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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur

stummteu Tiroler Sänger die Blüte des deutschen Liedes einen letzten, kräftigen,
nur vom Winterfrost der Zeit bereits grausam beeinträchtigten Trieb getrieben
hat. Auch in dieser seiner zeitlichen Stellung als verspäteter Johannistrieb einer
Blütezeit deutscher Dichtung gemahnt dieser Sohn des Innthales an seinen mittel¬
alterlichen Genossen aus dem Grödener Thale, seinen von ihm mit richtigem Ge¬
fühl als Schicksalsgenossen erkannten und viel besungnen Landsmann Oswald von
Wolkenstein. Die Zerstörung deutscher Geisteskultur sollte diesmal rascher und
entschiedner vor sich gehen als vor sechshundert Jahren. Wir haben daher unsern
Oswald von Wolkenstein bereits jetzt gehabt und nicht wie der Minnesang erst
nach zwei Jahrhunderten. Möge der Tiroler Dichter nun auch im Reiche noch
weiterhin Gesinnungsgenossen finden, die wie er denken (Das Mädchen aus dem
Volke):

Ich habe nichts Eignes auf der Welt,
Und hatt ichs, so hab ichs vergessen;
Was von dem Tische der Reichen fällt,
Bekam ich zeitlebens zu essen.
Und als das Fräulein kalt und stumm
Das weinende Lied zertreten.
Hob ich es vom Boden und habe darum
Das grausame Fräulein gebeten.
Das Lied hat mir das Leben erhellt,
Mit Blumen bedeckt meine Blöße --
O das; es die reiche, die vornehme Welt
Auf immer und ewig verstößet

Da der Dichter ja nun auch öffentlich so "frei" geworden ist, wie er es privatim
bei Lebzeiten war, und eine deutsche Verlagshandlung auf seine Stellung als
österreichischer Beamter keine Rücksicht zu nehmen braucht, so sind hier eine Reihe
Gedichte aufgenommen, die in frühern Ausgaben wegbleiben mußten: die Wut¬
schreie, mit denen der Dichter den Einzug der Jesuiten in die heimatlichen Thäler
begleitete, und die kerndeutschen "Tiroler Schlltzenlieder." Der Verlauf der Dinge
hat die Stimme des toten deutschen Grenzpoeten nur noch lebendiger und zeit¬
gemäßer gemacht.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Litteratur

stummteu Tiroler Sänger die Blüte des deutschen Liedes einen letzten, kräftigen,
nur vom Winterfrost der Zeit bereits grausam beeinträchtigten Trieb getrieben
hat. Auch in dieser seiner zeitlichen Stellung als verspäteter Johannistrieb einer
Blütezeit deutscher Dichtung gemahnt dieser Sohn des Innthales an seinen mittel¬
alterlichen Genossen aus dem Grödener Thale, seinen von ihm mit richtigem Ge¬
fühl als Schicksalsgenossen erkannten und viel besungnen Landsmann Oswald von
Wolkenstein. Die Zerstörung deutscher Geisteskultur sollte diesmal rascher und
entschiedner vor sich gehen als vor sechshundert Jahren. Wir haben daher unsern
Oswald von Wolkenstein bereits jetzt gehabt und nicht wie der Minnesang erst
nach zwei Jahrhunderten. Möge der Tiroler Dichter nun auch im Reiche noch
weiterhin Gesinnungsgenossen finden, die wie er denken (Das Mädchen aus dem
Volke):

Ich habe nichts Eignes auf der Welt,
Und hatt ichs, so hab ichs vergessen;
Was von dem Tische der Reichen fällt,
Bekam ich zeitlebens zu essen.
Und als das Fräulein kalt und stumm
Das weinende Lied zertreten.
Hob ich es vom Boden und habe darum
Das grausame Fräulein gebeten.
Das Lied hat mir das Leben erhellt,
Mit Blumen bedeckt meine Blöße —
O das; es die reiche, die vornehme Welt
Auf immer und ewig verstößet

Da der Dichter ja nun auch öffentlich so „frei" geworden ist, wie er es privatim
bei Lebzeiten war, und eine deutsche Verlagshandlung auf seine Stellung als
österreichischer Beamter keine Rücksicht zu nehmen braucht, so sind hier eine Reihe
Gedichte aufgenommen, die in frühern Ausgaben wegbleiben mußten: die Wut¬
schreie, mit denen der Dichter den Einzug der Jesuiten in die heimatlichen Thäler
begleitete, und die kerndeutschen „Tiroler Schlltzenlieder." Der Verlauf der Dinge
hat die Stimme des toten deutschen Grenzpoeten nur noch lebendiger und zeit¬
gemäßer gemacht.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0644] Litteratur stummteu Tiroler Sänger die Blüte des deutschen Liedes einen letzten, kräftigen, nur vom Winterfrost der Zeit bereits grausam beeinträchtigten Trieb getrieben hat. Auch in dieser seiner zeitlichen Stellung als verspäteter Johannistrieb einer Blütezeit deutscher Dichtung gemahnt dieser Sohn des Innthales an seinen mittel¬ alterlichen Genossen aus dem Grödener Thale, seinen von ihm mit richtigem Ge¬ fühl als Schicksalsgenossen erkannten und viel besungnen Landsmann Oswald von Wolkenstein. Die Zerstörung deutscher Geisteskultur sollte diesmal rascher und entschiedner vor sich gehen als vor sechshundert Jahren. Wir haben daher unsern Oswald von Wolkenstein bereits jetzt gehabt und nicht wie der Minnesang erst nach zwei Jahrhunderten. Möge der Tiroler Dichter nun auch im Reiche noch weiterhin Gesinnungsgenossen finden, die wie er denken (Das Mädchen aus dem Volke): Ich habe nichts Eignes auf der Welt, Und hatt ichs, so hab ichs vergessen; Was von dem Tische der Reichen fällt, Bekam ich zeitlebens zu essen. Und als das Fräulein kalt und stumm Das weinende Lied zertreten. Hob ich es vom Boden und habe darum Das grausame Fräulein gebeten. Das Lied hat mir das Leben erhellt, Mit Blumen bedeckt meine Blöße — O das; es die reiche, die vornehme Welt Auf immer und ewig verstößet Da der Dichter ja nun auch öffentlich so „frei" geworden ist, wie er es privatim bei Lebzeiten war, und eine deutsche Verlagshandlung auf seine Stellung als österreichischer Beamter keine Rücksicht zu nehmen braucht, so sind hier eine Reihe Gedichte aufgenommen, die in frühern Ausgaben wegbleiben mußten: die Wut¬ schreie, mit denen der Dichter den Einzug der Jesuiten in die heimatlichen Thäler begleitete, und die kerndeutschen „Tiroler Schlltzenlieder." Der Verlauf der Dinge hat die Stimme des toten deutschen Grenzpoeten nur noch lebendiger und zeit¬ gemäßer gemacht. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/644>, abgerufen am 22.05.2024.