,
wie allen Ideen: sie wird niemals vollkommen verwirklicht. Der Satz: Lana
Mörs in eorxorö 8W0 ist im allgemeinen so richtig, daß die Weisen aller


Natur und Behandlung des Verbrechers

maßen oder Organen geboren werden, so kommen auch Menschen ohne alle oder
"ut sehr schwachen sittlichen Trieben zur Welt. Dieser seelische Fehler kann
eine Folge leiblicher Fehler, z. B- eines mangelhaften Gehirns sein und als
halber oder vollständiger Blödsinn erscheinen, kann aber auch bei körperlich
und geistig gesunden Menschen vorkommen. Solche Wesen sind dann geborne,
oder wie Ellis sie nennt, instinktive Verbrecher. Sie sind weder zurechnungs¬
fähig, „och können sie gebessert werden.

Wahrscheinlich sind aber solche moralische Ungeheuer außerordentlich selten.
Die meisten Verbrecher sind entweder Verbrecher aus Leidenschaft oder, genauer
gesagt, aus Mangel an Selbstbeherrschung, oder sie sind dazu geworden, weil
sie ihrer Leibes- und Geistesbeschaffenheit nach den Anforderungen nicht ge¬
wachsen waren, die die Gesellschaft an sie stellt. Unglücklicherweise trifft es
sich nun in der modernen Gesellschaft so, daß ihren schwächsten Gliedern die
schwierigsten Aufgaben zugemutet werden, und da kann es nicht Wunder nehmen,
daß ein großer Teil von ihnen dem Verbrechen verfällt. Die Kinder des
großstädtischen Proletariats sind teils schon von Geburt, teils infolge der ge¬
sundheitsschädlichen Lage, in der sie ihre Kindheit verlebt haben, körperlich und
geistig schwach und mit mancherlei Mängeln behaftet, sie müssen sich vom
vierzehnten, oft schon vom zehnten Jahre ab ihr Brot selbst suchen, und dabei
haben sie Anstrengungen, Entbehrungen und Leiden zu bestehen, deren bloße
Vorstellung einen riesenstarken Korpsstudenten mit Grauen erfüllen würde:
werden manche von ihnen keine Verbrecher, so ist das ein Wunder, an dem
die Gesellschaft ganz unschuldig ist. Der „biologische Faktor" ist nicht so zu
verstehen, als ob das Kind die Neigung zu bestimmten Verbrechen erbte,
sondern es erbt nur einen schwachen und zerrütteten Leib, der den Anfor¬
derungen der Gesellschaft nicht gewachsen ist, insbesondre ist dies bei Kindern
von Trunkenbolden der Fall, sowie auch bei Kindern, die von einem für ge¬
wöhnlich dem Trunk nicht ergebner Vater im Rausche gezeugt send. Dazu
kommen dann noch die schlechten Beispiele, schlechten Gewohnheiten und zer¬
rütteten Familien- oder ganz familienlosen Verhältnisse, in denen die Kinder
von Verbrechern und Trunkenbolden aufwachsen, ja auch selbst solche von
ordentlichen Eltern, die dnrch Armut in Proletariervierteln zu leben gezwungen
sind. Es ist möglich, daß schlechte Neigungen unmittelbar vererbt werden,
aber es ist nicht nötig, das anzunehmen, weil die soeben gegebne Erklärung
für alle Fülle ausreicht.

Die Bemühungen der Gelehrten, den leiblichen Verbrechertypus zu er¬
mitteln, entspringen einerseits der an sich wahren Idee der Harmonie zwischen
Leib und Seele, andrerseits der rein materialistischen Auffassung des Menschen¬
wesens. Diese Auffassung halten wir für falsch, und jener Idee ergeht es,
wie allen Ideen: sie wird niemals vollkommen verwirklicht. Der Satz: Lana
Mörs in eorxorö 8W0 ist im allgemeinen so richtig, daß die Weisen aller


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[0127] Natur und Behandlung des Verbrechers maßen oder Organen geboren werden, so kommen auch Menschen ohne alle oder "ut sehr schwachen sittlichen Trieben zur Welt. Dieser seelische Fehler kann eine Folge leiblicher Fehler, z. B- eines mangelhaften Gehirns sein und als halber oder vollständiger Blödsinn erscheinen, kann aber auch bei körperlich und geistig gesunden Menschen vorkommen. Solche Wesen sind dann geborne, oder wie Ellis sie nennt, instinktive Verbrecher. Sie sind weder zurechnungs¬ fähig, „och können sie gebessert werden. Wahrscheinlich sind aber solche moralische Ungeheuer außerordentlich selten. Die meisten Verbrecher sind entweder Verbrecher aus Leidenschaft oder, genauer gesagt, aus Mangel an Selbstbeherrschung, oder sie sind dazu geworden, weil sie ihrer Leibes- und Geistesbeschaffenheit nach den Anforderungen nicht ge¬ wachsen waren, die die Gesellschaft an sie stellt. Unglücklicherweise trifft es sich nun in der modernen Gesellschaft so, daß ihren schwächsten Gliedern die schwierigsten Aufgaben zugemutet werden, und da kann es nicht Wunder nehmen, daß ein großer Teil von ihnen dem Verbrechen verfällt. Die Kinder des großstädtischen Proletariats sind teils schon von Geburt, teils infolge der ge¬ sundheitsschädlichen Lage, in der sie ihre Kindheit verlebt haben, körperlich und geistig schwach und mit mancherlei Mängeln behaftet, sie müssen sich vom vierzehnten, oft schon vom zehnten Jahre ab ihr Brot selbst suchen, und dabei haben sie Anstrengungen, Entbehrungen und Leiden zu bestehen, deren bloße Vorstellung einen riesenstarken Korpsstudenten mit Grauen erfüllen würde: werden manche von ihnen keine Verbrecher, so ist das ein Wunder, an dem die Gesellschaft ganz unschuldig ist. Der „biologische Faktor" ist nicht so zu verstehen, als ob das Kind die Neigung zu bestimmten Verbrechen erbte, sondern es erbt nur einen schwachen und zerrütteten Leib, der den Anfor¬ derungen der Gesellschaft nicht gewachsen ist, insbesondre ist dies bei Kindern von Trunkenbolden der Fall, sowie auch bei Kindern, die von einem für ge¬ wöhnlich dem Trunk nicht ergebner Vater im Rausche gezeugt send. Dazu kommen dann noch die schlechten Beispiele, schlechten Gewohnheiten und zer¬ rütteten Familien- oder ganz familienlosen Verhältnisse, in denen die Kinder von Verbrechern und Trunkenbolden aufwachsen, ja auch selbst solche von ordentlichen Eltern, die dnrch Armut in Proletariervierteln zu leben gezwungen sind. Es ist möglich, daß schlechte Neigungen unmittelbar vererbt werden, aber es ist nicht nötig, das anzunehmen, weil die soeben gegebne Erklärung für alle Fülle ausreicht. Die Bemühungen der Gelehrten, den leiblichen Verbrechertypus zu er¬ mitteln, entspringen einerseits der an sich wahren Idee der Harmonie zwischen Leib und Seele, andrerseits der rein materialistischen Auffassung des Menschen¬ wesens. Diese Auffassung halten wir für falsch, und jener Idee ergeht es, wie allen Ideen: sie wird niemals vollkommen verwirklicht. Der Satz: Lana Mörs in eorxorö 8W0 ist im allgemeinen so richtig, daß die Weisen aller

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/127>, abgerufen am 10.05.2024.