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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Allgemeine zweijährige Dienstzeit

beantworten: was würde unsre gesamte nationale Erziehung dadurch gewinnen,
daß es von dem Nachweis der Einjährigcubildung befreit würde, daß die Be-
rechtignngsfrage zum einjährigen Dienst wegfiele?

Ist es zu viel gesagt, wenn wir meinen, daß die bloße Erwähnung einer
solchen Möglichkeit allein schon geeignet ist, eine Art Alpdruck von der Brust
aller einsichtigen Väter, Erzieher und Schulmänner zu nehmen? Man denke
sich nur: unsre höhere Schule, und zwar uicht nur das Gymnasium und die
Realschule, sondern auch die vielen Fachschulen, die im Grunde genommen mit
der Einrichtung der Einjährig-Freiwilligen so viel zu thun haben wie etwa
der Landwirt mit dem Corpus ^uris, sie wären von allen Berechtigungsqualen
befreit; ungehindert und frei könnten sie sich zum Licht und zur Blüte ent¬
falten; sie wären ihrer ursprünglichen und einzigen, ihrer höchsten Aufgabe
zurückgegeben, die deutsche Jugend zu geistig und körperlich gestählten Männern
zu erziehen, so wie'es ihre Art und Eigenheit am besten gestattet. Welch ein
Ausblick für jeden, dein ein Herz für die Kraft und Herrlichkeit unsers Vater¬
lands im Busen schlägt! Die Schule, nicht zum "Erwerben" von Kenntnissen,
sondern zu geistiger und körperlicher Förderung, zur Erziehung im eigentlichen
Sinne bestimmt; wer sähe nicht darin die eousumllmtioii ctsvout'l^ to dö
vislnzck, und wer empfände nicht in der Sehnsucht darnach die weite Ferne,
die noch zwischen Streben und Ziel liegt?

Freilich, ein Götze würde unter lautem Krachen dabei fallen, und ein
Idol zu Grabe getragen werden müssen, an dem sich tausende von Händen
noch heute krampfhaft klammern; die viel gepriesene "allgemeine Bildung." der
Stolz des Germanen von der Jahrhundertwende würde dem Tode zum Nimmer¬
wiedererstehen verfallen. Wir überlassen es dem Leser, sich die mehr oder we¬
niger große Ungeheuerlichkeit, die ihn bei diesem Gedanken überkommen mag,
näher auszumalen. Für uns hat er keine Schrecken mehr; ja wir weinen
dieser Allcrweltsdame, die in unserm Zeitalter des Vielwisfens eine so große
Rolle spielen sollte, keine Thräne nach. Nicht einmal daß der Mohr, den
wir gehen heißen möchten, seine Schuldigkeit gethan hat: er hat überhaupt
nichts geleistet; er hat auf den Schein gearbeitet, weil man es -- in bester
Absicht freilich -- so verlangte. Aber nun sind wir des Scheins und der
"allgemeinen Bildung," die gar keine ist, satt und möchten den Zwang löf¬
feln, den uus eine wohlmeinende Heereseinrichtung auferlegt. Was in aller
Welt hat denn der Nachweis einer bestimmten Summe von Kenntnissen aus
den üblichen Disziplinen mit der "Bildung" zu thun? Besteht denn ein
Menschenkind aus nichts anderen als einem Zellengewebe zum Aufspeichern
mehr oder weniger beglaubigter Thatsachen? Nicht einen einzigen wahrhaft
gesitteten, mit der uuinimitAs "gebildeten" Menschen hat uns der "allgemeine
Bildungsnachweis" geben können, und wenn je ein thörichtes Schlagwort eine
Nation in den Banden des Irrtums und des Vorurteils gehalten hat, so darf


Allgemeine zweijährige Dienstzeit

beantworten: was würde unsre gesamte nationale Erziehung dadurch gewinnen,
daß es von dem Nachweis der Einjährigcubildung befreit würde, daß die Be-
rechtignngsfrage zum einjährigen Dienst wegfiele?

Ist es zu viel gesagt, wenn wir meinen, daß die bloße Erwähnung einer
solchen Möglichkeit allein schon geeignet ist, eine Art Alpdruck von der Brust
aller einsichtigen Väter, Erzieher und Schulmänner zu nehmen? Man denke
sich nur: unsre höhere Schule, und zwar uicht nur das Gymnasium und die
Realschule, sondern auch die vielen Fachschulen, die im Grunde genommen mit
der Einrichtung der Einjährig-Freiwilligen so viel zu thun haben wie etwa
der Landwirt mit dem Corpus ^uris, sie wären von allen Berechtigungsqualen
befreit; ungehindert und frei könnten sie sich zum Licht und zur Blüte ent¬
falten; sie wären ihrer ursprünglichen und einzigen, ihrer höchsten Aufgabe
zurückgegeben, die deutsche Jugend zu geistig und körperlich gestählten Männern
zu erziehen, so wie'es ihre Art und Eigenheit am besten gestattet. Welch ein
Ausblick für jeden, dein ein Herz für die Kraft und Herrlichkeit unsers Vater¬
lands im Busen schlägt! Die Schule, nicht zum „Erwerben" von Kenntnissen,
sondern zu geistiger und körperlicher Förderung, zur Erziehung im eigentlichen
Sinne bestimmt; wer sähe nicht darin die eousumllmtioii ctsvout'l^ to dö
vislnzck, und wer empfände nicht in der Sehnsucht darnach die weite Ferne,
die noch zwischen Streben und Ziel liegt?

Freilich, ein Götze würde unter lautem Krachen dabei fallen, und ein
Idol zu Grabe getragen werden müssen, an dem sich tausende von Händen
noch heute krampfhaft klammern; die viel gepriesene „allgemeine Bildung." der
Stolz des Germanen von der Jahrhundertwende würde dem Tode zum Nimmer¬
wiedererstehen verfallen. Wir überlassen es dem Leser, sich die mehr oder we¬
niger große Ungeheuerlichkeit, die ihn bei diesem Gedanken überkommen mag,
näher auszumalen. Für uns hat er keine Schrecken mehr; ja wir weinen
dieser Allcrweltsdame, die in unserm Zeitalter des Vielwisfens eine so große
Rolle spielen sollte, keine Thräne nach. Nicht einmal daß der Mohr, den
wir gehen heißen möchten, seine Schuldigkeit gethan hat: er hat überhaupt
nichts geleistet; er hat auf den Schein gearbeitet, weil man es — in bester
Absicht freilich — so verlangte. Aber nun sind wir des Scheins und der
„allgemeinen Bildung," die gar keine ist, satt und möchten den Zwang löf¬
feln, den uus eine wohlmeinende Heereseinrichtung auferlegt. Was in aller
Welt hat denn der Nachweis einer bestimmten Summe von Kenntnissen aus
den üblichen Disziplinen mit der „Bildung" zu thun? Besteht denn ein
Menschenkind aus nichts anderen als einem Zellengewebe zum Aufspeichern
mehr oder weniger beglaubigter Thatsachen? Nicht einen einzigen wahrhaft
gesitteten, mit der uuinimitAs „gebildeten" Menschen hat uns der „allgemeine
Bildungsnachweis" geben können, und wenn je ein thörichtes Schlagwort eine
Nation in den Banden des Irrtums und des Vorurteils gehalten hat, so darf


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[0173] Allgemeine zweijährige Dienstzeit beantworten: was würde unsre gesamte nationale Erziehung dadurch gewinnen, daß es von dem Nachweis der Einjährigcubildung befreit würde, daß die Be- rechtignngsfrage zum einjährigen Dienst wegfiele? Ist es zu viel gesagt, wenn wir meinen, daß die bloße Erwähnung einer solchen Möglichkeit allein schon geeignet ist, eine Art Alpdruck von der Brust aller einsichtigen Väter, Erzieher und Schulmänner zu nehmen? Man denke sich nur: unsre höhere Schule, und zwar uicht nur das Gymnasium und die Realschule, sondern auch die vielen Fachschulen, die im Grunde genommen mit der Einrichtung der Einjährig-Freiwilligen so viel zu thun haben wie etwa der Landwirt mit dem Corpus ^uris, sie wären von allen Berechtigungsqualen befreit; ungehindert und frei könnten sie sich zum Licht und zur Blüte ent¬ falten; sie wären ihrer ursprünglichen und einzigen, ihrer höchsten Aufgabe zurückgegeben, die deutsche Jugend zu geistig und körperlich gestählten Männern zu erziehen, so wie'es ihre Art und Eigenheit am besten gestattet. Welch ein Ausblick für jeden, dein ein Herz für die Kraft und Herrlichkeit unsers Vater¬ lands im Busen schlägt! Die Schule, nicht zum „Erwerben" von Kenntnissen, sondern zu geistiger und körperlicher Förderung, zur Erziehung im eigentlichen Sinne bestimmt; wer sähe nicht darin die eousumllmtioii ctsvout'l^ to dö vislnzck, und wer empfände nicht in der Sehnsucht darnach die weite Ferne, die noch zwischen Streben und Ziel liegt? Freilich, ein Götze würde unter lautem Krachen dabei fallen, und ein Idol zu Grabe getragen werden müssen, an dem sich tausende von Händen noch heute krampfhaft klammern; die viel gepriesene „allgemeine Bildung." der Stolz des Germanen von der Jahrhundertwende würde dem Tode zum Nimmer¬ wiedererstehen verfallen. Wir überlassen es dem Leser, sich die mehr oder we¬ niger große Ungeheuerlichkeit, die ihn bei diesem Gedanken überkommen mag, näher auszumalen. Für uns hat er keine Schrecken mehr; ja wir weinen dieser Allcrweltsdame, die in unserm Zeitalter des Vielwisfens eine so große Rolle spielen sollte, keine Thräne nach. Nicht einmal daß der Mohr, den wir gehen heißen möchten, seine Schuldigkeit gethan hat: er hat überhaupt nichts geleistet; er hat auf den Schein gearbeitet, weil man es — in bester Absicht freilich — so verlangte. Aber nun sind wir des Scheins und der „allgemeinen Bildung," die gar keine ist, satt und möchten den Zwang löf¬ feln, den uus eine wohlmeinende Heereseinrichtung auferlegt. Was in aller Welt hat denn der Nachweis einer bestimmten Summe von Kenntnissen aus den üblichen Disziplinen mit der „Bildung" zu thun? Besteht denn ein Menschenkind aus nichts anderen als einem Zellengewebe zum Aufspeichern mehr oder weniger beglaubigter Thatsachen? Nicht einen einzigen wahrhaft gesitteten, mit der uuinimitAs „gebildeten" Menschen hat uns der „allgemeine Bildungsnachweis" geben können, und wenn je ein thörichtes Schlagwort eine Nation in den Banden des Irrtums und des Vorurteils gehalten hat, so darf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/173>, abgerufen am 25.05.2024.