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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Gin Humorist als Politiker

form zu verleihe". Der Philosoph hat in dem System seiner Weltanschauung
abstrakte Wirklichkeit zu geben, die Lichtteilchen der Erkenntnis, die in seiner
Zeit in alle Himmelsrichtungen zerstreut flimmern, zu einem großen Strahlen-
auge zu sammeln und zu ordnen. Verläßt er diesen historisch gegebnen Boden,
so kann er ein Wolkenkukuksheim wie den Platonischen Staat oder eine sonstige
luftige Utopie bauen: die Menschheit wird er keinen Schritt vorwärts bringen.
Ebenso hat der Historiker das Wollen und Handeln eines Zeitalters in Schwa¬
dronen geordnet aufmarschiren zu lassen und zwischen Biwacht, Marsch,
Schlacht, Belagerung, Verteidigung und dem Hauptquartier der Ideen den
Depeschendienst zu verrichten. Nur so wird er eine wahrhaft konkrete Wirk¬
lichkeit zeichnen und das geschichtliche Erkennen auf eine höhere Stufe des
Selbstbewußtseins heben können. Und der Künstler, hier vor allem der Dichter,
kommt bei dieser Teilung der Erde nicht so schlecht weg wie in dem Schiller-
schen Gedicht. Er ist Herrscher im Reiche des Fühlens, in dem dunkeln Ur¬
sprung alles geistigen Lebens, das sich in seinen Wirkungen nur umso Heller
offenbart. Weiß er da hinabzubringen bis zum Lebensborn der Ideen, in
den der Baum der Menschheit seine tiefsten Wurzeln taucht, so wird seinen
Schöpfungen die Urform des Ewigmenschlichen unverlierbar aufgeprägt sein.
Seine ideale Wirklichkeit, seine "sinnliche Darstellung des Geistes durch das
Bild" wird unabhängig von Raum und Zeit die Menschenherzen rühren als
Fleisch von ihrem Fleisch.

Wenn wir die Probe auf dies Exempel bei einem Dichter machen, der
das Zeitalter Wilhelms I. erlebt hat, so werden wahrscheinlich die politischen
Ideen herausspringen, die dies Zeitalter beherrschen. Aber sie werden uns
in künstlerischer Form entgegentreten, werden verklärt und abgeklärt von uns
im Gemüte nacherlebt werden, und diese Abrechnung kann doch erst das
wahre Endergebnis des vergangnen Zeitabschnitts bringen.

Um ganz sicher zu gehen, machen wir die Probe bei einem Dichter, der
uns die Vergangenheit unpathetisch in der Freiheit des Humors abspiegelt, bei
dem einzigen großen Humoristen, der uns noch lebt, bei Wilhelm Raabe.

Im Sommer 1855 beendigte der dreiundzwanzigjährige Dichter sein
Erstlingswerk mit den Worten: "Seid gegrüßt, alle ihr Herzen bei Tag und
bei Nacht; sei gegrüßt, du großes träumendes Vaterland; sei gegrüßt, du
kleine, enge, dunkle Gasse; sei gegrüßt, du große schaffende Gewalt, die du
die ewige Liebe bist! -- Amen! Das sei das Ende der Chronik der Sper-
lingsgasfc!"

An eine so allgemeine Adresse wird sich ein Dichter nicht wenden, wenn
er nur zu erzählen hat, wie Hans die Grete bekommt. Was Raabe zu sagen
hat, steht einige Seiten früher. Er spricht von Heimath- und Nationalgefühl
und Vaterlandsliebe des deutschen Volkes in ergreifenden Worten. "In eng¬
lischen Schriften läuft Deutschland öfter als elf tntnerlMÄ e^"^. Das


Gin Humorist als Politiker

form zu verleihe». Der Philosoph hat in dem System seiner Weltanschauung
abstrakte Wirklichkeit zu geben, die Lichtteilchen der Erkenntnis, die in seiner
Zeit in alle Himmelsrichtungen zerstreut flimmern, zu einem großen Strahlen-
auge zu sammeln und zu ordnen. Verläßt er diesen historisch gegebnen Boden,
so kann er ein Wolkenkukuksheim wie den Platonischen Staat oder eine sonstige
luftige Utopie bauen: die Menschheit wird er keinen Schritt vorwärts bringen.
Ebenso hat der Historiker das Wollen und Handeln eines Zeitalters in Schwa¬
dronen geordnet aufmarschiren zu lassen und zwischen Biwacht, Marsch,
Schlacht, Belagerung, Verteidigung und dem Hauptquartier der Ideen den
Depeschendienst zu verrichten. Nur so wird er eine wahrhaft konkrete Wirk¬
lichkeit zeichnen und das geschichtliche Erkennen auf eine höhere Stufe des
Selbstbewußtseins heben können. Und der Künstler, hier vor allem der Dichter,
kommt bei dieser Teilung der Erde nicht so schlecht weg wie in dem Schiller-
schen Gedicht. Er ist Herrscher im Reiche des Fühlens, in dem dunkeln Ur¬
sprung alles geistigen Lebens, das sich in seinen Wirkungen nur umso Heller
offenbart. Weiß er da hinabzubringen bis zum Lebensborn der Ideen, in
den der Baum der Menschheit seine tiefsten Wurzeln taucht, so wird seinen
Schöpfungen die Urform des Ewigmenschlichen unverlierbar aufgeprägt sein.
Seine ideale Wirklichkeit, seine „sinnliche Darstellung des Geistes durch das
Bild" wird unabhängig von Raum und Zeit die Menschenherzen rühren als
Fleisch von ihrem Fleisch.

Wenn wir die Probe auf dies Exempel bei einem Dichter machen, der
das Zeitalter Wilhelms I. erlebt hat, so werden wahrscheinlich die politischen
Ideen herausspringen, die dies Zeitalter beherrschen. Aber sie werden uns
in künstlerischer Form entgegentreten, werden verklärt und abgeklärt von uns
im Gemüte nacherlebt werden, und diese Abrechnung kann doch erst das
wahre Endergebnis des vergangnen Zeitabschnitts bringen.

Um ganz sicher zu gehen, machen wir die Probe bei einem Dichter, der
uns die Vergangenheit unpathetisch in der Freiheit des Humors abspiegelt, bei
dem einzigen großen Humoristen, der uns noch lebt, bei Wilhelm Raabe.

Im Sommer 1855 beendigte der dreiundzwanzigjährige Dichter sein
Erstlingswerk mit den Worten: „Seid gegrüßt, alle ihr Herzen bei Tag und
bei Nacht; sei gegrüßt, du großes träumendes Vaterland; sei gegrüßt, du
kleine, enge, dunkle Gasse; sei gegrüßt, du große schaffende Gewalt, die du
die ewige Liebe bist! — Amen! Das sei das Ende der Chronik der Sper-
lingsgasfc!"

An eine so allgemeine Adresse wird sich ein Dichter nicht wenden, wenn
er nur zu erzählen hat, wie Hans die Grete bekommt. Was Raabe zu sagen
hat, steht einige Seiten früher. Er spricht von Heimath- und Nationalgefühl
und Vaterlandsliebe des deutschen Volkes in ergreifenden Worten. „In eng¬
lischen Schriften läuft Deutschland öfter als elf tntnerlMÄ e^»^. Das


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[0280] Gin Humorist als Politiker form zu verleihe». Der Philosoph hat in dem System seiner Weltanschauung abstrakte Wirklichkeit zu geben, die Lichtteilchen der Erkenntnis, die in seiner Zeit in alle Himmelsrichtungen zerstreut flimmern, zu einem großen Strahlen- auge zu sammeln und zu ordnen. Verläßt er diesen historisch gegebnen Boden, so kann er ein Wolkenkukuksheim wie den Platonischen Staat oder eine sonstige luftige Utopie bauen: die Menschheit wird er keinen Schritt vorwärts bringen. Ebenso hat der Historiker das Wollen und Handeln eines Zeitalters in Schwa¬ dronen geordnet aufmarschiren zu lassen und zwischen Biwacht, Marsch, Schlacht, Belagerung, Verteidigung und dem Hauptquartier der Ideen den Depeschendienst zu verrichten. Nur so wird er eine wahrhaft konkrete Wirk¬ lichkeit zeichnen und das geschichtliche Erkennen auf eine höhere Stufe des Selbstbewußtseins heben können. Und der Künstler, hier vor allem der Dichter, kommt bei dieser Teilung der Erde nicht so schlecht weg wie in dem Schiller- schen Gedicht. Er ist Herrscher im Reiche des Fühlens, in dem dunkeln Ur¬ sprung alles geistigen Lebens, das sich in seinen Wirkungen nur umso Heller offenbart. Weiß er da hinabzubringen bis zum Lebensborn der Ideen, in den der Baum der Menschheit seine tiefsten Wurzeln taucht, so wird seinen Schöpfungen die Urform des Ewigmenschlichen unverlierbar aufgeprägt sein. Seine ideale Wirklichkeit, seine „sinnliche Darstellung des Geistes durch das Bild" wird unabhängig von Raum und Zeit die Menschenherzen rühren als Fleisch von ihrem Fleisch. Wenn wir die Probe auf dies Exempel bei einem Dichter machen, der das Zeitalter Wilhelms I. erlebt hat, so werden wahrscheinlich die politischen Ideen herausspringen, die dies Zeitalter beherrschen. Aber sie werden uns in künstlerischer Form entgegentreten, werden verklärt und abgeklärt von uns im Gemüte nacherlebt werden, und diese Abrechnung kann doch erst das wahre Endergebnis des vergangnen Zeitabschnitts bringen. Um ganz sicher zu gehen, machen wir die Probe bei einem Dichter, der uns die Vergangenheit unpathetisch in der Freiheit des Humors abspiegelt, bei dem einzigen großen Humoristen, der uns noch lebt, bei Wilhelm Raabe. Im Sommer 1855 beendigte der dreiundzwanzigjährige Dichter sein Erstlingswerk mit den Worten: „Seid gegrüßt, alle ihr Herzen bei Tag und bei Nacht; sei gegrüßt, du großes träumendes Vaterland; sei gegrüßt, du kleine, enge, dunkle Gasse; sei gegrüßt, du große schaffende Gewalt, die du die ewige Liebe bist! — Amen! Das sei das Ende der Chronik der Sper- lingsgasfc!" An eine so allgemeine Adresse wird sich ein Dichter nicht wenden, wenn er nur zu erzählen hat, wie Hans die Grete bekommt. Was Raabe zu sagen hat, steht einige Seiten früher. Er spricht von Heimath- und Nationalgefühl und Vaterlandsliebe des deutschen Volkes in ergreifenden Worten. „In eng¬ lischen Schriften läuft Deutschland öfter als elf tntnerlMÄ e^»^. Das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/280>, abgerufen am 12.05.2024.