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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Freiheit für die evangelische Kirche

sondres Bekenntnis. Aber wie sind diese Bekenntnisse entstanden? Keineswegs
so, daß die Kirche das, worüber unter ihren Gliedern Übereinstimmung herrschte,
zusammenstellte; denn das ist etwas so Innerliches, Mystisches, daß sich dasür
nie ein Ausdruck finden würde, der alle befriedigte. Sondern jeder einzelne
Teil der Bekenntnisse ist das Ergebnis eines Kampfes mit äußern Feinden,
die in irgend ein Gebiet des Glaubens einfielen und von da aus die ganze
Kirche bedrohten. Die einzelnen Teile der Bekenntnisse sind also gewisser¬
maßen Außenwerke, mit denen sich die Burg der Kirche entweder nach und
nach oder, wie in der Oontgssio ^.nZustAna., nach einem einheitlichen Plane
umgeben hat. Das Bekenntnis kann dagegen für die Burg der Kirche nie¬
mals die Bedeutung des Bergfrieds haben, die ihm doch mißverständlich gar
oft beigelegt wird. Die evangelische Kirche ist gegenwärtig -- um im Bilde
zu bleiben -- mit einem dreifachen Kranze von Außenwerken umgeben: dem
L^mlioluin ^x08t0ki<zum, dem 8^moownMi<za<Ziiuin und derLionkössiv^uZuswrlÄ.
Es ist offenbar, daß manches unter den einzelnen Außenwerkcn zwecklos ge¬
worden ist, weil kein Angriff von dieser Seite mehr zu befürchten ist. Das
eine oder das andre war vielleicht aus so mangelhaftem Material errichtet oder
so ungeschickt gebaut, daß es im Lauf der Zeiten in Trümmer gesunken ist.
Was hat es da noch für einen Zweck, dort Wache und Posten auszustellen?
Wäre es nicht viel richtiger, es abzutragen? Ja, thäte die evangelische Kirche,
wenn sie nun von der Oberhoheit des Staats befreit würde und sich eine eigne
Burg baute, nicht am besten, den dreifachen Gürtel der Außenwerke aufzugeben
und sich mit einem einzigen zu begnügen?

Wohlan! Wenn die Kirche frei geworden sein wird, so schaffe sie sich selbst
ein neues Bekenntnis! Sie würde einen großen Fehler begehen, wenn sie das
alte, erprobte Material, mit dem vergangne Geschlechter gebaut haben, ganz
unbenutzt ließe; aber sie würde sich nicht minder schwer schädigen, wenn sie
alles, auch das zerbröckelte, unter allen Umständen wieder verwenden wollte.

Wer aber soll nun das neue Bekenntnis hervorbringen? Jedenfalls nicht
ein einzelner! Bekenntnisse sind immer nur durch Mehrheitsbeschlüsse zustande
gekommen, und nicht anders kann es und wird es sein bei dem neuen Be¬
kenntnis, nach dem jetzt ein mächtiges Sehnen durch die evangelische Christen¬
heit geht. Die evangelische Kirche, wie sie jetzt ist, zersplittert in Landeskirchen,
niedergehalten von der Faust des Staats, ist unfähig, sich ein neues Bekenntnis
zu schaffen. Die freigewordne evangelische Kirche erst würde dazu imstande
sein, denn sie erst kann sich das Organ geben, das ein Recht dazu Hütte. Das
erste Konzil der freien evangelischen Kirche würde sich damit zu befassen haben,
ein neues Bekenntnis zu schaffen. Dabei dürfte es aber nicht vergessen, daß
jedes Bekenntnis seinem innersten Wesen nach negativ sein muß, d. h. daß es
nur das enthalten darf, wovon sich die Überzeugung der zur Kirche vereinigten
von der Überzeugung derer unterscheidet, die nicht zur Kirche gehören.


Freiheit für die evangelische Kirche

sondres Bekenntnis. Aber wie sind diese Bekenntnisse entstanden? Keineswegs
so, daß die Kirche das, worüber unter ihren Gliedern Übereinstimmung herrschte,
zusammenstellte; denn das ist etwas so Innerliches, Mystisches, daß sich dasür
nie ein Ausdruck finden würde, der alle befriedigte. Sondern jeder einzelne
Teil der Bekenntnisse ist das Ergebnis eines Kampfes mit äußern Feinden,
die in irgend ein Gebiet des Glaubens einfielen und von da aus die ganze
Kirche bedrohten. Die einzelnen Teile der Bekenntnisse sind also gewisser¬
maßen Außenwerke, mit denen sich die Burg der Kirche entweder nach und
nach oder, wie in der Oontgssio ^.nZustAna., nach einem einheitlichen Plane
umgeben hat. Das Bekenntnis kann dagegen für die Burg der Kirche nie¬
mals die Bedeutung des Bergfrieds haben, die ihm doch mißverständlich gar
oft beigelegt wird. Die evangelische Kirche ist gegenwärtig — um im Bilde
zu bleiben — mit einem dreifachen Kranze von Außenwerken umgeben: dem
L^mlioluin ^x08t0ki<zum, dem 8^moownMi<za<Ziiuin und derLionkössiv^uZuswrlÄ.
Es ist offenbar, daß manches unter den einzelnen Außenwerkcn zwecklos ge¬
worden ist, weil kein Angriff von dieser Seite mehr zu befürchten ist. Das
eine oder das andre war vielleicht aus so mangelhaftem Material errichtet oder
so ungeschickt gebaut, daß es im Lauf der Zeiten in Trümmer gesunken ist.
Was hat es da noch für einen Zweck, dort Wache und Posten auszustellen?
Wäre es nicht viel richtiger, es abzutragen? Ja, thäte die evangelische Kirche,
wenn sie nun von der Oberhoheit des Staats befreit würde und sich eine eigne
Burg baute, nicht am besten, den dreifachen Gürtel der Außenwerke aufzugeben
und sich mit einem einzigen zu begnügen?

Wohlan! Wenn die Kirche frei geworden sein wird, so schaffe sie sich selbst
ein neues Bekenntnis! Sie würde einen großen Fehler begehen, wenn sie das
alte, erprobte Material, mit dem vergangne Geschlechter gebaut haben, ganz
unbenutzt ließe; aber sie würde sich nicht minder schwer schädigen, wenn sie
alles, auch das zerbröckelte, unter allen Umständen wieder verwenden wollte.

Wer aber soll nun das neue Bekenntnis hervorbringen? Jedenfalls nicht
ein einzelner! Bekenntnisse sind immer nur durch Mehrheitsbeschlüsse zustande
gekommen, und nicht anders kann es und wird es sein bei dem neuen Be¬
kenntnis, nach dem jetzt ein mächtiges Sehnen durch die evangelische Christen¬
heit geht. Die evangelische Kirche, wie sie jetzt ist, zersplittert in Landeskirchen,
niedergehalten von der Faust des Staats, ist unfähig, sich ein neues Bekenntnis
zu schaffen. Die freigewordne evangelische Kirche erst würde dazu imstande
sein, denn sie erst kann sich das Organ geben, das ein Recht dazu Hütte. Das
erste Konzil der freien evangelischen Kirche würde sich damit zu befassen haben,
ein neues Bekenntnis zu schaffen. Dabei dürfte es aber nicht vergessen, daß
jedes Bekenntnis seinem innersten Wesen nach negativ sein muß, d. h. daß es
nur das enthalten darf, wovon sich die Überzeugung der zur Kirche vereinigten
von der Überzeugung derer unterscheidet, die nicht zur Kirche gehören.


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[0021] Freiheit für die evangelische Kirche sondres Bekenntnis. Aber wie sind diese Bekenntnisse entstanden? Keineswegs so, daß die Kirche das, worüber unter ihren Gliedern Übereinstimmung herrschte, zusammenstellte; denn das ist etwas so Innerliches, Mystisches, daß sich dasür nie ein Ausdruck finden würde, der alle befriedigte. Sondern jeder einzelne Teil der Bekenntnisse ist das Ergebnis eines Kampfes mit äußern Feinden, die in irgend ein Gebiet des Glaubens einfielen und von da aus die ganze Kirche bedrohten. Die einzelnen Teile der Bekenntnisse sind also gewisser¬ maßen Außenwerke, mit denen sich die Burg der Kirche entweder nach und nach oder, wie in der Oontgssio ^.nZustAna., nach einem einheitlichen Plane umgeben hat. Das Bekenntnis kann dagegen für die Burg der Kirche nie¬ mals die Bedeutung des Bergfrieds haben, die ihm doch mißverständlich gar oft beigelegt wird. Die evangelische Kirche ist gegenwärtig — um im Bilde zu bleiben — mit einem dreifachen Kranze von Außenwerken umgeben: dem L^mlioluin ^x08t0ki<zum, dem 8^moownMi<za<Ziiuin und derLionkössiv^uZuswrlÄ. Es ist offenbar, daß manches unter den einzelnen Außenwerkcn zwecklos ge¬ worden ist, weil kein Angriff von dieser Seite mehr zu befürchten ist. Das eine oder das andre war vielleicht aus so mangelhaftem Material errichtet oder so ungeschickt gebaut, daß es im Lauf der Zeiten in Trümmer gesunken ist. Was hat es da noch für einen Zweck, dort Wache und Posten auszustellen? Wäre es nicht viel richtiger, es abzutragen? Ja, thäte die evangelische Kirche, wenn sie nun von der Oberhoheit des Staats befreit würde und sich eine eigne Burg baute, nicht am besten, den dreifachen Gürtel der Außenwerke aufzugeben und sich mit einem einzigen zu begnügen? Wohlan! Wenn die Kirche frei geworden sein wird, so schaffe sie sich selbst ein neues Bekenntnis! Sie würde einen großen Fehler begehen, wenn sie das alte, erprobte Material, mit dem vergangne Geschlechter gebaut haben, ganz unbenutzt ließe; aber sie würde sich nicht minder schwer schädigen, wenn sie alles, auch das zerbröckelte, unter allen Umständen wieder verwenden wollte. Wer aber soll nun das neue Bekenntnis hervorbringen? Jedenfalls nicht ein einzelner! Bekenntnisse sind immer nur durch Mehrheitsbeschlüsse zustande gekommen, und nicht anders kann es und wird es sein bei dem neuen Be¬ kenntnis, nach dem jetzt ein mächtiges Sehnen durch die evangelische Christen¬ heit geht. Die evangelische Kirche, wie sie jetzt ist, zersplittert in Landeskirchen, niedergehalten von der Faust des Staats, ist unfähig, sich ein neues Bekenntnis zu schaffen. Die freigewordne evangelische Kirche erst würde dazu imstande sein, denn sie erst kann sich das Organ geben, das ein Recht dazu Hütte. Das erste Konzil der freien evangelischen Kirche würde sich damit zu befassen haben, ein neues Bekenntnis zu schaffen. Dabei dürfte es aber nicht vergessen, daß jedes Bekenntnis seinem innersten Wesen nach negativ sein muß, d. h. daß es nur das enthalten darf, wovon sich die Überzeugung der zur Kirche vereinigten von der Überzeugung derer unterscheidet, die nicht zur Kirche gehören.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/21>, abgerufen am 09.05.2024.