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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Das Wahlrecht zum deutschen Reichstage

die man nicht unbeachtet lassen darf, wenn der Volkswille zum Ausdruck
kommen soll. Es kommt nicht darauf an, sie mundtot zu machen, sondern sie
nnter die Führung des einsichtsvollern Alters zu stellen. Viel richtiger wäre
es, in diesem Punkte den sozialdemokratischen Wünschen zu begegnen und das
Wahlrecht mit dem zurückgelegten einundzwanzigsten Lebensjahre, statt mit dem
jetzt vorgesehenen fünfundzwanzigsten Lebensjahre beginnen zu lassen. Ein
Mann, der volljährig ist, für alle seine Rechtsgeschäfte die volle Verbindlichkeit
übernehmen muß, hat auch den Anspruch, politisch mitreden zu dürfen. Folge¬
richtig beginnt deshalb nach preußischer Verfassung das Wahlrecht mit dem
zurückgelegten vierundzwanzigsten Lebensjahre, da zu der Zeit, wo diese Ver¬
fassung ins Leben trat, die Volljährigkeit begann. Aber auch von der Heraus¬
setzung der Altersgrenze auf das zurückgelegte dreißigste Lebensjahr ist schließlich
eine wesentliche Änderung der Wahlergebnisse nicht zu erwarten. Nach der
Bevölkerungsberechnung von 1890 hatte Berlin unter 1000 Einwohnern
242,1 Männer über 25 Jahren, und unter diesen waren nur 54,7 Männer
im Alter von 25 bis 30 Jahren.

Alle Erwägungen führen also dahin, daß wir ohne Staudesbevvrzugung
und ohne Sümmrechtsberaubung nur dann der Einsicht des Alters das Über¬
gewicht verschaffen würden, wenn wir uns von einem rein mechanischen Wahl¬
recht losmachten. Zur Wahrung deutscher Art würde es dann aber am besten
sein und am zweckmäßigsten wirken, das Wahlrecht mit dem einundzwanzigsten
Jahre beginnen zu lassen und den gereifter" Männern, die die Altersgrenze
von 35 Jahren überschritten haben, zwei Wahlstimmen zu geben. In Berlin
würden sich auf diese Weise auf je 1000 Einwohner 286,5 wahlberechtigte
Männer mit 431,5 Wahlstimmen ergeben, und von diesen Wahlstimmen fielen
nur 145,5 auf das Alter von 21 bis 35 Jahren. Von dieser Berechnung
weichen die andrer Städte nur unwesentlich ab.

Alle Kulturvölker haben in ihrem ursprünglichen Denken beim Beraten ihrer
Staatsangelegenheiten den: Alter eine bevorzugte Stellung eingeräumt. In
dielen Sprachen sind selbst die Namen für eine hervorragende politische Stellung
noch von dem Alter entlehnt, wie auch der ehrwürdige Senat der Römer nach
den Ältesten der Volksgemeinschaft (ssuex) benannt wurde. Warum sollen
wir nicht in unser heutiges Leben das herübernehmen, was sich in der Kind¬
heit der Menschheit bewährt hat und sich nach der Natur der Menschen immer
bewähren wird?




Das Wahlrecht zum deutschen Reichstage

die man nicht unbeachtet lassen darf, wenn der Volkswille zum Ausdruck
kommen soll. Es kommt nicht darauf an, sie mundtot zu machen, sondern sie
nnter die Führung des einsichtsvollern Alters zu stellen. Viel richtiger wäre
es, in diesem Punkte den sozialdemokratischen Wünschen zu begegnen und das
Wahlrecht mit dem zurückgelegten einundzwanzigsten Lebensjahre, statt mit dem
jetzt vorgesehenen fünfundzwanzigsten Lebensjahre beginnen zu lassen. Ein
Mann, der volljährig ist, für alle seine Rechtsgeschäfte die volle Verbindlichkeit
übernehmen muß, hat auch den Anspruch, politisch mitreden zu dürfen. Folge¬
richtig beginnt deshalb nach preußischer Verfassung das Wahlrecht mit dem
zurückgelegten vierundzwanzigsten Lebensjahre, da zu der Zeit, wo diese Ver¬
fassung ins Leben trat, die Volljährigkeit begann. Aber auch von der Heraus¬
setzung der Altersgrenze auf das zurückgelegte dreißigste Lebensjahr ist schließlich
eine wesentliche Änderung der Wahlergebnisse nicht zu erwarten. Nach der
Bevölkerungsberechnung von 1890 hatte Berlin unter 1000 Einwohnern
242,1 Männer über 25 Jahren, und unter diesen waren nur 54,7 Männer
im Alter von 25 bis 30 Jahren.

Alle Erwägungen führen also dahin, daß wir ohne Staudesbevvrzugung
und ohne Sümmrechtsberaubung nur dann der Einsicht des Alters das Über¬
gewicht verschaffen würden, wenn wir uns von einem rein mechanischen Wahl¬
recht losmachten. Zur Wahrung deutscher Art würde es dann aber am besten
sein und am zweckmäßigsten wirken, das Wahlrecht mit dem einundzwanzigsten
Jahre beginnen zu lassen und den gereifter» Männern, die die Altersgrenze
von 35 Jahren überschritten haben, zwei Wahlstimmen zu geben. In Berlin
würden sich auf diese Weise auf je 1000 Einwohner 286,5 wahlberechtigte
Männer mit 431,5 Wahlstimmen ergeben, und von diesen Wahlstimmen fielen
nur 145,5 auf das Alter von 21 bis 35 Jahren. Von dieser Berechnung
weichen die andrer Städte nur unwesentlich ab.

Alle Kulturvölker haben in ihrem ursprünglichen Denken beim Beraten ihrer
Staatsangelegenheiten den: Alter eine bevorzugte Stellung eingeräumt. In
dielen Sprachen sind selbst die Namen für eine hervorragende politische Stellung
noch von dem Alter entlehnt, wie auch der ehrwürdige Senat der Römer nach
den Ältesten der Volksgemeinschaft (ssuex) benannt wurde. Warum sollen
wir nicht in unser heutiges Leben das herübernehmen, was sich in der Kind¬
heit der Menschheit bewährt hat und sich nach der Natur der Menschen immer
bewähren wird?




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[0501] Das Wahlrecht zum deutschen Reichstage die man nicht unbeachtet lassen darf, wenn der Volkswille zum Ausdruck kommen soll. Es kommt nicht darauf an, sie mundtot zu machen, sondern sie nnter die Führung des einsichtsvollern Alters zu stellen. Viel richtiger wäre es, in diesem Punkte den sozialdemokratischen Wünschen zu begegnen und das Wahlrecht mit dem zurückgelegten einundzwanzigsten Lebensjahre, statt mit dem jetzt vorgesehenen fünfundzwanzigsten Lebensjahre beginnen zu lassen. Ein Mann, der volljährig ist, für alle seine Rechtsgeschäfte die volle Verbindlichkeit übernehmen muß, hat auch den Anspruch, politisch mitreden zu dürfen. Folge¬ richtig beginnt deshalb nach preußischer Verfassung das Wahlrecht mit dem zurückgelegten vierundzwanzigsten Lebensjahre, da zu der Zeit, wo diese Ver¬ fassung ins Leben trat, die Volljährigkeit begann. Aber auch von der Heraus¬ setzung der Altersgrenze auf das zurückgelegte dreißigste Lebensjahr ist schließlich eine wesentliche Änderung der Wahlergebnisse nicht zu erwarten. Nach der Bevölkerungsberechnung von 1890 hatte Berlin unter 1000 Einwohnern 242,1 Männer über 25 Jahren, und unter diesen waren nur 54,7 Männer im Alter von 25 bis 30 Jahren. Alle Erwägungen führen also dahin, daß wir ohne Staudesbevvrzugung und ohne Sümmrechtsberaubung nur dann der Einsicht des Alters das Über¬ gewicht verschaffen würden, wenn wir uns von einem rein mechanischen Wahl¬ recht losmachten. Zur Wahrung deutscher Art würde es dann aber am besten sein und am zweckmäßigsten wirken, das Wahlrecht mit dem einundzwanzigsten Jahre beginnen zu lassen und den gereifter» Männern, die die Altersgrenze von 35 Jahren überschritten haben, zwei Wahlstimmen zu geben. In Berlin würden sich auf diese Weise auf je 1000 Einwohner 286,5 wahlberechtigte Männer mit 431,5 Wahlstimmen ergeben, und von diesen Wahlstimmen fielen nur 145,5 auf das Alter von 21 bis 35 Jahren. Von dieser Berechnung weichen die andrer Städte nur unwesentlich ab. Alle Kulturvölker haben in ihrem ursprünglichen Denken beim Beraten ihrer Staatsangelegenheiten den: Alter eine bevorzugte Stellung eingeräumt. In dielen Sprachen sind selbst die Namen für eine hervorragende politische Stellung noch von dem Alter entlehnt, wie auch der ehrwürdige Senat der Römer nach den Ältesten der Volksgemeinschaft (ssuex) benannt wurde. Warum sollen wir nicht in unser heutiges Leben das herübernehmen, was sich in der Kind¬ heit der Menschheit bewährt hat und sich nach der Natur der Menschen immer bewähren wird?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/501>, abgerufen am 21.05.2024.