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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Unser Jrrenwesen

richtet, aber seit durch das preußische Gesetz vom 11. Juli 1891 die öffentliche
Fürsorge auf alle hilfsbedürftigen Geisteskranken, Epileptiker und Idioten aus¬
gedehnt und den Provinzen hierdurch eine vermehrte Last aufgebürdet worden
ist, suchen sie sich dadurch zu helfen, daß sie ihre Kranken zum großen Teil
nicht in eignen Anstalten unterbringen, sondern Privatanstalten übergeben.
Dieser Weg ist billiger, obgleich die meisten Privatanstalten verdienen wollen,
und in der That schon mancher Unternehmer an öffentlichen Kranken wohl¬
habend geworden ist. Wie das möglich ist? Nun, die Einrichtung ist eben
darnach: weniger Ärzte, weniger Wärter, geringere Löhnung, weniger Raum
und schlechteres Essen. Hierzu kommt noch, daß manche Privatanstalten die
Arbeitskraft der ihnen übergebnen Kranken stärker ausnutzen, nicht immer zu
deren Vorteil. Beim Fortgehen arbeitsfähiger Kranken täuschen sich übrigens
die Provinzen in ihren Berechnungen, dn gerade sie den Durchschnitt der Ver¬
pflegungskosten nicht unwesentlich herabsetzen würden.

Die Provinzen züchten gegenwärtig Privatanstalten groß, darunter viele
von sehr zweifelhaftem Wert, und behandeln sie wie rohe Eier. Das Zeugnis, das
der Landesrat Brandes im Aachener Prozeß abgab, ist hierfür ein beschämender
Beweis. Die Provinz, so sagte er aus, legte den Alexinnern die Bestimmungen
zur Annahme vor, nach denen die Regierung die Thätigkeit der Ärzte geregelt
wissen wollte, und obwohl es die "Brüder" ablehnten, sich diesen Bestim¬
mungen zu unterwerfen, überließ die Provinz dennoch ihre Kranken dem Kloster
zur weitern Verpflegung. Aber damit noch nicht genug, die Provinz wünschte
einige ihrer Kranken entlassen zu sehen, und darauf verbat sich der Obere des
Klosters jede Einmischung. Auch das ließ sich die Provinz bieten, die nach
dem Gesetz unumschränkte Gewalt über ihre Kranken hat!

In manchen Provinzen sind die Privatanstalten mit Hilfe der Provinzial-
verwaltungen wie die Pilze aufgeschossen, sodaß eine gründliche Aufsicht gar
nicht mehr möglich ist, in andern haben einzelne eine solche Ausdehnung er¬
langt -- sie enthalten bis zu sechshundert Kranken ^, daß auch hier die Ver¬
trauensseligkeit der Provinzen mehr als leichtfertig erscheinen muß. Eine Mit¬
schuld trägt aber überall die Negierung, denn sie ist es, die alle Konzessionen
erteilt. Die Personen, denen man die Kranken übergiebt, sind zum Teil Ärzte,
zum Teil Geistliche und geistliche Orden, zum Teil einfach Bauern, die mit
den Kranken ihre Felder bestellen. Die letzte Art der Verpflegung ist noch
gar nicht einmal die schlimmste, denn man darf nicht glauben, daß die ärzt¬
lichen Privatanstalten den andern ohne weiteres vorzuziehen wären. Es giebt
ja wohl einzelne tadellos geleitete, aber die große Masse ist es nicht. Die
leitenden Ärzte sind meist gar keine Psychiater und überdies in erster Linie
Geschäftsleute. Wie leicht aber und in welchem Maße die Pflege der Kranken
durch das Streben nach Gelderwerb leidet, davon kann sich der Uneingeweihte
gar keine Vorstellung machen. Schon durch den Umstand, daß nicht genug


Grenzboten III 1895 34
Unser Jrrenwesen

richtet, aber seit durch das preußische Gesetz vom 11. Juli 1891 die öffentliche
Fürsorge auf alle hilfsbedürftigen Geisteskranken, Epileptiker und Idioten aus¬
gedehnt und den Provinzen hierdurch eine vermehrte Last aufgebürdet worden
ist, suchen sie sich dadurch zu helfen, daß sie ihre Kranken zum großen Teil
nicht in eignen Anstalten unterbringen, sondern Privatanstalten übergeben.
Dieser Weg ist billiger, obgleich die meisten Privatanstalten verdienen wollen,
und in der That schon mancher Unternehmer an öffentlichen Kranken wohl¬
habend geworden ist. Wie das möglich ist? Nun, die Einrichtung ist eben
darnach: weniger Ärzte, weniger Wärter, geringere Löhnung, weniger Raum
und schlechteres Essen. Hierzu kommt noch, daß manche Privatanstalten die
Arbeitskraft der ihnen übergebnen Kranken stärker ausnutzen, nicht immer zu
deren Vorteil. Beim Fortgehen arbeitsfähiger Kranken täuschen sich übrigens
die Provinzen in ihren Berechnungen, dn gerade sie den Durchschnitt der Ver¬
pflegungskosten nicht unwesentlich herabsetzen würden.

Die Provinzen züchten gegenwärtig Privatanstalten groß, darunter viele
von sehr zweifelhaftem Wert, und behandeln sie wie rohe Eier. Das Zeugnis, das
der Landesrat Brandes im Aachener Prozeß abgab, ist hierfür ein beschämender
Beweis. Die Provinz, so sagte er aus, legte den Alexinnern die Bestimmungen
zur Annahme vor, nach denen die Regierung die Thätigkeit der Ärzte geregelt
wissen wollte, und obwohl es die „Brüder" ablehnten, sich diesen Bestim¬
mungen zu unterwerfen, überließ die Provinz dennoch ihre Kranken dem Kloster
zur weitern Verpflegung. Aber damit noch nicht genug, die Provinz wünschte
einige ihrer Kranken entlassen zu sehen, und darauf verbat sich der Obere des
Klosters jede Einmischung. Auch das ließ sich die Provinz bieten, die nach
dem Gesetz unumschränkte Gewalt über ihre Kranken hat!

In manchen Provinzen sind die Privatanstalten mit Hilfe der Provinzial-
verwaltungen wie die Pilze aufgeschossen, sodaß eine gründliche Aufsicht gar
nicht mehr möglich ist, in andern haben einzelne eine solche Ausdehnung er¬
langt — sie enthalten bis zu sechshundert Kranken ^, daß auch hier die Ver¬
trauensseligkeit der Provinzen mehr als leichtfertig erscheinen muß. Eine Mit¬
schuld trägt aber überall die Negierung, denn sie ist es, die alle Konzessionen
erteilt. Die Personen, denen man die Kranken übergiebt, sind zum Teil Ärzte,
zum Teil Geistliche und geistliche Orden, zum Teil einfach Bauern, die mit
den Kranken ihre Felder bestellen. Die letzte Art der Verpflegung ist noch
gar nicht einmal die schlimmste, denn man darf nicht glauben, daß die ärzt¬
lichen Privatanstalten den andern ohne weiteres vorzuziehen wären. Es giebt
ja wohl einzelne tadellos geleitete, aber die große Masse ist es nicht. Die
leitenden Ärzte sind meist gar keine Psychiater und überdies in erster Linie
Geschäftsleute. Wie leicht aber und in welchem Maße die Pflege der Kranken
durch das Streben nach Gelderwerb leidet, davon kann sich der Uneingeweihte
gar keine Vorstellung machen. Schon durch den Umstand, daß nicht genug


Grenzboten III 1895 34
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/273>, abgerufen am 06.06.2024.