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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Hebbel und Dedo Ludwig

Doch erklärt man bekanntlich eine Rasse auch wieder keineswegs voll¬
ständig durch die Einwirkungen der Naturumgebung, wie sie denn auch daun
noch nicht völlig in ihrem Wesen verständlich ist, wenn man ihre Geschichte
hinzuzieht; es bleibt ein dunkler Rest, den man wohl mit den Worten "das
Geheimnis des Blutes" umschreibt. Aber Natur und Geschichte sind doch
wichtige Faktoren, die nicht bloß bei dem ganzen Volksstamm, sondern auch
bei dem Einzelnen zur Erklärung seiner Art dienen können und müssen. Hebbel
darf nnn nicht einfach als Niedersachse aufgefaßt werden, er ist Dithmarse,
und das bedeutet beinahe soviel wie ein potenzirter Niedersachse. Man hat
die Dithmarsen, die Bewohner des Landstrichs an der Nordsee zwischen Elbe- und
Eidermündnng, westlich von dem eben fertig gewordnen Nordostseekanal, früher
vielfach für Friesen gehalten, aber das war falsch; die Dithmarsen sind einer
der drei nordalbingischen Sachsenstämme, und was sich von Friesen im Lande
findet, ist später eingewandert, anch hauptsächlich nur in die Marsch. Meldorf
aber, woher Friedrich Hebbels Vater stammte, und wo die Familie Hebbel in
kleinen Verhältnissen heute noch fortlebt, liegt auf einer Geesthalbinsel, war
lange vor der Frieseneinwandrnng Hauptort des Landes und hängt noch heute
mehr mit der Geest als mit der Marsch zusammen; auch weist der Dichter
wie seine Familie den sächsischen Typus auf. Schleswig-Holstein bildet jedoch
auch ethnographisch augenscheinlich den Übergang Deutschlands zum skandi¬
navischen Norden, seine Volksstämme haben unzweifelhaft schon allerlei nor¬
disches in ihrem Wesen (was einem nicht entgeht, wenn man z. B. Storms
Novellen mit dänischen und norwegischen Dichtungen vergleicht), und besonders
bei den Dithmarsen hängt das eng mit dem Altgermanischen, von Urzeiten
her im Stamme bewahrten zusammen. Hier ist die christlich-mittelalterliche
Kultur später und unvollständiger eingedrungen als anderswo in Deutschland,
hat die Herrschaft der Hierarchie und des Lehnswesens nie zu begründen, See¬
raub, Blutrache, Eideshilfe und andre barbarische Sitten und Gewohnheiten
bis zum Anbruch der neuen Zeit nicht auszurotten vermocht. Fest auf alter,
in zahllosen Kämpfen mit habgierigen Feinden und dem grimmen Meer ge¬
wonnener und bewahrter Volksfreiheit und -tüchtigkeit begründet, hat die
Banernrepublik der Dithmarsen bis über die Reformationszeit hinaus bestanden,
große Siegestage gesehen und ist dann ruhmvoll untergegangen. Erst seitdem
ist Dithmarsen ganz allmählich in den Kreis der allgemeinen deutscheu Kultur
eingetreten nud noch bis in die Mitte unsers Jahrhunderts ein Verlorner
Winkel deutschen Landes gewesen, wie man das ans Klaus Groths wenig
bekannter, aber sehr schätzenswerter plattdeutscher Prosa deutlich ersehen kann.
Aber der Volkseigenart und Volkskraft ist das zu gute gekommen, und den
oft hochfahrenden, aber nicht ""begründeten Stolz und den Trotz der Dith¬
marsen, ihre nordische Phantasie, ihren Ernst und ihre Strenge, ihre Schwer¬
fälligkeit und ihre Neigung zur Grübelei wie ihre jäh ausbrechende Leiden-


Friedrich Hebbel und Dedo Ludwig

Doch erklärt man bekanntlich eine Rasse auch wieder keineswegs voll¬
ständig durch die Einwirkungen der Naturumgebung, wie sie denn auch daun
noch nicht völlig in ihrem Wesen verständlich ist, wenn man ihre Geschichte
hinzuzieht; es bleibt ein dunkler Rest, den man wohl mit den Worten „das
Geheimnis des Blutes" umschreibt. Aber Natur und Geschichte sind doch
wichtige Faktoren, die nicht bloß bei dem ganzen Volksstamm, sondern auch
bei dem Einzelnen zur Erklärung seiner Art dienen können und müssen. Hebbel
darf nnn nicht einfach als Niedersachse aufgefaßt werden, er ist Dithmarse,
und das bedeutet beinahe soviel wie ein potenzirter Niedersachse. Man hat
die Dithmarsen, die Bewohner des Landstrichs an der Nordsee zwischen Elbe- und
Eidermündnng, westlich von dem eben fertig gewordnen Nordostseekanal, früher
vielfach für Friesen gehalten, aber das war falsch; die Dithmarsen sind einer
der drei nordalbingischen Sachsenstämme, und was sich von Friesen im Lande
findet, ist später eingewandert, anch hauptsächlich nur in die Marsch. Meldorf
aber, woher Friedrich Hebbels Vater stammte, und wo die Familie Hebbel in
kleinen Verhältnissen heute noch fortlebt, liegt auf einer Geesthalbinsel, war
lange vor der Frieseneinwandrnng Hauptort des Landes und hängt noch heute
mehr mit der Geest als mit der Marsch zusammen; auch weist der Dichter
wie seine Familie den sächsischen Typus auf. Schleswig-Holstein bildet jedoch
auch ethnographisch augenscheinlich den Übergang Deutschlands zum skandi¬
navischen Norden, seine Volksstämme haben unzweifelhaft schon allerlei nor¬
disches in ihrem Wesen (was einem nicht entgeht, wenn man z. B. Storms
Novellen mit dänischen und norwegischen Dichtungen vergleicht), und besonders
bei den Dithmarsen hängt das eng mit dem Altgermanischen, von Urzeiten
her im Stamme bewahrten zusammen. Hier ist die christlich-mittelalterliche
Kultur später und unvollständiger eingedrungen als anderswo in Deutschland,
hat die Herrschaft der Hierarchie und des Lehnswesens nie zu begründen, See¬
raub, Blutrache, Eideshilfe und andre barbarische Sitten und Gewohnheiten
bis zum Anbruch der neuen Zeit nicht auszurotten vermocht. Fest auf alter,
in zahllosen Kämpfen mit habgierigen Feinden und dem grimmen Meer ge¬
wonnener und bewahrter Volksfreiheit und -tüchtigkeit begründet, hat die
Banernrepublik der Dithmarsen bis über die Reformationszeit hinaus bestanden,
große Siegestage gesehen und ist dann ruhmvoll untergegangen. Erst seitdem
ist Dithmarsen ganz allmählich in den Kreis der allgemeinen deutscheu Kultur
eingetreten nud noch bis in die Mitte unsers Jahrhunderts ein Verlorner
Winkel deutschen Landes gewesen, wie man das ans Klaus Groths wenig
bekannter, aber sehr schätzenswerter plattdeutscher Prosa deutlich ersehen kann.
Aber der Volkseigenart und Volkskraft ist das zu gute gekommen, und den
oft hochfahrenden, aber nicht «„begründeten Stolz und den Trotz der Dith¬
marsen, ihre nordische Phantasie, ihren Ernst und ihre Strenge, ihre Schwer¬
fälligkeit und ihre Neigung zur Grübelei wie ihre jäh ausbrechende Leiden-


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[0043] Friedrich Hebbel und Dedo Ludwig Doch erklärt man bekanntlich eine Rasse auch wieder keineswegs voll¬ ständig durch die Einwirkungen der Naturumgebung, wie sie denn auch daun noch nicht völlig in ihrem Wesen verständlich ist, wenn man ihre Geschichte hinzuzieht; es bleibt ein dunkler Rest, den man wohl mit den Worten „das Geheimnis des Blutes" umschreibt. Aber Natur und Geschichte sind doch wichtige Faktoren, die nicht bloß bei dem ganzen Volksstamm, sondern auch bei dem Einzelnen zur Erklärung seiner Art dienen können und müssen. Hebbel darf nnn nicht einfach als Niedersachse aufgefaßt werden, er ist Dithmarse, und das bedeutet beinahe soviel wie ein potenzirter Niedersachse. Man hat die Dithmarsen, die Bewohner des Landstrichs an der Nordsee zwischen Elbe- und Eidermündnng, westlich von dem eben fertig gewordnen Nordostseekanal, früher vielfach für Friesen gehalten, aber das war falsch; die Dithmarsen sind einer der drei nordalbingischen Sachsenstämme, und was sich von Friesen im Lande findet, ist später eingewandert, anch hauptsächlich nur in die Marsch. Meldorf aber, woher Friedrich Hebbels Vater stammte, und wo die Familie Hebbel in kleinen Verhältnissen heute noch fortlebt, liegt auf einer Geesthalbinsel, war lange vor der Frieseneinwandrnng Hauptort des Landes und hängt noch heute mehr mit der Geest als mit der Marsch zusammen; auch weist der Dichter wie seine Familie den sächsischen Typus auf. Schleswig-Holstein bildet jedoch auch ethnographisch augenscheinlich den Übergang Deutschlands zum skandi¬ navischen Norden, seine Volksstämme haben unzweifelhaft schon allerlei nor¬ disches in ihrem Wesen (was einem nicht entgeht, wenn man z. B. Storms Novellen mit dänischen und norwegischen Dichtungen vergleicht), und besonders bei den Dithmarsen hängt das eng mit dem Altgermanischen, von Urzeiten her im Stamme bewahrten zusammen. Hier ist die christlich-mittelalterliche Kultur später und unvollständiger eingedrungen als anderswo in Deutschland, hat die Herrschaft der Hierarchie und des Lehnswesens nie zu begründen, See¬ raub, Blutrache, Eideshilfe und andre barbarische Sitten und Gewohnheiten bis zum Anbruch der neuen Zeit nicht auszurotten vermocht. Fest auf alter, in zahllosen Kämpfen mit habgierigen Feinden und dem grimmen Meer ge¬ wonnener und bewahrter Volksfreiheit und -tüchtigkeit begründet, hat die Banernrepublik der Dithmarsen bis über die Reformationszeit hinaus bestanden, große Siegestage gesehen und ist dann ruhmvoll untergegangen. Erst seitdem ist Dithmarsen ganz allmählich in den Kreis der allgemeinen deutscheu Kultur eingetreten nud noch bis in die Mitte unsers Jahrhunderts ein Verlorner Winkel deutschen Landes gewesen, wie man das ans Klaus Groths wenig bekannter, aber sehr schätzenswerter plattdeutscher Prosa deutlich ersehen kann. Aber der Volkseigenart und Volkskraft ist das zu gute gekommen, und den oft hochfahrenden, aber nicht «„begründeten Stolz und den Trotz der Dith¬ marsen, ihre nordische Phantasie, ihren Ernst und ihre Strenge, ihre Schwer¬ fälligkeit und ihre Neigung zur Grübelei wie ihre jäh ausbrechende Leiden-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/43>, abgerufen am 12.05.2024.