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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Die Genossenschaft pau und die allermodernsie Kunst

lichen Anschauungen und Gefühlen nichts zu thun hat. Daß sich solche einseitige
Strömungen in unsrer modernen Kunst schon lange bemerkbar machen, war
ja nicht unbekannt. Aber daß Willkür und Phantastik, die man bei einzelnen
besonders Begabten wohl als berechtigt anerkennen konnte, geradezu zum System
und zur Methode erhoben werden sollten, das ist den meisten Wohl erst durch
diese Zeitschrift klar geworden. Das also sind die Folgen einer philosophischen
Weltanschauung, die als höchstes menschliches Ideal den von allen sozialen Be¬
dingungen gelösten Übermenschen hingestellt hat, das sind die Folgen einer
Ästhetik, die nicht müde wurde, über den Naturalismus mit seinem "sklavischen,
geistlosen" Haften an der Natur zu spotten und die Kunst als vollkommen
freie Thätigkeit des Menschen, als Schöpferin einer zweiten idealen Welt zu
preisen. Als ob die großen alten Meister nicht bei aller Phantastik ihres
Schaffens doch in formaler Beziehung immer auf dem festen Boden des Natur¬
studiums gestanden hätten, ihrem innersten Wesen nach Naturalisten gewesen
wären!*) Wie sehr sind doch die auf dem Holzwege, die den Naturalismus
als das gemeinsame Kennzeichen der ganzen modernen Kunst betrachten und,
weil sie einen instinktiven Widerwillen gegen diese Kunst haben, nun auch den
Naturalismus mit allen Mitteln einer verfehlten Dialektik bekämpfen! Ist denn
das, was uns diese Künstler bieten, überhaupt noch Naturalismus, ist für diese
"Jüngsten" die Natur als Gegenstand der Nachahmung überhaupt noch vor¬
handen? Man muß wirklich blind sein, um nicht zu sehen, daß unsre großen
modernen Naturalisten längst zum alten Eisen geworfen sind, und daß wir
glücklich wieder in dem Fahrwasser einer romantischen Reaktion schwimmen,
die gefährlicher und verderblicher ist als die tendenziöse und romantische Ge¬
dankenkunst in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts.

Es ist kein Zufall, daß an der Spitze dieser Zeitschrift Friedrich Nietzsche
steht. Im ersten sowohl wie im zweiten Heft finden wir ein Fragment des
Modephilosophen abgedruckt. Ich weiß Wohl, daß es heutzutage als kleinlich
und banausisch gilt, wenn man Nietzsche nicht als den ersten Philosophen seines
Jahrhunderts anerkennt. Das hindert mich aber nicht, zu sagen, daß es mir
grausam scheint, Aussprüche des unglücklichen Mannes, die ganz offenbar schon
die Spuren seines jetzigen Leidens, unverkennbare Anzeichen von Größenwahn,
an sich tragen, aus ihrer Vergessenheit, wie das neuerdings Sitte wird, her¬
vorzuziehen und dem Publikum als Ausflüsse höchster Weisheit vorzusetzen.
Ich muß dabei immer an den Kaiser mit den neuen Kleidern denken. Man ver¬
suche einmal, von solchen Auslassungen die pathetische oder geistreiche Sprache
abzuziehen, und man wird erstaunt sein, wie wenig übrig bleibt. Aber die Be-



*) Vergl. K. Lange, Die bewußte Selbsttäuschung als Kern des künstlerischen Genusses.
Leipzig. Veit und Co., 1396.
Die Genossenschaft pau und die allermodernsie Kunst

lichen Anschauungen und Gefühlen nichts zu thun hat. Daß sich solche einseitige
Strömungen in unsrer modernen Kunst schon lange bemerkbar machen, war
ja nicht unbekannt. Aber daß Willkür und Phantastik, die man bei einzelnen
besonders Begabten wohl als berechtigt anerkennen konnte, geradezu zum System
und zur Methode erhoben werden sollten, das ist den meisten Wohl erst durch
diese Zeitschrift klar geworden. Das also sind die Folgen einer philosophischen
Weltanschauung, die als höchstes menschliches Ideal den von allen sozialen Be¬
dingungen gelösten Übermenschen hingestellt hat, das sind die Folgen einer
Ästhetik, die nicht müde wurde, über den Naturalismus mit seinem „sklavischen,
geistlosen" Haften an der Natur zu spotten und die Kunst als vollkommen
freie Thätigkeit des Menschen, als Schöpferin einer zweiten idealen Welt zu
preisen. Als ob die großen alten Meister nicht bei aller Phantastik ihres
Schaffens doch in formaler Beziehung immer auf dem festen Boden des Natur¬
studiums gestanden hätten, ihrem innersten Wesen nach Naturalisten gewesen
wären!*) Wie sehr sind doch die auf dem Holzwege, die den Naturalismus
als das gemeinsame Kennzeichen der ganzen modernen Kunst betrachten und,
weil sie einen instinktiven Widerwillen gegen diese Kunst haben, nun auch den
Naturalismus mit allen Mitteln einer verfehlten Dialektik bekämpfen! Ist denn
das, was uns diese Künstler bieten, überhaupt noch Naturalismus, ist für diese
„Jüngsten" die Natur als Gegenstand der Nachahmung überhaupt noch vor¬
handen? Man muß wirklich blind sein, um nicht zu sehen, daß unsre großen
modernen Naturalisten längst zum alten Eisen geworfen sind, und daß wir
glücklich wieder in dem Fahrwasser einer romantischen Reaktion schwimmen,
die gefährlicher und verderblicher ist als die tendenziöse und romantische Ge¬
dankenkunst in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts.

Es ist kein Zufall, daß an der Spitze dieser Zeitschrift Friedrich Nietzsche
steht. Im ersten sowohl wie im zweiten Heft finden wir ein Fragment des
Modephilosophen abgedruckt. Ich weiß Wohl, daß es heutzutage als kleinlich
und banausisch gilt, wenn man Nietzsche nicht als den ersten Philosophen seines
Jahrhunderts anerkennt. Das hindert mich aber nicht, zu sagen, daß es mir
grausam scheint, Aussprüche des unglücklichen Mannes, die ganz offenbar schon
die Spuren seines jetzigen Leidens, unverkennbare Anzeichen von Größenwahn,
an sich tragen, aus ihrer Vergessenheit, wie das neuerdings Sitte wird, her¬
vorzuziehen und dem Publikum als Ausflüsse höchster Weisheit vorzusetzen.
Ich muß dabei immer an den Kaiser mit den neuen Kleidern denken. Man ver¬
suche einmal, von solchen Auslassungen die pathetische oder geistreiche Sprache
abzuziehen, und man wird erstaunt sein, wie wenig übrig bleibt. Aber die Be-



*) Vergl. K. Lange, Die bewußte Selbsttäuschung als Kern des künstlerischen Genusses.
Leipzig. Veit und Co., 1396.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/190>, abgerufen am 23.05.2024.