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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Der Zug nach dem Osten

sein diesseits des Bosporus. Der Alttürke duldet die Ungläubigen nur, so¬
lange sie ihm untergeben sind. Wo er die Herrschaft nicht ausüben kann,
zieht er sich vor der christlichen Kultur zurück. So geschah es in Rumänien
und Serbien, so räumten die Türken ihre Wohnplätze, als die russischen Heere
in Bulgarien einrückten, und die Begs und Agas Bosniens suchen sich seit der
österreichischen Besetzung nach Kleinasien zurückzuziehen. Durch diese Ver¬
schiebung innerhalb der Bevölkerung der Balkanhalbinsel ist ein Gebiet ge¬
wonnen, auf dem die deutsche Einwanderung den Zug nach Osten an¬
treten kann.

Der Berliner Kongreß von 1878 bezeichnet den Wendepunkt in der poli¬
tischen Lage, die bisher Rußland als alleinigen Erben des kranken Mannes
erscheinen ließ. Nicht nur die russische Presse, sondern auch maßgebende Per¬
sonen aus den Regiernngskreisen haben zwar seitdem nicht aufgehört, die Er¬
gebnisse jenes Kongresses einer Intrigue Bismarcks zuzuschreiben. Aber man
wird sie wohl richtiger als einen Protest Westeuropas gegen die Übergriffe
des Panslawismus auffassen, nachdem die Einmischung Englands die Erobe¬
rung Konstantinopels verhindert und zu dem Friedensschluß in San Stefano
genötigt hatte. Unter den in Berlin beschlossenen Abänderungen dieses Friedens¬
schlusses dürfte die Besetzung Bosniens und der Herzegowina die größte Be¬
deutung haben.

Es würde die Grenzen, die diesen Betrachtungen gesetzt sind, überschreiten,
wenn diese Länder in ihrer Eigentümlichkeit eingehend geschildert werden sollten.
Land und Volk waren in Europa in Vergessenheit geraten, und erst in neuester
Zeit haben verdiente Forscher die Kenntnis des Landes der wissenschaftlichen
Welt zugänglich gemacht. Unter ihnen ist besonders hinzuweisen auf I. v. Asbvth
(Bosnien und die Herzegowina, Wien 1887/88), der in Begleitung des Finanz¬
ministers v. K-illay vier Jahre hindurch Gelegenheit hatte, Land und Leute
näher kennen zu lernen.

Vorzüglich zur Ansiedlung geeignet ist Bosnien, das durch die dinarischen
Alpen von der gebirgigen, weniger fruchtbaren Herzegowina getrennt ist. Zwar
ist anch Bosnien ein Gebirgsland, aber es fällt ab gegen die Flachen der
Unna und der save. Es ist durchschnitten von wasserreichen, langen Thälern,
ist mit dichten Wäldern bedeckt, birgt reiche Erzlager in sich und bietet dem
Anbau der Kulturpflanzen des mittlern und südlichen Europas weiten Raum.
Wo findet sich in der Nähe des Mittelpunktes europäischer Kultur ein zur
Auswanderung so geeigneter Boden, dessen Bevölkerung auf einer Quadrat-
meile die Zahl vou 3000 nicht erreicht und in manchen Gegenden auf 500
herabsinkt? Unter der vorzüglichen Leitung des Ministers v. K-i-llay hat die
Reorganisation dieser Provinzen ersichtlich gute Ergebnisse gehabt. Eine
deutsche Einwanderung würde den Wettbewerb der ansässigen slawischen Be¬
völkerung nicht zu scheuen haben.


Der Zug nach dem Osten

sein diesseits des Bosporus. Der Alttürke duldet die Ungläubigen nur, so¬
lange sie ihm untergeben sind. Wo er die Herrschaft nicht ausüben kann,
zieht er sich vor der christlichen Kultur zurück. So geschah es in Rumänien
und Serbien, so räumten die Türken ihre Wohnplätze, als die russischen Heere
in Bulgarien einrückten, und die Begs und Agas Bosniens suchen sich seit der
österreichischen Besetzung nach Kleinasien zurückzuziehen. Durch diese Ver¬
schiebung innerhalb der Bevölkerung der Balkanhalbinsel ist ein Gebiet ge¬
wonnen, auf dem die deutsche Einwanderung den Zug nach Osten an¬
treten kann.

Der Berliner Kongreß von 1878 bezeichnet den Wendepunkt in der poli¬
tischen Lage, die bisher Rußland als alleinigen Erben des kranken Mannes
erscheinen ließ. Nicht nur die russische Presse, sondern auch maßgebende Per¬
sonen aus den Regiernngskreisen haben zwar seitdem nicht aufgehört, die Er¬
gebnisse jenes Kongresses einer Intrigue Bismarcks zuzuschreiben. Aber man
wird sie wohl richtiger als einen Protest Westeuropas gegen die Übergriffe
des Panslawismus auffassen, nachdem die Einmischung Englands die Erobe¬
rung Konstantinopels verhindert und zu dem Friedensschluß in San Stefano
genötigt hatte. Unter den in Berlin beschlossenen Abänderungen dieses Friedens¬
schlusses dürfte die Besetzung Bosniens und der Herzegowina die größte Be¬
deutung haben.

Es würde die Grenzen, die diesen Betrachtungen gesetzt sind, überschreiten,
wenn diese Länder in ihrer Eigentümlichkeit eingehend geschildert werden sollten.
Land und Volk waren in Europa in Vergessenheit geraten, und erst in neuester
Zeit haben verdiente Forscher die Kenntnis des Landes der wissenschaftlichen
Welt zugänglich gemacht. Unter ihnen ist besonders hinzuweisen auf I. v. Asbvth
(Bosnien und die Herzegowina, Wien 1887/88), der in Begleitung des Finanz¬
ministers v. K-illay vier Jahre hindurch Gelegenheit hatte, Land und Leute
näher kennen zu lernen.

Vorzüglich zur Ansiedlung geeignet ist Bosnien, das durch die dinarischen
Alpen von der gebirgigen, weniger fruchtbaren Herzegowina getrennt ist. Zwar
ist anch Bosnien ein Gebirgsland, aber es fällt ab gegen die Flachen der
Unna und der save. Es ist durchschnitten von wasserreichen, langen Thälern,
ist mit dichten Wäldern bedeckt, birgt reiche Erzlager in sich und bietet dem
Anbau der Kulturpflanzen des mittlern und südlichen Europas weiten Raum.
Wo findet sich in der Nähe des Mittelpunktes europäischer Kultur ein zur
Auswanderung so geeigneter Boden, dessen Bevölkerung auf einer Quadrat-
meile die Zahl vou 3000 nicht erreicht und in manchen Gegenden auf 500
herabsinkt? Unter der vorzüglichen Leitung des Ministers v. K-i-llay hat die
Reorganisation dieser Provinzen ersichtlich gute Ergebnisse gehabt. Eine
deutsche Einwanderung würde den Wettbewerb der ansässigen slawischen Be¬
völkerung nicht zu scheuen haben.


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[0307] Der Zug nach dem Osten sein diesseits des Bosporus. Der Alttürke duldet die Ungläubigen nur, so¬ lange sie ihm untergeben sind. Wo er die Herrschaft nicht ausüben kann, zieht er sich vor der christlichen Kultur zurück. So geschah es in Rumänien und Serbien, so räumten die Türken ihre Wohnplätze, als die russischen Heere in Bulgarien einrückten, und die Begs und Agas Bosniens suchen sich seit der österreichischen Besetzung nach Kleinasien zurückzuziehen. Durch diese Ver¬ schiebung innerhalb der Bevölkerung der Balkanhalbinsel ist ein Gebiet ge¬ wonnen, auf dem die deutsche Einwanderung den Zug nach Osten an¬ treten kann. Der Berliner Kongreß von 1878 bezeichnet den Wendepunkt in der poli¬ tischen Lage, die bisher Rußland als alleinigen Erben des kranken Mannes erscheinen ließ. Nicht nur die russische Presse, sondern auch maßgebende Per¬ sonen aus den Regiernngskreisen haben zwar seitdem nicht aufgehört, die Er¬ gebnisse jenes Kongresses einer Intrigue Bismarcks zuzuschreiben. Aber man wird sie wohl richtiger als einen Protest Westeuropas gegen die Übergriffe des Panslawismus auffassen, nachdem die Einmischung Englands die Erobe¬ rung Konstantinopels verhindert und zu dem Friedensschluß in San Stefano genötigt hatte. Unter den in Berlin beschlossenen Abänderungen dieses Friedens¬ schlusses dürfte die Besetzung Bosniens und der Herzegowina die größte Be¬ deutung haben. Es würde die Grenzen, die diesen Betrachtungen gesetzt sind, überschreiten, wenn diese Länder in ihrer Eigentümlichkeit eingehend geschildert werden sollten. Land und Volk waren in Europa in Vergessenheit geraten, und erst in neuester Zeit haben verdiente Forscher die Kenntnis des Landes der wissenschaftlichen Welt zugänglich gemacht. Unter ihnen ist besonders hinzuweisen auf I. v. Asbvth (Bosnien und die Herzegowina, Wien 1887/88), der in Begleitung des Finanz¬ ministers v. K-illay vier Jahre hindurch Gelegenheit hatte, Land und Leute näher kennen zu lernen. Vorzüglich zur Ansiedlung geeignet ist Bosnien, das durch die dinarischen Alpen von der gebirgigen, weniger fruchtbaren Herzegowina getrennt ist. Zwar ist anch Bosnien ein Gebirgsland, aber es fällt ab gegen die Flachen der Unna und der save. Es ist durchschnitten von wasserreichen, langen Thälern, ist mit dichten Wäldern bedeckt, birgt reiche Erzlager in sich und bietet dem Anbau der Kulturpflanzen des mittlern und südlichen Europas weiten Raum. Wo findet sich in der Nähe des Mittelpunktes europäischer Kultur ein zur Auswanderung so geeigneter Boden, dessen Bevölkerung auf einer Quadrat- meile die Zahl vou 3000 nicht erreicht und in manchen Gegenden auf 500 herabsinkt? Unter der vorzüglichen Leitung des Ministers v. K-i-llay hat die Reorganisation dieser Provinzen ersichtlich gute Ergebnisse gehabt. Eine deutsche Einwanderung würde den Wettbewerb der ansässigen slawischen Be¬ völkerung nicht zu scheuen haben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/307>, abgerufen am 16.06.2024.