Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der gerichtliche Lid

an einen Gott ist, und die darum für einen großen Teil seiner Bürger der
ihr zugeschriebnen Bedeutung entbehrt. Ja selbst wenn man aus der Gegen¬
wart zurückgeht in die letztvergangnen Jahrhunderte, so findet man keine Er¬
klärung sür die auffallende Thatsache, daß sich der Staat für seine ganz welt¬
liche Rechtsordnung, bei dem Streit um Mein und Dein ein völlig außerhalb
dieses Bereichs liegendes Mittel dienstbar machen konnte. Verstündlich wird
diese Erscheinung nur durch einen Rückblick in eine weit hinter uns liegende
Vergangenheit.

Aus der Rechtsgeschichte und der vergleichenden Völkerkunde wissen wir
jetzt, daß jedenfalls bei den meisten Völkern der Ausgangspunkt der Rechts¬
entwicklung auf sakralen, also religiösem Gebiete liegt. Man kann dabei ganz
absehen von solchen theokratischen Staatsgebilden, wie z. B. der alttestament-
liche Staat der Juden eins war, und braucht nur die Völker zu berücksichtigen,
deren Rechtsentwicklung sür uns von unmittelbarer Bedeutung gewesen ist.
Jedem Zweifel enthoben ist der sakrale Ausgangspunkt bei dem römischen
Recht; hierüber haben namentlich die Forschungen R. von Iherings klares Licht
verbreitet. Das Recht stand unter dem Schutze der Götter; seine Hüter und
Ausleger waren die Priester; ihrer Leitung und Mitwirkung bedurften alle
wichtigen Rechtsgeschäfte, namentlich alle prozessualer Handlungen. Nur die
Priester wußten, an welchen Tagen, ja zu welchen Stunden bestimmter Tage
allein das Recht gesucht und gefunden werden durfte, und da diese Zeiten in
einem genau bestimmten, sich nicht jährlich wiederholenden Wechsel wieder¬
kehrten, so lag, mit der gesamten Kalendereinrichtung, auch das gerichtliche
Terminwesen allein in ihren Händen. Alljährlich wurde aus den Priester-
kollegien ein Mitglied bestimmt, das über Zeit und Form rechtlicher Antrage
den Rechtsuchenden Auskunft zu geben hatte. Von dem Vorstände der Priester,
dem ?ovtitvx inaxiruus. wird geradezu berichtet, daß er als Richter aller reli¬
giösen und weltlichen Angelegenheiten galt. Jahrhundertelang lag so die
Rechtsbildung und Rechtspflege ausschließlich in den Händen der Priester, und
erst gegen die Mitte des fünften Jahrhunderts seit Gründung der Stadt Rom
(also etwa um das Jahr 300 v. Chr.) wurde durch den Vertrauensbruch eines
Schreibers und Freigelassenen des damaligen ?cmtitex maximus, Appius
Claudius, der das seinem Herrn entwendete Verzeichnis der Gerichtstage und
eine Sammlung der Klagformeln veröffentlichte, das Geheimnis der Priester
durchbrochen und damit ihre ausschlaggebende Bedeutung für die Rechts-
entwicklung beseitigt.

Bei unsern Vorfahren sind wir über die ältesten Zustände auf dem Ge¬
biete der Rechtsbildung und Rechtspflege nicht so genau unterrichtet wie bei
den Römern. Wenn uns aber Tacitus (Germania Kap. 7) erzählt, daß bei
den Deutschen alle Strafen an Ehre, Leib und Leben durch die Priester voll¬
streckt wurden, damit die Strafe nicht von der weltlichen Obrigkeit, sondern


Der gerichtliche Lid

an einen Gott ist, und die darum für einen großen Teil seiner Bürger der
ihr zugeschriebnen Bedeutung entbehrt. Ja selbst wenn man aus der Gegen¬
wart zurückgeht in die letztvergangnen Jahrhunderte, so findet man keine Er¬
klärung sür die auffallende Thatsache, daß sich der Staat für seine ganz welt¬
liche Rechtsordnung, bei dem Streit um Mein und Dein ein völlig außerhalb
dieses Bereichs liegendes Mittel dienstbar machen konnte. Verstündlich wird
diese Erscheinung nur durch einen Rückblick in eine weit hinter uns liegende
Vergangenheit.

Aus der Rechtsgeschichte und der vergleichenden Völkerkunde wissen wir
jetzt, daß jedenfalls bei den meisten Völkern der Ausgangspunkt der Rechts¬
entwicklung auf sakralen, also religiösem Gebiete liegt. Man kann dabei ganz
absehen von solchen theokratischen Staatsgebilden, wie z. B. der alttestament-
liche Staat der Juden eins war, und braucht nur die Völker zu berücksichtigen,
deren Rechtsentwicklung sür uns von unmittelbarer Bedeutung gewesen ist.
Jedem Zweifel enthoben ist der sakrale Ausgangspunkt bei dem römischen
Recht; hierüber haben namentlich die Forschungen R. von Iherings klares Licht
verbreitet. Das Recht stand unter dem Schutze der Götter; seine Hüter und
Ausleger waren die Priester; ihrer Leitung und Mitwirkung bedurften alle
wichtigen Rechtsgeschäfte, namentlich alle prozessualer Handlungen. Nur die
Priester wußten, an welchen Tagen, ja zu welchen Stunden bestimmter Tage
allein das Recht gesucht und gefunden werden durfte, und da diese Zeiten in
einem genau bestimmten, sich nicht jährlich wiederholenden Wechsel wieder¬
kehrten, so lag, mit der gesamten Kalendereinrichtung, auch das gerichtliche
Terminwesen allein in ihren Händen. Alljährlich wurde aus den Priester-
kollegien ein Mitglied bestimmt, das über Zeit und Form rechtlicher Antrage
den Rechtsuchenden Auskunft zu geben hatte. Von dem Vorstände der Priester,
dem ?ovtitvx inaxiruus. wird geradezu berichtet, daß er als Richter aller reli¬
giösen und weltlichen Angelegenheiten galt. Jahrhundertelang lag so die
Rechtsbildung und Rechtspflege ausschließlich in den Händen der Priester, und
erst gegen die Mitte des fünften Jahrhunderts seit Gründung der Stadt Rom
(also etwa um das Jahr 300 v. Chr.) wurde durch den Vertrauensbruch eines
Schreibers und Freigelassenen des damaligen ?cmtitex maximus, Appius
Claudius, der das seinem Herrn entwendete Verzeichnis der Gerichtstage und
eine Sammlung der Klagformeln veröffentlichte, das Geheimnis der Priester
durchbrochen und damit ihre ausschlaggebende Bedeutung für die Rechts-
entwicklung beseitigt.

Bei unsern Vorfahren sind wir über die ältesten Zustände auf dem Ge¬
biete der Rechtsbildung und Rechtspflege nicht so genau unterrichtet wie bei
den Römern. Wenn uns aber Tacitus (Germania Kap. 7) erzählt, daß bei
den Deutschen alle Strafen an Ehre, Leib und Leben durch die Priester voll¬
streckt wurden, damit die Strafe nicht von der weltlichen Obrigkeit, sondern


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0503" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220179"/>
          <fw type="header" place="top"> Der gerichtliche Lid</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1995" prev="#ID_1994"> an einen Gott ist, und die darum für einen großen Teil seiner Bürger der<lb/>
ihr zugeschriebnen Bedeutung entbehrt. Ja selbst wenn man aus der Gegen¬<lb/>
wart zurückgeht in die letztvergangnen Jahrhunderte, so findet man keine Er¬<lb/>
klärung sür die auffallende Thatsache, daß sich der Staat für seine ganz welt¬<lb/>
liche Rechtsordnung, bei dem Streit um Mein und Dein ein völlig außerhalb<lb/>
dieses Bereichs liegendes Mittel dienstbar machen konnte. Verstündlich wird<lb/>
diese Erscheinung nur durch einen Rückblick in eine weit hinter uns liegende<lb/>
Vergangenheit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1996"> Aus der Rechtsgeschichte und der vergleichenden Völkerkunde wissen wir<lb/>
jetzt, daß jedenfalls bei den meisten Völkern der Ausgangspunkt der Rechts¬<lb/>
entwicklung auf sakralen, also religiösem Gebiete liegt. Man kann dabei ganz<lb/>
absehen von solchen theokratischen Staatsgebilden, wie z. B. der alttestament-<lb/>
liche Staat der Juden eins war, und braucht nur die Völker zu berücksichtigen,<lb/>
deren Rechtsentwicklung sür uns von unmittelbarer Bedeutung gewesen ist.<lb/>
Jedem Zweifel enthoben ist der sakrale Ausgangspunkt bei dem römischen<lb/>
Recht; hierüber haben namentlich die Forschungen R. von Iherings klares Licht<lb/>
verbreitet. Das Recht stand unter dem Schutze der Götter; seine Hüter und<lb/>
Ausleger waren die Priester; ihrer Leitung und Mitwirkung bedurften alle<lb/>
wichtigen Rechtsgeschäfte, namentlich alle prozessualer Handlungen. Nur die<lb/>
Priester wußten, an welchen Tagen, ja zu welchen Stunden bestimmter Tage<lb/>
allein das Recht gesucht und gefunden werden durfte, und da diese Zeiten in<lb/>
einem genau bestimmten, sich nicht jährlich wiederholenden Wechsel wieder¬<lb/>
kehrten, so lag, mit der gesamten Kalendereinrichtung, auch das gerichtliche<lb/>
Terminwesen allein in ihren Händen. Alljährlich wurde aus den Priester-<lb/>
kollegien ein Mitglied bestimmt, das über Zeit und Form rechtlicher Antrage<lb/>
den Rechtsuchenden Auskunft zu geben hatte. Von dem Vorstände der Priester,<lb/>
dem ?ovtitvx inaxiruus. wird geradezu berichtet, daß er als Richter aller reli¬<lb/>
giösen und weltlichen Angelegenheiten galt. Jahrhundertelang lag so die<lb/>
Rechtsbildung und Rechtspflege ausschließlich in den Händen der Priester, und<lb/>
erst gegen die Mitte des fünften Jahrhunderts seit Gründung der Stadt Rom<lb/>
(also etwa um das Jahr 300 v. Chr.) wurde durch den Vertrauensbruch eines<lb/>
Schreibers und Freigelassenen des damaligen ?cmtitex maximus, Appius<lb/>
Claudius, der das seinem Herrn entwendete Verzeichnis der Gerichtstage und<lb/>
eine Sammlung der Klagformeln veröffentlichte, das Geheimnis der Priester<lb/>
durchbrochen und damit ihre ausschlaggebende Bedeutung für die Rechts-<lb/>
entwicklung beseitigt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1997" next="#ID_1998"> Bei unsern Vorfahren sind wir über die ältesten Zustände auf dem Ge¬<lb/>
biete der Rechtsbildung und Rechtspflege nicht so genau unterrichtet wie bei<lb/>
den Römern. Wenn uns aber Tacitus (Germania Kap. 7) erzählt, daß bei<lb/>
den Deutschen alle Strafen an Ehre, Leib und Leben durch die Priester voll¬<lb/>
streckt wurden, damit die Strafe nicht von der weltlichen Obrigkeit, sondern</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0503] Der gerichtliche Lid an einen Gott ist, und die darum für einen großen Teil seiner Bürger der ihr zugeschriebnen Bedeutung entbehrt. Ja selbst wenn man aus der Gegen¬ wart zurückgeht in die letztvergangnen Jahrhunderte, so findet man keine Er¬ klärung sür die auffallende Thatsache, daß sich der Staat für seine ganz welt¬ liche Rechtsordnung, bei dem Streit um Mein und Dein ein völlig außerhalb dieses Bereichs liegendes Mittel dienstbar machen konnte. Verstündlich wird diese Erscheinung nur durch einen Rückblick in eine weit hinter uns liegende Vergangenheit. Aus der Rechtsgeschichte und der vergleichenden Völkerkunde wissen wir jetzt, daß jedenfalls bei den meisten Völkern der Ausgangspunkt der Rechts¬ entwicklung auf sakralen, also religiösem Gebiete liegt. Man kann dabei ganz absehen von solchen theokratischen Staatsgebilden, wie z. B. der alttestament- liche Staat der Juden eins war, und braucht nur die Völker zu berücksichtigen, deren Rechtsentwicklung sür uns von unmittelbarer Bedeutung gewesen ist. Jedem Zweifel enthoben ist der sakrale Ausgangspunkt bei dem römischen Recht; hierüber haben namentlich die Forschungen R. von Iherings klares Licht verbreitet. Das Recht stand unter dem Schutze der Götter; seine Hüter und Ausleger waren die Priester; ihrer Leitung und Mitwirkung bedurften alle wichtigen Rechtsgeschäfte, namentlich alle prozessualer Handlungen. Nur die Priester wußten, an welchen Tagen, ja zu welchen Stunden bestimmter Tage allein das Recht gesucht und gefunden werden durfte, und da diese Zeiten in einem genau bestimmten, sich nicht jährlich wiederholenden Wechsel wieder¬ kehrten, so lag, mit der gesamten Kalendereinrichtung, auch das gerichtliche Terminwesen allein in ihren Händen. Alljährlich wurde aus den Priester- kollegien ein Mitglied bestimmt, das über Zeit und Form rechtlicher Antrage den Rechtsuchenden Auskunft zu geben hatte. Von dem Vorstände der Priester, dem ?ovtitvx inaxiruus. wird geradezu berichtet, daß er als Richter aller reli¬ giösen und weltlichen Angelegenheiten galt. Jahrhundertelang lag so die Rechtsbildung und Rechtspflege ausschließlich in den Händen der Priester, und erst gegen die Mitte des fünften Jahrhunderts seit Gründung der Stadt Rom (also etwa um das Jahr 300 v. Chr.) wurde durch den Vertrauensbruch eines Schreibers und Freigelassenen des damaligen ?cmtitex maximus, Appius Claudius, der das seinem Herrn entwendete Verzeichnis der Gerichtstage und eine Sammlung der Klagformeln veröffentlichte, das Geheimnis der Priester durchbrochen und damit ihre ausschlaggebende Bedeutung für die Rechts- entwicklung beseitigt. Bei unsern Vorfahren sind wir über die ältesten Zustände auf dem Ge¬ biete der Rechtsbildung und Rechtspflege nicht so genau unterrichtet wie bei den Römern. Wenn uns aber Tacitus (Germania Kap. 7) erzählt, daß bei den Deutschen alle Strafen an Ehre, Leib und Leben durch die Priester voll¬ streckt wurden, damit die Strafe nicht von der weltlichen Obrigkeit, sondern

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/503
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/503>, abgerufen am 21.05.2024.