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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Hebbel und Gelo Ludwig

"durchgeackert" (was dann zu zwei in seinen Werken befindlichen vortrefflichen
"Betrachtungen über den Stoff" Anlaß gegeben hat), aber doch immer ruhig
auf das Erwachen des Produktionstriebes gewartet, anstatt im Anschluß an
"epigrammatische Dialvgfragmcnte" ein rein verstandesmäßigcs Werk zu
schreiben. Dem eigentlich dichterischen Prozeß war er, das wissen wir ganz
genau, ebenso widerstandslos ausgeliefert wie Ludwig; selbst wenn er krank
lag, überfiel ihn der error poöti<zu8, so einmal in Kopenhagen: "Hätte ich
gestern Abend einen Sekretär bei mir gehabt, so hätte ich den ganzen ersten
Akt meiner "Maria Magdalene" diktiren können; denn kaum hatte ich die
Tropfen (Medizin) im Leibe, als mein so lange trocknes Gehirn Funken zu
sprühen anfing, aber ich habe das meiste festgehalten und gestern und heute
zum Teil aufgeschrieben." Dabei kann doch wohl von Absicht und Berech¬
nung, selbst von vollem Bewußtsein nicht die Rede sein, und in der That
hat Hebbel auch die künstlerische Thätigkeit (viel später) mit dem Traum ver¬
glichen. Selbst die schwächsten Produkte Hebbels, die "Julia" und das
"Trauerspiel auf Sizilien," sind nichts weniger als Verstandesprodukte, von
dem letzten erfahren wir sogar, daß es ihm aus einer im Caso Toledo zu
Neapel erzählten Anekdote mit allen handelnden und leidenden Personen zum
Bilde zusammcnrcmn, sodaß Stimmung, Situation, Charaktere, Wucht des
Thatsächlichen, tragisches Mitleid und Furcht und zugleich die (kulturgeschicht¬
liche) Idee des Stücks alles auf einmal dawar. Wie bei Ludwig, kündigte
sich auch bei Hebbel, wie er Kuh erzählte, die eigentliche Produktion mit einer
Gesichtserscheinung an, worauf er sofort wußte, daß der schöpferische Augen¬
blick nahe sei. Bei dem ersten Akt der "Genoveva" habe ihm beständig die
Farbe eines Herbstmorgens vorgeschwebt, beim "Herodes" vom Anfang bis
zum Ende das brennendste Not. Als er den Epilog zu "Genoveva" dichtete,
habe er eine angeschossene Taube fliegen sehen, und so oft sich der "Moloch"
meldete, in Rom, in Neapel, wie in Wien, sei vor ihm ein Felsen mit ur¬
alten bemoosten Stämmen aus dem Meer emporgestiegen. Hebbel produzirte
übrigens viel im Freien, im Gehen, und glich dann, wie Augenzeugen be¬
richten, einem Traumwandelnden; auch summte er dabei vor sich hin, das
entstehende Gedicht kam immer mit einer Melodie. Das sind doch Zustände,
die sehr an die Ludwigschen erinnern, und es wäre ein Wunder, wenn ihnen
reine Verstandesprodukte entsprungen wären.

Die allgemeine Charakteristik der Hebbelscheu Werke, die Ludwig in seinem
ästhetischen Bekenntnis giebt, ist denn auch schief und einseitig. Es ist in
Hebbels Dramen nicht, wie es da heißt, alles abstrakt ausgesprochen, jedes
Stück Charakterentwicklung ist nicht gleichsam ein psychologisches Präparat,
das Gespräch nicht eine Reihe von psychologischen und charakteristischen Zügen,
pragmatischen und höhern Motiven oder, wie Ludwig an andrer Stelle sagt,
eine dialektische Übung der redenden Charaktere, man sieht nicht überall die


Friedrich Hebbel und Gelo Ludwig

„durchgeackert" (was dann zu zwei in seinen Werken befindlichen vortrefflichen
„Betrachtungen über den Stoff" Anlaß gegeben hat), aber doch immer ruhig
auf das Erwachen des Produktionstriebes gewartet, anstatt im Anschluß an
„epigrammatische Dialvgfragmcnte" ein rein verstandesmäßigcs Werk zu
schreiben. Dem eigentlich dichterischen Prozeß war er, das wissen wir ganz
genau, ebenso widerstandslos ausgeliefert wie Ludwig; selbst wenn er krank
lag, überfiel ihn der error poöti<zu8, so einmal in Kopenhagen: „Hätte ich
gestern Abend einen Sekretär bei mir gehabt, so hätte ich den ganzen ersten
Akt meiner »Maria Magdalene« diktiren können; denn kaum hatte ich die
Tropfen (Medizin) im Leibe, als mein so lange trocknes Gehirn Funken zu
sprühen anfing, aber ich habe das meiste festgehalten und gestern und heute
zum Teil aufgeschrieben." Dabei kann doch wohl von Absicht und Berech¬
nung, selbst von vollem Bewußtsein nicht die Rede sein, und in der That
hat Hebbel auch die künstlerische Thätigkeit (viel später) mit dem Traum ver¬
glichen. Selbst die schwächsten Produkte Hebbels, die „Julia" und das
„Trauerspiel auf Sizilien," sind nichts weniger als Verstandesprodukte, von
dem letzten erfahren wir sogar, daß es ihm aus einer im Caso Toledo zu
Neapel erzählten Anekdote mit allen handelnden und leidenden Personen zum
Bilde zusammcnrcmn, sodaß Stimmung, Situation, Charaktere, Wucht des
Thatsächlichen, tragisches Mitleid und Furcht und zugleich die (kulturgeschicht¬
liche) Idee des Stücks alles auf einmal dawar. Wie bei Ludwig, kündigte
sich auch bei Hebbel, wie er Kuh erzählte, die eigentliche Produktion mit einer
Gesichtserscheinung an, worauf er sofort wußte, daß der schöpferische Augen¬
blick nahe sei. Bei dem ersten Akt der „Genoveva" habe ihm beständig die
Farbe eines Herbstmorgens vorgeschwebt, beim „Herodes" vom Anfang bis
zum Ende das brennendste Not. Als er den Epilog zu „Genoveva" dichtete,
habe er eine angeschossene Taube fliegen sehen, und so oft sich der „Moloch"
meldete, in Rom, in Neapel, wie in Wien, sei vor ihm ein Felsen mit ur¬
alten bemoosten Stämmen aus dem Meer emporgestiegen. Hebbel produzirte
übrigens viel im Freien, im Gehen, und glich dann, wie Augenzeugen be¬
richten, einem Traumwandelnden; auch summte er dabei vor sich hin, das
entstehende Gedicht kam immer mit einer Melodie. Das sind doch Zustände,
die sehr an die Ludwigschen erinnern, und es wäre ein Wunder, wenn ihnen
reine Verstandesprodukte entsprungen wären.

Die allgemeine Charakteristik der Hebbelscheu Werke, die Ludwig in seinem
ästhetischen Bekenntnis giebt, ist denn auch schief und einseitig. Es ist in
Hebbels Dramen nicht, wie es da heißt, alles abstrakt ausgesprochen, jedes
Stück Charakterentwicklung ist nicht gleichsam ein psychologisches Präparat,
das Gespräch nicht eine Reihe von psychologischen und charakteristischen Zügen,
pragmatischen und höhern Motiven oder, wie Ludwig an andrer Stelle sagt,
eine dialektische Übung der redenden Charaktere, man sieht nicht überall die


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[0184] Friedrich Hebbel und Gelo Ludwig „durchgeackert" (was dann zu zwei in seinen Werken befindlichen vortrefflichen „Betrachtungen über den Stoff" Anlaß gegeben hat), aber doch immer ruhig auf das Erwachen des Produktionstriebes gewartet, anstatt im Anschluß an „epigrammatische Dialvgfragmcnte" ein rein verstandesmäßigcs Werk zu schreiben. Dem eigentlich dichterischen Prozeß war er, das wissen wir ganz genau, ebenso widerstandslos ausgeliefert wie Ludwig; selbst wenn er krank lag, überfiel ihn der error poöti<zu8, so einmal in Kopenhagen: „Hätte ich gestern Abend einen Sekretär bei mir gehabt, so hätte ich den ganzen ersten Akt meiner »Maria Magdalene« diktiren können; denn kaum hatte ich die Tropfen (Medizin) im Leibe, als mein so lange trocknes Gehirn Funken zu sprühen anfing, aber ich habe das meiste festgehalten und gestern und heute zum Teil aufgeschrieben." Dabei kann doch wohl von Absicht und Berech¬ nung, selbst von vollem Bewußtsein nicht die Rede sein, und in der That hat Hebbel auch die künstlerische Thätigkeit (viel später) mit dem Traum ver¬ glichen. Selbst die schwächsten Produkte Hebbels, die „Julia" und das „Trauerspiel auf Sizilien," sind nichts weniger als Verstandesprodukte, von dem letzten erfahren wir sogar, daß es ihm aus einer im Caso Toledo zu Neapel erzählten Anekdote mit allen handelnden und leidenden Personen zum Bilde zusammcnrcmn, sodaß Stimmung, Situation, Charaktere, Wucht des Thatsächlichen, tragisches Mitleid und Furcht und zugleich die (kulturgeschicht¬ liche) Idee des Stücks alles auf einmal dawar. Wie bei Ludwig, kündigte sich auch bei Hebbel, wie er Kuh erzählte, die eigentliche Produktion mit einer Gesichtserscheinung an, worauf er sofort wußte, daß der schöpferische Augen¬ blick nahe sei. Bei dem ersten Akt der „Genoveva" habe ihm beständig die Farbe eines Herbstmorgens vorgeschwebt, beim „Herodes" vom Anfang bis zum Ende das brennendste Not. Als er den Epilog zu „Genoveva" dichtete, habe er eine angeschossene Taube fliegen sehen, und so oft sich der „Moloch" meldete, in Rom, in Neapel, wie in Wien, sei vor ihm ein Felsen mit ur¬ alten bemoosten Stämmen aus dem Meer emporgestiegen. Hebbel produzirte übrigens viel im Freien, im Gehen, und glich dann, wie Augenzeugen be¬ richten, einem Traumwandelnden; auch summte er dabei vor sich hin, das entstehende Gedicht kam immer mit einer Melodie. Das sind doch Zustände, die sehr an die Ludwigschen erinnern, und es wäre ein Wunder, wenn ihnen reine Verstandesprodukte entsprungen wären. Die allgemeine Charakteristik der Hebbelscheu Werke, die Ludwig in seinem ästhetischen Bekenntnis giebt, ist denn auch schief und einseitig. Es ist in Hebbels Dramen nicht, wie es da heißt, alles abstrakt ausgesprochen, jedes Stück Charakterentwicklung ist nicht gleichsam ein psychologisches Präparat, das Gespräch nicht eine Reihe von psychologischen und charakteristischen Zügen, pragmatischen und höhern Motiven oder, wie Ludwig an andrer Stelle sagt, eine dialektische Übung der redenden Charaktere, man sieht nicht überall die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/184>, abgerufen am 23.05.2024.