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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Brasilien

der brasilianischen Verhältnisse zusammen mit einer Betrachtung der Schicksale
der deutschen Einwanderer wohl am Platze sein.

Man darf nicht aus den Augen verlieren, daß die deutsche Einwanderung
in Brasilien keine freiwillige war, sondern von der brasilianischen Regierung
dorthin geleitet wurde. Die "neue Welt" scheidet sich scharf von der alten
dadurch, daß in ihr die eingeborne Nasse eine geringe Lebensfähigkeit zeigt,
und Kulturarbeit nur mit Hilfe fremder Nationen möglich war und ist. Diesem
Gefühle der eignen Unfähigkeit zu kolonisatorischer Thätigkeit mag der Hilferuf
nach fremder Einwanderung zu Anfang dieses Jahrhunderts entsprungen sein.
Man hatte sich Arbeitskräfte auf verschiednen Wege zu schaffen gesucht. Er¬
folglos war die Verwendung der eingebornen Indianer. Darauf führte mau
Sklaven aus Afrika und später Kukis aus China ein. Nachdem aber zuerst
1830, sodann 1850 der Handel mit Sklaven bei schwerer Strafe verboten
worden war, wandte man mehr und mehr der Heranziehung freier Ackerbauer
aus Deutschland, auch aus Italien sein Augenmerk zu. Begonnen hatte diese
Einwanderung schon vor dem Verbote des Sklavenhandels, und sie ist un¬
mittelbar mit der politischen Geschichte des Landes verbunden.

Der französische Einfall in Portugal zwang Johann VI., der 1792 die
Regentschaft für die unglückliche Königin Maria übernommen hatte, 1807
Portugal zu verlassen und nach Brasilien überzusiedeln; am Tage darauf,
nachdem der Hof Lissabon verlassen hatte, besetzte Napoleon die Hauptstadt.

Brasilien stand damals noch unter dem Eindrucke, den die blutige Ahn¬
dung einer revolutionären Erhebung in Minas hinterlassen hatte. Die Vor¬
gänge in Nordamerika, die französische Revolution zogen ihre Kreise bis nach
den südamerikanischen Staaten. Im Volke begann sich politisches Leben zu
regen; Beamte, Schriftsteller und Vaterlandsfreunde, unter ihnen der Oberst
Alvarenga Peixoto, der Richter Thomas Antonio Gonzaga, der Advokat
Claudio Manoel, drei Dichter, deren Werke den Grundstock der brasilianischen
Nationallitteratur bilden, schürten die revolutionäre Bewegung und mußten
den unglücklichen Ausgang am Gengen und in der Verbannung büßen. Die
Aufnahme, die die Königsfamilie der Braganza in Rio de Janeiro fand, war
zunächst gut, und einige Maßregeln der neuen Regierung zeugen von gesunder
politischer Einsicht. Man brach mit dem alten Monopol des Handels und
der Fabrikation, gab die Häfen dem Verkehr aller Nationen frei und befreite
1808 die Gewerbthätigkeit und Fabrikation von jedem Zwange. Aber bald
genug brachen Konflikte aus. Zunächst bestand ein Gegensatz zwischen den
nlteingewanderten Portugiesen und den neu zugewanderten Stammesgenossen,
der Gegensatz zwischen einem ackerbauenden und einem handeltreibeiwen Teile
der Bevölkerung. Sodann zeigten gelegentliche Aufstände, so 1817 und 1821
in Pernambuco, 1821 in Bahia und 1824 die in den Nordstaaten nnter dem
Namen "Konföderation des Äquators" eingeleitete Erhebung, daß der republi-


Brasilien

der brasilianischen Verhältnisse zusammen mit einer Betrachtung der Schicksale
der deutschen Einwanderer wohl am Platze sein.

Man darf nicht aus den Augen verlieren, daß die deutsche Einwanderung
in Brasilien keine freiwillige war, sondern von der brasilianischen Regierung
dorthin geleitet wurde. Die „neue Welt" scheidet sich scharf von der alten
dadurch, daß in ihr die eingeborne Nasse eine geringe Lebensfähigkeit zeigt,
und Kulturarbeit nur mit Hilfe fremder Nationen möglich war und ist. Diesem
Gefühle der eignen Unfähigkeit zu kolonisatorischer Thätigkeit mag der Hilferuf
nach fremder Einwanderung zu Anfang dieses Jahrhunderts entsprungen sein.
Man hatte sich Arbeitskräfte auf verschiednen Wege zu schaffen gesucht. Er¬
folglos war die Verwendung der eingebornen Indianer. Darauf führte mau
Sklaven aus Afrika und später Kukis aus China ein. Nachdem aber zuerst
1830, sodann 1850 der Handel mit Sklaven bei schwerer Strafe verboten
worden war, wandte man mehr und mehr der Heranziehung freier Ackerbauer
aus Deutschland, auch aus Italien sein Augenmerk zu. Begonnen hatte diese
Einwanderung schon vor dem Verbote des Sklavenhandels, und sie ist un¬
mittelbar mit der politischen Geschichte des Landes verbunden.

Der französische Einfall in Portugal zwang Johann VI., der 1792 die
Regentschaft für die unglückliche Königin Maria übernommen hatte, 1807
Portugal zu verlassen und nach Brasilien überzusiedeln; am Tage darauf,
nachdem der Hof Lissabon verlassen hatte, besetzte Napoleon die Hauptstadt.

Brasilien stand damals noch unter dem Eindrucke, den die blutige Ahn¬
dung einer revolutionären Erhebung in Minas hinterlassen hatte. Die Vor¬
gänge in Nordamerika, die französische Revolution zogen ihre Kreise bis nach
den südamerikanischen Staaten. Im Volke begann sich politisches Leben zu
regen; Beamte, Schriftsteller und Vaterlandsfreunde, unter ihnen der Oberst
Alvarenga Peixoto, der Richter Thomas Antonio Gonzaga, der Advokat
Claudio Manoel, drei Dichter, deren Werke den Grundstock der brasilianischen
Nationallitteratur bilden, schürten die revolutionäre Bewegung und mußten
den unglücklichen Ausgang am Gengen und in der Verbannung büßen. Die
Aufnahme, die die Königsfamilie der Braganza in Rio de Janeiro fand, war
zunächst gut, und einige Maßregeln der neuen Regierung zeugen von gesunder
politischer Einsicht. Man brach mit dem alten Monopol des Handels und
der Fabrikation, gab die Häfen dem Verkehr aller Nationen frei und befreite
1808 die Gewerbthätigkeit und Fabrikation von jedem Zwange. Aber bald
genug brachen Konflikte aus. Zunächst bestand ein Gegensatz zwischen den
nlteingewanderten Portugiesen und den neu zugewanderten Stammesgenossen,
der Gegensatz zwischen einem ackerbauenden und einem handeltreibeiwen Teile
der Bevölkerung. Sodann zeigten gelegentliche Aufstände, so 1817 und 1821
in Pernambuco, 1821 in Bahia und 1824 die in den Nordstaaten nnter dem
Namen „Konföderation des Äquators" eingeleitete Erhebung, daß der republi-


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[0410] Brasilien der brasilianischen Verhältnisse zusammen mit einer Betrachtung der Schicksale der deutschen Einwanderer wohl am Platze sein. Man darf nicht aus den Augen verlieren, daß die deutsche Einwanderung in Brasilien keine freiwillige war, sondern von der brasilianischen Regierung dorthin geleitet wurde. Die „neue Welt" scheidet sich scharf von der alten dadurch, daß in ihr die eingeborne Nasse eine geringe Lebensfähigkeit zeigt, und Kulturarbeit nur mit Hilfe fremder Nationen möglich war und ist. Diesem Gefühle der eignen Unfähigkeit zu kolonisatorischer Thätigkeit mag der Hilferuf nach fremder Einwanderung zu Anfang dieses Jahrhunderts entsprungen sein. Man hatte sich Arbeitskräfte auf verschiednen Wege zu schaffen gesucht. Er¬ folglos war die Verwendung der eingebornen Indianer. Darauf führte mau Sklaven aus Afrika und später Kukis aus China ein. Nachdem aber zuerst 1830, sodann 1850 der Handel mit Sklaven bei schwerer Strafe verboten worden war, wandte man mehr und mehr der Heranziehung freier Ackerbauer aus Deutschland, auch aus Italien sein Augenmerk zu. Begonnen hatte diese Einwanderung schon vor dem Verbote des Sklavenhandels, und sie ist un¬ mittelbar mit der politischen Geschichte des Landes verbunden. Der französische Einfall in Portugal zwang Johann VI., der 1792 die Regentschaft für die unglückliche Königin Maria übernommen hatte, 1807 Portugal zu verlassen und nach Brasilien überzusiedeln; am Tage darauf, nachdem der Hof Lissabon verlassen hatte, besetzte Napoleon die Hauptstadt. Brasilien stand damals noch unter dem Eindrucke, den die blutige Ahn¬ dung einer revolutionären Erhebung in Minas hinterlassen hatte. Die Vor¬ gänge in Nordamerika, die französische Revolution zogen ihre Kreise bis nach den südamerikanischen Staaten. Im Volke begann sich politisches Leben zu regen; Beamte, Schriftsteller und Vaterlandsfreunde, unter ihnen der Oberst Alvarenga Peixoto, der Richter Thomas Antonio Gonzaga, der Advokat Claudio Manoel, drei Dichter, deren Werke den Grundstock der brasilianischen Nationallitteratur bilden, schürten die revolutionäre Bewegung und mußten den unglücklichen Ausgang am Gengen und in der Verbannung büßen. Die Aufnahme, die die Königsfamilie der Braganza in Rio de Janeiro fand, war zunächst gut, und einige Maßregeln der neuen Regierung zeugen von gesunder politischer Einsicht. Man brach mit dem alten Monopol des Handels und der Fabrikation, gab die Häfen dem Verkehr aller Nationen frei und befreite 1808 die Gewerbthätigkeit und Fabrikation von jedem Zwange. Aber bald genug brachen Konflikte aus. Zunächst bestand ein Gegensatz zwischen den nlteingewanderten Portugiesen und den neu zugewanderten Stammesgenossen, der Gegensatz zwischen einem ackerbauenden und einem handeltreibeiwen Teile der Bevölkerung. Sodann zeigten gelegentliche Aufstände, so 1817 und 1821 in Pernambuco, 1821 in Bahia und 1824 die in den Nordstaaten nnter dem Namen „Konföderation des Äquators" eingeleitete Erhebung, daß der republi-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/410>, abgerufen am 12.05.2024.