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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Das Christentum und die soziale Frage

tum" das erste bedeuten, so ist er eine Tautologie, die höchstens in der Polemik
ein Recht hat, einem unsozialen Christentum gegenüber, das zu einer Standes¬
religion der Privilegirten entartet ist. Soll "soziales Christentum" mehr be¬
zeichnen, so ist es ein verfehlter Gedanke, der das Christentum zu einer Standes-
religivn der Enterbten machen würde, die nicht besser wäre, als jede andre
Standesreligion.

Etwas andres ist die Frage, ob ein Geistlicher eine soziale Thätigkeit ent¬
falten solle im eigentlichen Sinne des Wortes. Der Geistliche ist ja zugleich
Staatsbürger und hat gewiß Recht und Pflicht eines solchen. Eine solche
Arbeit eines Geistlichen kann gewiß recht heilsam sein -- Naumanns Auf¬
treten hat auf viele Sozialdemokraten großen Eindruck gemacht und dem Christen¬
tum gewiß vielfach offne Ohren bereitet. Und eine solche Erfahrung steht ja
keineswegs vereinzelt. Allein wichtiger erscheint uns jene soziale Thätigkeit,
die des Geistlichen erster Beruf ist. Man könnte sich dafür auch auf das Neue
Testament berufen, wo von sozialer Thätigkeit andrer Art nichts berichtet wird,
aber dort fehlt der Begriff eines Staatsbürgers im modernen Sinn, und auch
sonst hindert manches eine unvermittelte Anwendung.

Darum habe ich auch große Bedenken, von einer "sozialen Thätigkeit"
Jesu zu reden. Das kann mir in dem Sinne richtig sein, daß Jesus die Re¬
ligion gebracht und gelehrt hat, die in ihren sittlichen Folgerungen die beste
Grundlage jeder sozialen Ordnung bildet. Eine unmittelbare soziale Thätig¬
keit hat Jesus nach dem, was uns von seinem Leben überliefert ist, nie geübt.
Seine Heilungen haben ebenso wenig die sozialen Schwierigkeiten jener Tage
heben helfen, wie die innere Mission in unsrer Zeit. Ob die vielen Heilungen,
von denen die Evangelien berichten, wie Naumann sagt, "die Kraft des Volks
gehoben und so sozial gewirkt haben," bezweifle ich. Darüber könnte erst eine
wirtschaftsgeschichtliche Untersuchung der Zeitverhältnisse entscheiden. In unsern
Tagen würden so viele Heilungen nur das Arbeitsangebot plötzlich vermehren
und die Schwierigkeiten steigern. Sozial gewirkt hat auch Jesus nur dnrch
den Geist, den er brachte.

Am klarsten sieht man den Unterschied zwischen sozialer Thätigkeit so und
so, wenn man den oft gehörten Ausspruch betrachtet: "Wären wir alle rechte
Christen, so wäre die soziale Frage gelöst." Nein, keineswegs; wir würden
dann nur die sozialen Mißstände viel schmerzlicher empfinden als jetzt. Zu
ihrer Beseitigung könnte man auch dann nur durch geschichtliche und wirt¬
schaftliche Studien, durch viele praktische Versuche, durch eine lange Entwick¬
lung u. a. gelangen; ganz wie jetzt. Und doch nicht ganz wie jetzt. Wären
wir alle rechte Christen, so hätten wir für alle sozialen Versuche und Pläne
einen weit bessern Boden, wir Hütten die sittlichen Kräfte, um wirklich zu einer
vollkommnen sozialen und politischen Ordnung zu gelangen und diese auch fest¬
zuhalten.


Das Christentum und die soziale Frage

tum" das erste bedeuten, so ist er eine Tautologie, die höchstens in der Polemik
ein Recht hat, einem unsozialen Christentum gegenüber, das zu einer Standes¬
religion der Privilegirten entartet ist. Soll „soziales Christentum" mehr be¬
zeichnen, so ist es ein verfehlter Gedanke, der das Christentum zu einer Standes-
religivn der Enterbten machen würde, die nicht besser wäre, als jede andre
Standesreligion.

Etwas andres ist die Frage, ob ein Geistlicher eine soziale Thätigkeit ent¬
falten solle im eigentlichen Sinne des Wortes. Der Geistliche ist ja zugleich
Staatsbürger und hat gewiß Recht und Pflicht eines solchen. Eine solche
Arbeit eines Geistlichen kann gewiß recht heilsam sein — Naumanns Auf¬
treten hat auf viele Sozialdemokraten großen Eindruck gemacht und dem Christen¬
tum gewiß vielfach offne Ohren bereitet. Und eine solche Erfahrung steht ja
keineswegs vereinzelt. Allein wichtiger erscheint uns jene soziale Thätigkeit,
die des Geistlichen erster Beruf ist. Man könnte sich dafür auch auf das Neue
Testament berufen, wo von sozialer Thätigkeit andrer Art nichts berichtet wird,
aber dort fehlt der Begriff eines Staatsbürgers im modernen Sinn, und auch
sonst hindert manches eine unvermittelte Anwendung.

Darum habe ich auch große Bedenken, von einer „sozialen Thätigkeit"
Jesu zu reden. Das kann mir in dem Sinne richtig sein, daß Jesus die Re¬
ligion gebracht und gelehrt hat, die in ihren sittlichen Folgerungen die beste
Grundlage jeder sozialen Ordnung bildet. Eine unmittelbare soziale Thätig¬
keit hat Jesus nach dem, was uns von seinem Leben überliefert ist, nie geübt.
Seine Heilungen haben ebenso wenig die sozialen Schwierigkeiten jener Tage
heben helfen, wie die innere Mission in unsrer Zeit. Ob die vielen Heilungen,
von denen die Evangelien berichten, wie Naumann sagt, „die Kraft des Volks
gehoben und so sozial gewirkt haben," bezweifle ich. Darüber könnte erst eine
wirtschaftsgeschichtliche Untersuchung der Zeitverhältnisse entscheiden. In unsern
Tagen würden so viele Heilungen nur das Arbeitsangebot plötzlich vermehren
und die Schwierigkeiten steigern. Sozial gewirkt hat auch Jesus nur dnrch
den Geist, den er brachte.

Am klarsten sieht man den Unterschied zwischen sozialer Thätigkeit so und
so, wenn man den oft gehörten Ausspruch betrachtet: „Wären wir alle rechte
Christen, so wäre die soziale Frage gelöst." Nein, keineswegs; wir würden
dann nur die sozialen Mißstände viel schmerzlicher empfinden als jetzt. Zu
ihrer Beseitigung könnte man auch dann nur durch geschichtliche und wirt¬
schaftliche Studien, durch viele praktische Versuche, durch eine lange Entwick¬
lung u. a. gelangen; ganz wie jetzt. Und doch nicht ganz wie jetzt. Wären
wir alle rechte Christen, so hätten wir für alle sozialen Versuche und Pläne
einen weit bessern Boden, wir Hütten die sittlichen Kräfte, um wirklich zu einer
vollkommnen sozialen und politischen Ordnung zu gelangen und diese auch fest¬
zuhalten.


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[0259] Das Christentum und die soziale Frage tum" das erste bedeuten, so ist er eine Tautologie, die höchstens in der Polemik ein Recht hat, einem unsozialen Christentum gegenüber, das zu einer Standes¬ religion der Privilegirten entartet ist. Soll „soziales Christentum" mehr be¬ zeichnen, so ist es ein verfehlter Gedanke, der das Christentum zu einer Standes- religivn der Enterbten machen würde, die nicht besser wäre, als jede andre Standesreligion. Etwas andres ist die Frage, ob ein Geistlicher eine soziale Thätigkeit ent¬ falten solle im eigentlichen Sinne des Wortes. Der Geistliche ist ja zugleich Staatsbürger und hat gewiß Recht und Pflicht eines solchen. Eine solche Arbeit eines Geistlichen kann gewiß recht heilsam sein — Naumanns Auf¬ treten hat auf viele Sozialdemokraten großen Eindruck gemacht und dem Christen¬ tum gewiß vielfach offne Ohren bereitet. Und eine solche Erfahrung steht ja keineswegs vereinzelt. Allein wichtiger erscheint uns jene soziale Thätigkeit, die des Geistlichen erster Beruf ist. Man könnte sich dafür auch auf das Neue Testament berufen, wo von sozialer Thätigkeit andrer Art nichts berichtet wird, aber dort fehlt der Begriff eines Staatsbürgers im modernen Sinn, und auch sonst hindert manches eine unvermittelte Anwendung. Darum habe ich auch große Bedenken, von einer „sozialen Thätigkeit" Jesu zu reden. Das kann mir in dem Sinne richtig sein, daß Jesus die Re¬ ligion gebracht und gelehrt hat, die in ihren sittlichen Folgerungen die beste Grundlage jeder sozialen Ordnung bildet. Eine unmittelbare soziale Thätig¬ keit hat Jesus nach dem, was uns von seinem Leben überliefert ist, nie geübt. Seine Heilungen haben ebenso wenig die sozialen Schwierigkeiten jener Tage heben helfen, wie die innere Mission in unsrer Zeit. Ob die vielen Heilungen, von denen die Evangelien berichten, wie Naumann sagt, „die Kraft des Volks gehoben und so sozial gewirkt haben," bezweifle ich. Darüber könnte erst eine wirtschaftsgeschichtliche Untersuchung der Zeitverhältnisse entscheiden. In unsern Tagen würden so viele Heilungen nur das Arbeitsangebot plötzlich vermehren und die Schwierigkeiten steigern. Sozial gewirkt hat auch Jesus nur dnrch den Geist, den er brachte. Am klarsten sieht man den Unterschied zwischen sozialer Thätigkeit so und so, wenn man den oft gehörten Ausspruch betrachtet: „Wären wir alle rechte Christen, so wäre die soziale Frage gelöst." Nein, keineswegs; wir würden dann nur die sozialen Mißstände viel schmerzlicher empfinden als jetzt. Zu ihrer Beseitigung könnte man auch dann nur durch geschichtliche und wirt¬ schaftliche Studien, durch viele praktische Versuche, durch eine lange Entwick¬ lung u. a. gelangen; ganz wie jetzt. Und doch nicht ganz wie jetzt. Wären wir alle rechte Christen, so hätten wir für alle sozialen Versuche und Pläne einen weit bessern Boden, wir Hütten die sittlichen Kräfte, um wirklich zu einer vollkommnen sozialen und politischen Ordnung zu gelangen und diese auch fest¬ zuhalten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/259>, abgerufen am 12.05.2024.