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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Das medizinische Studium

Der einzig richtige Weg aber dürfte der sein, am Anfang anzufangen,
d. h. einmal zuzusehen, wer Medizin studirt, und wie sie studirt wird, und ob
nicht hierbei manches faul ist. Das scheint man auch in weitern Kreisen ein¬
gesehen zu haben; vor kurzem liefen Gerüchte durch die Presse von einschnei¬
denden Veränderungen, die im medizinischen Studium bevorstehen sollen.

Wer studirt heute Medizin? Ein großer Haufe von jungen Leuten, die
nichts besseres anzufangen gewußt haben, nachdem gegen alle andern Studien
Bedenken erhoben worden waren: zur Theologie war keine Neigung, das Lehr¬
fach war zu überfüllt, Jurisprudenz zu langwierig. Aber studirt werden mußte,
denn so erforderte es der moderne Strebensdünkel, wonach der Sohn immer
etwas "Höheres" werden muß als der Vater; und so blieb denn nur die Me¬
dizin übrig; denn die ist zugleich ein "Brotstudium" -- das Wort erregt schon
Grauen--, und verdienen soll der Junge etwas, sobald er fertig ist. Also:
es wird Medizin studirt, und zwar mit allem Eifer, denn das medizinische
Studium fesselt jeden mit dem Reiz des täglich Neuen und Interessanten.
Die Examina werden gemacht, mit "genügend" eben bestanden, und der Mensch-
heitsbeglücker ist fertig. So stehen sie dann zu Hunderten da, und nun --
beginnen die Enttäuschungen. Nach zwei Jahren aber -- besondre Glücks¬
fälle ausgenommen -- ist der junge Arzt so unzufrieden mit seiner ganzen
Laufbahn, so abhold den unvermeidlichen Mühen seines schweren Berufs, daß
er oft die Stunde verwünscht, wo er den Entschluß gefaßt hat, Mediziner zu
werden.

Ein Teil der Schuld an diesen Zuständen liegt unzweifelhaft an unsrer
heutigen höhern Schulbildung. Wenn -- dank unserm Einjährigfreiwilligen¬
wesen -- die Arbeiten immer mehr herabgesetzt, die Versetzungen immer milder,
die Prüfungen immer leichter gemacht werden, so ermutigt das natürlich immer
mehr Unbegabte, die Schule zu besuchen, und zwar bis zu Ende, "damit ihnen
die Welt offen stehe." Ich kaun hier auf diese traurigen Verhältnisse nicht
näher eingehen, aber ich glaube, daß sie dazu beigetragen haben, den Bildnngs-
dünkel zu steigern und das geistige Proletariat zu vermehren.

Dann aber können die Eltern nicht dringend genug davor gewarnt werden,
bei der Berufswahl der Söhne diesen allzu freie Hand zu lassen. Sehr oft
weiß ein neunzehnjähriger junger Mensch gar nicht, was er werden soll.
Sorgfältigste Beobachtung der Neigungen und Lieblingsbeschäftigungen des
Sohnes ist eine der Hauptpflichteu unsrer Erziehung; sie ist freilich nur mög¬
lich bei dem -- heute so seltnen -- innigen Zusammenleben der Kinder mit
den Eltern.

Vor allem der ärztliche Beruf erfordert bestimmte, aber bei sorgfältiger
Erziehung deutlich zu erkennende Anlagen. Nicht darauf kommt es an, daß
der junge Mann sich getraut, eine Leiche anzufassen, oder daß er Blut fließen
sehen kann: gerade das findet sich später bei einiger Willenskraft auch bei


Das medizinische Studium

Der einzig richtige Weg aber dürfte der sein, am Anfang anzufangen,
d. h. einmal zuzusehen, wer Medizin studirt, und wie sie studirt wird, und ob
nicht hierbei manches faul ist. Das scheint man auch in weitern Kreisen ein¬
gesehen zu haben; vor kurzem liefen Gerüchte durch die Presse von einschnei¬
denden Veränderungen, die im medizinischen Studium bevorstehen sollen.

Wer studirt heute Medizin? Ein großer Haufe von jungen Leuten, die
nichts besseres anzufangen gewußt haben, nachdem gegen alle andern Studien
Bedenken erhoben worden waren: zur Theologie war keine Neigung, das Lehr¬
fach war zu überfüllt, Jurisprudenz zu langwierig. Aber studirt werden mußte,
denn so erforderte es der moderne Strebensdünkel, wonach der Sohn immer
etwas „Höheres" werden muß als der Vater; und so blieb denn nur die Me¬
dizin übrig; denn die ist zugleich ein „Brotstudium" — das Wort erregt schon
Grauen—, und verdienen soll der Junge etwas, sobald er fertig ist. Also:
es wird Medizin studirt, und zwar mit allem Eifer, denn das medizinische
Studium fesselt jeden mit dem Reiz des täglich Neuen und Interessanten.
Die Examina werden gemacht, mit „genügend" eben bestanden, und der Mensch-
heitsbeglücker ist fertig. So stehen sie dann zu Hunderten da, und nun —
beginnen die Enttäuschungen. Nach zwei Jahren aber — besondre Glücks¬
fälle ausgenommen — ist der junge Arzt so unzufrieden mit seiner ganzen
Laufbahn, so abhold den unvermeidlichen Mühen seines schweren Berufs, daß
er oft die Stunde verwünscht, wo er den Entschluß gefaßt hat, Mediziner zu
werden.

Ein Teil der Schuld an diesen Zuständen liegt unzweifelhaft an unsrer
heutigen höhern Schulbildung. Wenn — dank unserm Einjährigfreiwilligen¬
wesen — die Arbeiten immer mehr herabgesetzt, die Versetzungen immer milder,
die Prüfungen immer leichter gemacht werden, so ermutigt das natürlich immer
mehr Unbegabte, die Schule zu besuchen, und zwar bis zu Ende, „damit ihnen
die Welt offen stehe." Ich kaun hier auf diese traurigen Verhältnisse nicht
näher eingehen, aber ich glaube, daß sie dazu beigetragen haben, den Bildnngs-
dünkel zu steigern und das geistige Proletariat zu vermehren.

Dann aber können die Eltern nicht dringend genug davor gewarnt werden,
bei der Berufswahl der Söhne diesen allzu freie Hand zu lassen. Sehr oft
weiß ein neunzehnjähriger junger Mensch gar nicht, was er werden soll.
Sorgfältigste Beobachtung der Neigungen und Lieblingsbeschäftigungen des
Sohnes ist eine der Hauptpflichteu unsrer Erziehung; sie ist freilich nur mög¬
lich bei dem — heute so seltnen — innigen Zusammenleben der Kinder mit
den Eltern.

Vor allem der ärztliche Beruf erfordert bestimmte, aber bei sorgfältiger
Erziehung deutlich zu erkennende Anlagen. Nicht darauf kommt es an, daß
der junge Mann sich getraut, eine Leiche anzufassen, oder daß er Blut fließen
sehen kann: gerade das findet sich später bei einiger Willenskraft auch bei


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[0422] Das medizinische Studium Der einzig richtige Weg aber dürfte der sein, am Anfang anzufangen, d. h. einmal zuzusehen, wer Medizin studirt, und wie sie studirt wird, und ob nicht hierbei manches faul ist. Das scheint man auch in weitern Kreisen ein¬ gesehen zu haben; vor kurzem liefen Gerüchte durch die Presse von einschnei¬ denden Veränderungen, die im medizinischen Studium bevorstehen sollen. Wer studirt heute Medizin? Ein großer Haufe von jungen Leuten, die nichts besseres anzufangen gewußt haben, nachdem gegen alle andern Studien Bedenken erhoben worden waren: zur Theologie war keine Neigung, das Lehr¬ fach war zu überfüllt, Jurisprudenz zu langwierig. Aber studirt werden mußte, denn so erforderte es der moderne Strebensdünkel, wonach der Sohn immer etwas „Höheres" werden muß als der Vater; und so blieb denn nur die Me¬ dizin übrig; denn die ist zugleich ein „Brotstudium" — das Wort erregt schon Grauen—, und verdienen soll der Junge etwas, sobald er fertig ist. Also: es wird Medizin studirt, und zwar mit allem Eifer, denn das medizinische Studium fesselt jeden mit dem Reiz des täglich Neuen und Interessanten. Die Examina werden gemacht, mit „genügend" eben bestanden, und der Mensch- heitsbeglücker ist fertig. So stehen sie dann zu Hunderten da, und nun — beginnen die Enttäuschungen. Nach zwei Jahren aber — besondre Glücks¬ fälle ausgenommen — ist der junge Arzt so unzufrieden mit seiner ganzen Laufbahn, so abhold den unvermeidlichen Mühen seines schweren Berufs, daß er oft die Stunde verwünscht, wo er den Entschluß gefaßt hat, Mediziner zu werden. Ein Teil der Schuld an diesen Zuständen liegt unzweifelhaft an unsrer heutigen höhern Schulbildung. Wenn — dank unserm Einjährigfreiwilligen¬ wesen — die Arbeiten immer mehr herabgesetzt, die Versetzungen immer milder, die Prüfungen immer leichter gemacht werden, so ermutigt das natürlich immer mehr Unbegabte, die Schule zu besuchen, und zwar bis zu Ende, „damit ihnen die Welt offen stehe." Ich kaun hier auf diese traurigen Verhältnisse nicht näher eingehen, aber ich glaube, daß sie dazu beigetragen haben, den Bildnngs- dünkel zu steigern und das geistige Proletariat zu vermehren. Dann aber können die Eltern nicht dringend genug davor gewarnt werden, bei der Berufswahl der Söhne diesen allzu freie Hand zu lassen. Sehr oft weiß ein neunzehnjähriger junger Mensch gar nicht, was er werden soll. Sorgfältigste Beobachtung der Neigungen und Lieblingsbeschäftigungen des Sohnes ist eine der Hauptpflichteu unsrer Erziehung; sie ist freilich nur mög¬ lich bei dem — heute so seltnen — innigen Zusammenleben der Kinder mit den Eltern. Vor allem der ärztliche Beruf erfordert bestimmte, aber bei sorgfältiger Erziehung deutlich zu erkennende Anlagen. Nicht darauf kommt es an, daß der junge Mann sich getraut, eine Leiche anzufassen, oder daß er Blut fließen sehen kann: gerade das findet sich später bei einiger Willenskraft auch bei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/422>, abgerufen am 11.05.2024.