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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Zwei Vorrechte der Besitzenden im Rechtsverkehr

Er kann in allen Fällen beanspruchen, daß der Erlös der von andern Glcin-
ln'gern gepfändeten Habe des Mieters zunächst zur Befriedigung für alle gegen¬
wärtigen oder etwa zukünftig entstehenden Forderungen ans dem Mietverträge
verwendet werde, also auch für die Gesamtsumme des später etwa fällig
werdenden Mietzinses, wenn der Vertrag auf ein Jahrzehnt abgeschlossen ist,
und für die Rückstände, wenn der regelmäßig in vierteljährlichen Raten
zählbare Mietzins ein ganzes Jahr nicht eingefordert worden ist. Schuster,
Schneider, Bueler und Fleischer, die dem Mieter Kleidung und Nahrung ge¬
währt haben, können zwar des Mieters Habe pfänden und versteigern lassen,
aber von dem Erlös erhalten sie nichts; der wird an das Gericht abgeliefert
und ist von dem Gericht dem Vermieter sofort zu zahlen, soweit der Mietzins
rückständig ist; soweit er noch nicht fällig ist, bleibt der Erlös beim Gericht
liegen, um den Vermieter wegen der etwa später noch entstehenden Ansprüche
auf Mietzins zu sicher". Stehen gar Vermieter und Mieter mit einander im
Vnnde, so macht der Vermieter seinen Anspruch, vor andern befriedigt zu
werden, geradezu nnr im Interesse des Mieters geltend. Denn die Erfahrung
lehrt, daß der Gläubiger vou der Versteigerung absieht und die Pfändung
aufhebt, wenn er sich vergegenwärtigt, daß der Erlös doch keinesfalls an ihn,
den pfändenden Gläubiger, sondern nur an den Vermieter füllt. Das Ein¬
treten des Vermieters hat also praktisch den Erfolg, daß die Pfünduug auf¬
gehoben wird, als ob sie gar uicht erfolgt wäre, sodaß sich der böswillige
Schuldner die Befriedigung seiner Gläubiger einfach erspart, indem er den
Vermieter veranlaßt, dem Gläubiger anzuzeigen, daß eine Versteigerung keinen
Erfolg für ihn haben würde.

Vergeblich sucht man in den Motiven des Entwurfs zum bürgerlichen
Gesetzbuch nach einer Begründung für ein so schwerwiegendes Vorrecht des
Vermieters; sie verweisen lediglich auf das bestehende Recht, das diese Satzung
enthalte, sodaß eine Forterbung auf die künftigen Geschlechter angemessen sei.

Aber schlimmer noch als die Benachteiligung einzelner Gläubiger ist die
Wirkung dieses Vorrechts für die Allgemeinheit. Denn da der Vermieter
regelmüßig der Hauseigentümer ist, so ist sein Vorrecht eben ein Vorrecht des
Besitzenden. Die Handwerker, die dnrch ihre Arbeit den Lebensunterhalt des
Mieters besorgt haben, werden es niemals begreiflich finden können, warum
eine aus einer nichtproduktivcn Leistung eines reichen Hauswirth hervorgegangne
Forderung den Vorzug vor andern Ansprüchen haben soll. Es handelt sich
hier nicht um eine unberechtigte Begehrlichkeit der Besitzlosen, sondern um das
niederdrückende Bewußtsein, daß der Besitzende als solcher ein Vorrecht vor
den Besitzlosen genießt. Und noch in andrer Richtung hat dieses Vorrecht
einen ungünstigen Einfluß: die wirtschaftliche Selbstäudigmachuug vou Leuten,
die zu schwach sind, wirtschaftlich selbständig zu sein. Dem "jungen Anfänger,"
der sich trotz ungenügender Mittel und mangelhafter Kenntnisse entschließt,


Zwei Vorrechte der Besitzenden im Rechtsverkehr

Er kann in allen Fällen beanspruchen, daß der Erlös der von andern Glcin-
ln'gern gepfändeten Habe des Mieters zunächst zur Befriedigung für alle gegen¬
wärtigen oder etwa zukünftig entstehenden Forderungen ans dem Mietverträge
verwendet werde, also auch für die Gesamtsumme des später etwa fällig
werdenden Mietzinses, wenn der Vertrag auf ein Jahrzehnt abgeschlossen ist,
und für die Rückstände, wenn der regelmäßig in vierteljährlichen Raten
zählbare Mietzins ein ganzes Jahr nicht eingefordert worden ist. Schuster,
Schneider, Bueler und Fleischer, die dem Mieter Kleidung und Nahrung ge¬
währt haben, können zwar des Mieters Habe pfänden und versteigern lassen,
aber von dem Erlös erhalten sie nichts; der wird an das Gericht abgeliefert
und ist von dem Gericht dem Vermieter sofort zu zahlen, soweit der Mietzins
rückständig ist; soweit er noch nicht fällig ist, bleibt der Erlös beim Gericht
liegen, um den Vermieter wegen der etwa später noch entstehenden Ansprüche
auf Mietzins zu sicher». Stehen gar Vermieter und Mieter mit einander im
Vnnde, so macht der Vermieter seinen Anspruch, vor andern befriedigt zu
werden, geradezu nnr im Interesse des Mieters geltend. Denn die Erfahrung
lehrt, daß der Gläubiger vou der Versteigerung absieht und die Pfändung
aufhebt, wenn er sich vergegenwärtigt, daß der Erlös doch keinesfalls an ihn,
den pfändenden Gläubiger, sondern nur an den Vermieter füllt. Das Ein¬
treten des Vermieters hat also praktisch den Erfolg, daß die Pfünduug auf¬
gehoben wird, als ob sie gar uicht erfolgt wäre, sodaß sich der böswillige
Schuldner die Befriedigung seiner Gläubiger einfach erspart, indem er den
Vermieter veranlaßt, dem Gläubiger anzuzeigen, daß eine Versteigerung keinen
Erfolg für ihn haben würde.

Vergeblich sucht man in den Motiven des Entwurfs zum bürgerlichen
Gesetzbuch nach einer Begründung für ein so schwerwiegendes Vorrecht des
Vermieters; sie verweisen lediglich auf das bestehende Recht, das diese Satzung
enthalte, sodaß eine Forterbung auf die künftigen Geschlechter angemessen sei.

Aber schlimmer noch als die Benachteiligung einzelner Gläubiger ist die
Wirkung dieses Vorrechts für die Allgemeinheit. Denn da der Vermieter
regelmüßig der Hauseigentümer ist, so ist sein Vorrecht eben ein Vorrecht des
Besitzenden. Die Handwerker, die dnrch ihre Arbeit den Lebensunterhalt des
Mieters besorgt haben, werden es niemals begreiflich finden können, warum
eine aus einer nichtproduktivcn Leistung eines reichen Hauswirth hervorgegangne
Forderung den Vorzug vor andern Ansprüchen haben soll. Es handelt sich
hier nicht um eine unberechtigte Begehrlichkeit der Besitzlosen, sondern um das
niederdrückende Bewußtsein, daß der Besitzende als solcher ein Vorrecht vor
den Besitzlosen genießt. Und noch in andrer Richtung hat dieses Vorrecht
einen ungünstigen Einfluß: die wirtschaftliche Selbstäudigmachuug vou Leuten,
die zu schwach sind, wirtschaftlich selbständig zu sein. Dem „jungen Anfänger,"
der sich trotz ungenügender Mittel und mangelhafter Kenntnisse entschließt,


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[0515] Zwei Vorrechte der Besitzenden im Rechtsverkehr Er kann in allen Fällen beanspruchen, daß der Erlös der von andern Glcin- ln'gern gepfändeten Habe des Mieters zunächst zur Befriedigung für alle gegen¬ wärtigen oder etwa zukünftig entstehenden Forderungen ans dem Mietverträge verwendet werde, also auch für die Gesamtsumme des später etwa fällig werdenden Mietzinses, wenn der Vertrag auf ein Jahrzehnt abgeschlossen ist, und für die Rückstände, wenn der regelmäßig in vierteljährlichen Raten zählbare Mietzins ein ganzes Jahr nicht eingefordert worden ist. Schuster, Schneider, Bueler und Fleischer, die dem Mieter Kleidung und Nahrung ge¬ währt haben, können zwar des Mieters Habe pfänden und versteigern lassen, aber von dem Erlös erhalten sie nichts; der wird an das Gericht abgeliefert und ist von dem Gericht dem Vermieter sofort zu zahlen, soweit der Mietzins rückständig ist; soweit er noch nicht fällig ist, bleibt der Erlös beim Gericht liegen, um den Vermieter wegen der etwa später noch entstehenden Ansprüche auf Mietzins zu sicher». Stehen gar Vermieter und Mieter mit einander im Vnnde, so macht der Vermieter seinen Anspruch, vor andern befriedigt zu werden, geradezu nnr im Interesse des Mieters geltend. Denn die Erfahrung lehrt, daß der Gläubiger vou der Versteigerung absieht und die Pfändung aufhebt, wenn er sich vergegenwärtigt, daß der Erlös doch keinesfalls an ihn, den pfändenden Gläubiger, sondern nur an den Vermieter füllt. Das Ein¬ treten des Vermieters hat also praktisch den Erfolg, daß die Pfünduug auf¬ gehoben wird, als ob sie gar uicht erfolgt wäre, sodaß sich der böswillige Schuldner die Befriedigung seiner Gläubiger einfach erspart, indem er den Vermieter veranlaßt, dem Gläubiger anzuzeigen, daß eine Versteigerung keinen Erfolg für ihn haben würde. Vergeblich sucht man in den Motiven des Entwurfs zum bürgerlichen Gesetzbuch nach einer Begründung für ein so schwerwiegendes Vorrecht des Vermieters; sie verweisen lediglich auf das bestehende Recht, das diese Satzung enthalte, sodaß eine Forterbung auf die künftigen Geschlechter angemessen sei. Aber schlimmer noch als die Benachteiligung einzelner Gläubiger ist die Wirkung dieses Vorrechts für die Allgemeinheit. Denn da der Vermieter regelmüßig der Hauseigentümer ist, so ist sein Vorrecht eben ein Vorrecht des Besitzenden. Die Handwerker, die dnrch ihre Arbeit den Lebensunterhalt des Mieters besorgt haben, werden es niemals begreiflich finden können, warum eine aus einer nichtproduktivcn Leistung eines reichen Hauswirth hervorgegangne Forderung den Vorzug vor andern Ansprüchen haben soll. Es handelt sich hier nicht um eine unberechtigte Begehrlichkeit der Besitzlosen, sondern um das niederdrückende Bewußtsein, daß der Besitzende als solcher ein Vorrecht vor den Besitzlosen genießt. Und noch in andrer Richtung hat dieses Vorrecht einen ungünstigen Einfluß: die wirtschaftliche Selbstäudigmachuug vou Leuten, die zu schwach sind, wirtschaftlich selbständig zu sein. Dem „jungen Anfänger," der sich trotz ungenügender Mittel und mangelhafter Kenntnisse entschließt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/515>, abgerufen am 11.05.2024.