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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Victor Ain^ Zauber

unverkennbar spanisch; sind unsre neuen ebenso unverkennbar deutsch? Huber
meint mit Recht, die ungeheure Fruchtbarkeit der großen spanischen Drama¬
tiker sei weder eine zufällige, noch eine gleichgiltige Erscheinung, sie enthülle
die Kraft des Volksgeistes, der solche Blütenfülle trieb. Und daß es der
Volksgeist selber war, der in und mit den Dichtern arbeitete, beweist der
Umstand, daß das Schicksal auch der Werke eines Lope und Calderon von
dem Beifall oder den urwüchsigen Mißfallensansbrüchen der Galerie abhing.
Das Volk hatte seine eignen Sitten, seine eignen Vergnügungen, seine eigue
Kunst, die Großen teilten seineu Geschmack, die Regierung schützte das Volk
in dein Genuß seiner ungemischten nationalen Güter, und darum fühlte sich das
Volk nicht bloß frei unter der Herrschaft der Inquisition, sondern es war
wirklich frei; denn frei ist ein Volk, wenn es seiner nennr und seinem Ge¬
schmack nachleben kann. Unfrei hätte es sich gefühlt, wenn man ihm seine
Kirchenfeste, seine Prozessionen, seine Tänze, seine An los, die gesprochnen wie
die gebrannten, später seine Stiergefechte hätte nehmen wollen. Vor allem
aber: die Spanier waren in dem Sinne ein Volk, und sie sind es einiger¬
maßen auch heute noch, daß den Armen keine Kluft vom Reichen trennt, daß
der Bettler, der Droschkenkutscher und der Herzog auf gleichem Fuße mit
einander verkehren. Bei uns versuche es der Fabrikarbeiter nur einmal, einen
vornehmen Herrn um Cigarrenfeucr zu bitten oder ein familiäres Gespräch
mit ihm anzuknüpfen! Es ist eine so schroffe Scheidung der Klassen ein¬
getreten, daß viele Unternehmer und Großgrundbesitzer gar keinen Begriff mehr
davon haben, wie ihre Arbeiter leben, und daß man durch allerlei sinnreiche
Einrichtungen (Aufgang nur für Herrschnfteu u. f. w.) die Möglichkeit zu¬
fälliger Begegnungen zwischen Arm und Reich auf ein ganz geringes Maß
einzuschränken weiß. Daß diese beiden Klassen, die einander fremd und feindlich
gegenüberstehen, ein Volk bilde" sollte", ist die sonderbarste aller Ideen. Wie
weit die Bemühungen der Staatsregierungen, den zerstörte" Bolkstvrper durch
mechanisches Znsammenleimen der Glieder im Heer u"d in Verwaltungs-
gebieteu wieder herzustellen, Erfolg habe" werden, bleibt abzuwarten. Was
in Spanien den natürlichen Volkskörper so lange lebendig erhalten hat, war
u. a. das Fehlen des Maininonsgeistes und der Kolonialbesitz. Die Gunst
des Klimas, der Geschmack a" natürliche", wenig kostspielige" Vergnügungen,
die einfache freie Sitte und die geringen Ansprüche, die der Reiche an die
Arbeitskraft des Armen stellte, das Almosen, das dem Bedürftige" ohne Um¬
stünde und ohne Demütigung gereicht wurde, wirkten zusammen, dem Mittel¬
lose" das Leben so leicht zu mache", daß er weder seinen Frohsinn, "och das
Ästhetische seiner Erscheinung, noch das Bewußtsein seiner Menschen- und
Christenwürde, "och seinen Spmiierstvlz einbüßte; Reichtümer bezogen die, die
"ach solchen begehrte", ans de" Kolonie", wo Menschen andern Stammes als
Sklaven für sie arbeiteten. So blieb anch der ärmste Spanier ein Spanier,


Grenzboten I 1895 47
Victor Ain^ Zauber

unverkennbar spanisch; sind unsre neuen ebenso unverkennbar deutsch? Huber
meint mit Recht, die ungeheure Fruchtbarkeit der großen spanischen Drama¬
tiker sei weder eine zufällige, noch eine gleichgiltige Erscheinung, sie enthülle
die Kraft des Volksgeistes, der solche Blütenfülle trieb. Und daß es der
Volksgeist selber war, der in und mit den Dichtern arbeitete, beweist der
Umstand, daß das Schicksal auch der Werke eines Lope und Calderon von
dem Beifall oder den urwüchsigen Mißfallensansbrüchen der Galerie abhing.
Das Volk hatte seine eignen Sitten, seine eignen Vergnügungen, seine eigue
Kunst, die Großen teilten seineu Geschmack, die Regierung schützte das Volk
in dein Genuß seiner ungemischten nationalen Güter, und darum fühlte sich das
Volk nicht bloß frei unter der Herrschaft der Inquisition, sondern es war
wirklich frei; denn frei ist ein Volk, wenn es seiner nennr und seinem Ge¬
schmack nachleben kann. Unfrei hätte es sich gefühlt, wenn man ihm seine
Kirchenfeste, seine Prozessionen, seine Tänze, seine An los, die gesprochnen wie
die gebrannten, später seine Stiergefechte hätte nehmen wollen. Vor allem
aber: die Spanier waren in dem Sinne ein Volk, und sie sind es einiger¬
maßen auch heute noch, daß den Armen keine Kluft vom Reichen trennt, daß
der Bettler, der Droschkenkutscher und der Herzog auf gleichem Fuße mit
einander verkehren. Bei uns versuche es der Fabrikarbeiter nur einmal, einen
vornehmen Herrn um Cigarrenfeucr zu bitten oder ein familiäres Gespräch
mit ihm anzuknüpfen! Es ist eine so schroffe Scheidung der Klassen ein¬
getreten, daß viele Unternehmer und Großgrundbesitzer gar keinen Begriff mehr
davon haben, wie ihre Arbeiter leben, und daß man durch allerlei sinnreiche
Einrichtungen (Aufgang nur für Herrschnfteu u. f. w.) die Möglichkeit zu¬
fälliger Begegnungen zwischen Arm und Reich auf ein ganz geringes Maß
einzuschränken weiß. Daß diese beiden Klassen, die einander fremd und feindlich
gegenüberstehen, ein Volk bilde» sollte», ist die sonderbarste aller Ideen. Wie
weit die Bemühungen der Staatsregierungen, den zerstörte» Bolkstvrper durch
mechanisches Znsammenleimen der Glieder im Heer u»d in Verwaltungs-
gebieteu wieder herzustellen, Erfolg habe» werden, bleibt abzuwarten. Was
in Spanien den natürlichen Volkskörper so lange lebendig erhalten hat, war
u. a. das Fehlen des Maininonsgeistes und der Kolonialbesitz. Die Gunst
des Klimas, der Geschmack a» natürliche», wenig kostspielige» Vergnügungen,
die einfache freie Sitte und die geringen Ansprüche, die der Reiche an die
Arbeitskraft des Armen stellte, das Almosen, das dem Bedürftige» ohne Um¬
stünde und ohne Demütigung gereicht wurde, wirkten zusammen, dem Mittel¬
lose« das Leben so leicht zu mache», daß er weder seinen Frohsinn, »och das
Ästhetische seiner Erscheinung, noch das Bewußtsein seiner Menschen- und
Christenwürde, »och seinen Spmiierstvlz einbüßte; Reichtümer bezogen die, die
»ach solchen begehrte», ans de» Kolonie», wo Menschen andern Stammes als
Sklaven für sie arbeiteten. So blieb anch der ärmste Spanier ein Spanier,


Grenzboten I 1895 47
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[0379] Victor Ain^ Zauber unverkennbar spanisch; sind unsre neuen ebenso unverkennbar deutsch? Huber meint mit Recht, die ungeheure Fruchtbarkeit der großen spanischen Drama¬ tiker sei weder eine zufällige, noch eine gleichgiltige Erscheinung, sie enthülle die Kraft des Volksgeistes, der solche Blütenfülle trieb. Und daß es der Volksgeist selber war, der in und mit den Dichtern arbeitete, beweist der Umstand, daß das Schicksal auch der Werke eines Lope und Calderon von dem Beifall oder den urwüchsigen Mißfallensansbrüchen der Galerie abhing. Das Volk hatte seine eignen Sitten, seine eignen Vergnügungen, seine eigue Kunst, die Großen teilten seineu Geschmack, die Regierung schützte das Volk in dein Genuß seiner ungemischten nationalen Güter, und darum fühlte sich das Volk nicht bloß frei unter der Herrschaft der Inquisition, sondern es war wirklich frei; denn frei ist ein Volk, wenn es seiner nennr und seinem Ge¬ schmack nachleben kann. Unfrei hätte es sich gefühlt, wenn man ihm seine Kirchenfeste, seine Prozessionen, seine Tänze, seine An los, die gesprochnen wie die gebrannten, später seine Stiergefechte hätte nehmen wollen. Vor allem aber: die Spanier waren in dem Sinne ein Volk, und sie sind es einiger¬ maßen auch heute noch, daß den Armen keine Kluft vom Reichen trennt, daß der Bettler, der Droschkenkutscher und der Herzog auf gleichem Fuße mit einander verkehren. Bei uns versuche es der Fabrikarbeiter nur einmal, einen vornehmen Herrn um Cigarrenfeucr zu bitten oder ein familiäres Gespräch mit ihm anzuknüpfen! Es ist eine so schroffe Scheidung der Klassen ein¬ getreten, daß viele Unternehmer und Großgrundbesitzer gar keinen Begriff mehr davon haben, wie ihre Arbeiter leben, und daß man durch allerlei sinnreiche Einrichtungen (Aufgang nur für Herrschnfteu u. f. w.) die Möglichkeit zu¬ fälliger Begegnungen zwischen Arm und Reich auf ein ganz geringes Maß einzuschränken weiß. Daß diese beiden Klassen, die einander fremd und feindlich gegenüberstehen, ein Volk bilde» sollte», ist die sonderbarste aller Ideen. Wie weit die Bemühungen der Staatsregierungen, den zerstörte» Bolkstvrper durch mechanisches Znsammenleimen der Glieder im Heer u»d in Verwaltungs- gebieteu wieder herzustellen, Erfolg habe» werden, bleibt abzuwarten. Was in Spanien den natürlichen Volkskörper so lange lebendig erhalten hat, war u. a. das Fehlen des Maininonsgeistes und der Kolonialbesitz. Die Gunst des Klimas, der Geschmack a» natürliche», wenig kostspielige» Vergnügungen, die einfache freie Sitte und die geringen Ansprüche, die der Reiche an die Arbeitskraft des Armen stellte, das Almosen, das dem Bedürftige» ohne Um¬ stünde und ohne Demütigung gereicht wurde, wirkten zusammen, dem Mittel¬ lose« das Leben so leicht zu mache», daß er weder seinen Frohsinn, »och das Ästhetische seiner Erscheinung, noch das Bewußtsein seiner Menschen- und Christenwürde, »och seinen Spmiierstvlz einbüßte; Reichtümer bezogen die, die »ach solchen begehrte», ans de» Kolonie», wo Menschen andern Stammes als Sklaven für sie arbeiteten. So blieb anch der ärmste Spanier ein Spanier, Grenzboten I 1895 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/379>, abgerufen am 13.05.2024.