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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Die Sozialdemokratie und die englischen Parlamentswahlen

unternehmen. Bei den Parlamentswahlen des Jahres 1895 aber wurden in
38 Wahlkreisen 64480 Stimmen für die Sozialdemokratie abgegeben. Der
Stimmenzuwachs betrügt also innerhalb dreier Jahre 133 Prozent.

Die Zahl ihrer Mandate hat die englische Sozialdemokratie allerdings
nicht vermehrt. Im Jahre 1892 sind zwei Sozialdemokraten, nümlich John
Burns und Keir Hardie, in das englische Parlament eingetreten. Bei den
neuesten Wahlen sollen nach den Zeitungen wieder zwei Sozialdemokraten, von
denen einer John Burns ist, gewählt worden sein. Wer der andre sein soll,
ist mir nicht bekannt. Keir Hardie ist jedenfalls in dem Wahlkampfe unter¬
legen. Nach den ?adian Uf>of für den August 1895 wäre sogar John Burns
das einzige sozialdemokratische Mitglied des neuen Unterhauses. Hätte die
englische Sozialdemokratie die Zahl ihrer Mandate in demselben Verhältnis
vermehrt wie die Zahl ihrer Stimmen, so müßte sie es wenigstens auf vier >
Mandate gebracht haben.

Übrigens haben die Führer der englischen Sozialdemokratie gar nicht er¬
wartet, daß ihnen eine nennenswerte Zahl von Wahlkreisen zufalle" würde.
Vielmehr hat Keir Hardie im vorigen Jahre prophezeit, daß die "Unabhängige
Arbeiterpartei," wenn auch nicht bei der nächsten, so doch bei der übernächsten
Wahl zwanzig Sozialdemokraten in das Unterhaus senden werde. Sie würden
also für diesmal mit etwa zehn Mandaten wohl zufrieden gewesen sein. Das
thatsächliche Ergebnis der Wahlen ist ohne Zweifel für alle Führer der eng¬
lischen Sozialdemokratie eine Enttäuschung.

Aber die Stärke einer nen entstehenden politischen Partei muß mehr nach
der Zahl ihrer Wähler als nach der Zahl ihrer Mandate berechnet werden.
Mit zwanzig Sitzen würde die englische Sozialdemokratie in diesem Unterhause,
dessen herrschende Partei eine Mehrheit von 152 Stimmen hat, noch gar nichts
bedeute". Überhaupt wird es gute Weile haben, bis die Sozialdemokratie von
den 670 Sitzen des Unterhauses so viele inne hat, daß sie einen entscheidenden
Einfluß auf die Gesetzgebung gewinnt. Aber die 64480 Stimmen überzeugter
Sozialdemokraten, die den lockenden sozialpolitischen Versprechungen der Unionisten
wie der Liberalen einen Korb gegeben haben, fallen dennoch ins Gewicht. Sie
geben Zeugnis davon, daß die Sozialdemokratie zur Zeit in England in einer
reißend schnellen Vermehrung begriffen ist, und daß sie in achtunddreißig Wahl¬
kreisen schon eigne Kandidaten aufzustellen vermag. Vermehrte sich die eng¬
lische Sozialdemokratie in demselben Verhältnis wie seit 1892 auch in Zukunft,
so würde die Gesamtzahl ihrer Stimmen am Ende der neuen Legislatur¬
periode, also in sieben Jahren, über 400000 Stimmen betragen. Dann aber
würde es ihr auch an einer größern Zahl von Sitzen im Unterhause uicht fehlen.

Die Entstehungsperiode der englischen Sozialdemokratie ist noch nicht
beendet, noch haben sich die verschiednen Richtungen und Persönlichkeiten nicht
zu einer einzigen Partei zusammengeschlossen, und doch haben wir in den Er-


Die Sozialdemokratie und die englischen Parlamentswahlen

unternehmen. Bei den Parlamentswahlen des Jahres 1895 aber wurden in
38 Wahlkreisen 64480 Stimmen für die Sozialdemokratie abgegeben. Der
Stimmenzuwachs betrügt also innerhalb dreier Jahre 133 Prozent.

Die Zahl ihrer Mandate hat die englische Sozialdemokratie allerdings
nicht vermehrt. Im Jahre 1892 sind zwei Sozialdemokraten, nümlich John
Burns und Keir Hardie, in das englische Parlament eingetreten. Bei den
neuesten Wahlen sollen nach den Zeitungen wieder zwei Sozialdemokraten, von
denen einer John Burns ist, gewählt worden sein. Wer der andre sein soll,
ist mir nicht bekannt. Keir Hardie ist jedenfalls in dem Wahlkampfe unter¬
legen. Nach den ?adian Uf>of für den August 1895 wäre sogar John Burns
das einzige sozialdemokratische Mitglied des neuen Unterhauses. Hätte die
englische Sozialdemokratie die Zahl ihrer Mandate in demselben Verhältnis
vermehrt wie die Zahl ihrer Stimmen, so müßte sie es wenigstens auf vier >
Mandate gebracht haben.

Übrigens haben die Führer der englischen Sozialdemokratie gar nicht er¬
wartet, daß ihnen eine nennenswerte Zahl von Wahlkreisen zufalle« würde.
Vielmehr hat Keir Hardie im vorigen Jahre prophezeit, daß die „Unabhängige
Arbeiterpartei," wenn auch nicht bei der nächsten, so doch bei der übernächsten
Wahl zwanzig Sozialdemokraten in das Unterhaus senden werde. Sie würden
also für diesmal mit etwa zehn Mandaten wohl zufrieden gewesen sein. Das
thatsächliche Ergebnis der Wahlen ist ohne Zweifel für alle Führer der eng¬
lischen Sozialdemokratie eine Enttäuschung.

Aber die Stärke einer nen entstehenden politischen Partei muß mehr nach
der Zahl ihrer Wähler als nach der Zahl ihrer Mandate berechnet werden.
Mit zwanzig Sitzen würde die englische Sozialdemokratie in diesem Unterhause,
dessen herrschende Partei eine Mehrheit von 152 Stimmen hat, noch gar nichts
bedeute». Überhaupt wird es gute Weile haben, bis die Sozialdemokratie von
den 670 Sitzen des Unterhauses so viele inne hat, daß sie einen entscheidenden
Einfluß auf die Gesetzgebung gewinnt. Aber die 64480 Stimmen überzeugter
Sozialdemokraten, die den lockenden sozialpolitischen Versprechungen der Unionisten
wie der Liberalen einen Korb gegeben haben, fallen dennoch ins Gewicht. Sie
geben Zeugnis davon, daß die Sozialdemokratie zur Zeit in England in einer
reißend schnellen Vermehrung begriffen ist, und daß sie in achtunddreißig Wahl¬
kreisen schon eigne Kandidaten aufzustellen vermag. Vermehrte sich die eng¬
lische Sozialdemokratie in demselben Verhältnis wie seit 1892 auch in Zukunft,
so würde die Gesamtzahl ihrer Stimmen am Ende der neuen Legislatur¬
periode, also in sieben Jahren, über 400000 Stimmen betragen. Dann aber
würde es ihr auch an einer größern Zahl von Sitzen im Unterhause uicht fehlen.

Die Entstehungsperiode der englischen Sozialdemokratie ist noch nicht
beendet, noch haben sich die verschiednen Richtungen und Persönlichkeiten nicht
zu einer einzigen Partei zusammengeschlossen, und doch haben wir in den Er-


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[0450] Die Sozialdemokratie und die englischen Parlamentswahlen unternehmen. Bei den Parlamentswahlen des Jahres 1895 aber wurden in 38 Wahlkreisen 64480 Stimmen für die Sozialdemokratie abgegeben. Der Stimmenzuwachs betrügt also innerhalb dreier Jahre 133 Prozent. Die Zahl ihrer Mandate hat die englische Sozialdemokratie allerdings nicht vermehrt. Im Jahre 1892 sind zwei Sozialdemokraten, nümlich John Burns und Keir Hardie, in das englische Parlament eingetreten. Bei den neuesten Wahlen sollen nach den Zeitungen wieder zwei Sozialdemokraten, von denen einer John Burns ist, gewählt worden sein. Wer der andre sein soll, ist mir nicht bekannt. Keir Hardie ist jedenfalls in dem Wahlkampfe unter¬ legen. Nach den ?adian Uf>of für den August 1895 wäre sogar John Burns das einzige sozialdemokratische Mitglied des neuen Unterhauses. Hätte die englische Sozialdemokratie die Zahl ihrer Mandate in demselben Verhältnis vermehrt wie die Zahl ihrer Stimmen, so müßte sie es wenigstens auf vier > Mandate gebracht haben. Übrigens haben die Führer der englischen Sozialdemokratie gar nicht er¬ wartet, daß ihnen eine nennenswerte Zahl von Wahlkreisen zufalle« würde. Vielmehr hat Keir Hardie im vorigen Jahre prophezeit, daß die „Unabhängige Arbeiterpartei," wenn auch nicht bei der nächsten, so doch bei der übernächsten Wahl zwanzig Sozialdemokraten in das Unterhaus senden werde. Sie würden also für diesmal mit etwa zehn Mandaten wohl zufrieden gewesen sein. Das thatsächliche Ergebnis der Wahlen ist ohne Zweifel für alle Führer der eng¬ lischen Sozialdemokratie eine Enttäuschung. Aber die Stärke einer nen entstehenden politischen Partei muß mehr nach der Zahl ihrer Wähler als nach der Zahl ihrer Mandate berechnet werden. Mit zwanzig Sitzen würde die englische Sozialdemokratie in diesem Unterhause, dessen herrschende Partei eine Mehrheit von 152 Stimmen hat, noch gar nichts bedeute». Überhaupt wird es gute Weile haben, bis die Sozialdemokratie von den 670 Sitzen des Unterhauses so viele inne hat, daß sie einen entscheidenden Einfluß auf die Gesetzgebung gewinnt. Aber die 64480 Stimmen überzeugter Sozialdemokraten, die den lockenden sozialpolitischen Versprechungen der Unionisten wie der Liberalen einen Korb gegeben haben, fallen dennoch ins Gewicht. Sie geben Zeugnis davon, daß die Sozialdemokratie zur Zeit in England in einer reißend schnellen Vermehrung begriffen ist, und daß sie in achtunddreißig Wahl¬ kreisen schon eigne Kandidaten aufzustellen vermag. Vermehrte sich die eng¬ lische Sozialdemokratie in demselben Verhältnis wie seit 1892 auch in Zukunft, so würde die Gesamtzahl ihrer Stimmen am Ende der neuen Legislatur¬ periode, also in sieben Jahren, über 400000 Stimmen betragen. Dann aber würde es ihr auch an einer größern Zahl von Sitzen im Unterhause uicht fehlen. Die Entstehungsperiode der englischen Sozialdemokratie ist noch nicht beendet, noch haben sich die verschiednen Richtungen und Persönlichkeiten nicht zu einer einzigen Partei zusammengeschlossen, und doch haben wir in den Er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/450>, abgerufen am 13.05.2024.