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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Pädagogische Universitätsseminare

gewissenhaft auszubilden, wie dies mit den zukünftigen Volksschullehrern in
den Übungsschulen der Volksschulseminare geschieht.

Nehmen wir zunächst, um mit Lessing zu reden, "die Sache völlig, wie sie
liegt." Selbst dem blödesten Verstände leuchtet wohl ein, daß die Jugend nicht
unerzogen aufwachsen darf, und auch das ist eine unanfechtbare Thatsache,
daß in der großen Mehrzahl der Fälle die Erziehung jetzt nicht mehr allein
von den Eltern besorgt werden kann. Wie überall Teilung der Arbeit ein¬
getreten ist, so auch auf dem Gebiete der Erziehung. Die Erziehung der Kinder
ist ein Geschäft geworden, an dem neben den Eltern in der Regel noch andre
Personen mitzuwirken haben, und zwar ist das ein ganz notwendiges Ergebnis
des Kulturfortschritts. Die Verhältnisse, unter denen das Kind aufwächst,
sind eben heutzutage viel verwickelter geworden, und es will darum auch alles
umsichtiger bedacht sein als ehedem, sowohl die Unterrichtung des Kindes als
auch seine unmittelbare Führung. Die Unterrichtung des Kindes ist deshalb
viel schwieriger geworden, weil sich die Masse des Lehrgutes von Geschlecht
zu Geschlecht vergrößert, während doch der Tag für das Kind der Gegenwart
auch nicht mehr Stunden hat, als er für das Kind der Vergangenheit hatte;
daher hat sich eine größere Kunst der Verdichtung und der arbeitsparenden
Gruppirung des Stoffes als Notwendigkeit herausgestellt, und infolgedessen
hat sich auch die Kunst des Unterrichts, die Methode, in einer Weise entwickelt,
von der man vor dreißig Jahren noch nichts ahnte. Aber auch die unmittelbare
Führung des Kindes erfordert jetzt eine größere Kunst; denn die Steigerung
der Kultur mehrt auch die Gelegenheiten, wo die Seele des Kindes Schaden
leiden kann. Diese erschwerte Unterrichtung und Führung der Kinder können
die Eltern unmöglich noch "im Nebenamts" besorgen. Sie aber als ihr Haupt¬
geschäft anzusehen, dazu haben die meisten Eltern keine Zeit und auch kein
Geschick. Es heißt also, sich nach Helfern umzusehen. Aber mich die fremden
Erzieher, denen die Leitung von Kindern anvertraut werden soll, müssen eine
Anleitung -- und zwar eine systematische -- erhalten, wie zu erziehen ist.
Einzelne gottbegnadete Naturen wird es ja immer geben, die einer solchen
Anleitung nicht bedürfen, sondern mit dem sichern Instinkte des Genies ihren
Weg allein finden; aber auf die besten Köpfe sind allgemeine Maßregeln auch
nie berechnet, sondern auf die liebe Mittelmäßigkeit, die ja in allen Berufen
die große Masse bilden wird, und die darum uicht weniger unsre Achtung ver¬
dient, weil ihr geniale Begabung nicht als Angebinde mit in die Wiege gelegt
worden ist. Für sie darf jedenfalls eine solche Anleitung nicht fehlen.

Worin soll aber diese Anleitung bestehen? Offenbar wird sie sich auf die
Theorie wie auf die Praxis des Erziehers erstrecken müssen. Was heutzutage
alles zur Theorie des Erziehers gehört, soll nun hier nicht im einzelnen auf¬
geführt werden. Nur darauf sei hingewiesen, daß der zukünftige Erzieher,
wenn er sich gewissenhaft auf seinen Beruf vorbereiten will, schon beträchtliche


Pädagogische Universitätsseminare

gewissenhaft auszubilden, wie dies mit den zukünftigen Volksschullehrern in
den Übungsschulen der Volksschulseminare geschieht.

Nehmen wir zunächst, um mit Lessing zu reden, „die Sache völlig, wie sie
liegt." Selbst dem blödesten Verstände leuchtet wohl ein, daß die Jugend nicht
unerzogen aufwachsen darf, und auch das ist eine unanfechtbare Thatsache,
daß in der großen Mehrzahl der Fälle die Erziehung jetzt nicht mehr allein
von den Eltern besorgt werden kann. Wie überall Teilung der Arbeit ein¬
getreten ist, so auch auf dem Gebiete der Erziehung. Die Erziehung der Kinder
ist ein Geschäft geworden, an dem neben den Eltern in der Regel noch andre
Personen mitzuwirken haben, und zwar ist das ein ganz notwendiges Ergebnis
des Kulturfortschritts. Die Verhältnisse, unter denen das Kind aufwächst,
sind eben heutzutage viel verwickelter geworden, und es will darum auch alles
umsichtiger bedacht sein als ehedem, sowohl die Unterrichtung des Kindes als
auch seine unmittelbare Führung. Die Unterrichtung des Kindes ist deshalb
viel schwieriger geworden, weil sich die Masse des Lehrgutes von Geschlecht
zu Geschlecht vergrößert, während doch der Tag für das Kind der Gegenwart
auch nicht mehr Stunden hat, als er für das Kind der Vergangenheit hatte;
daher hat sich eine größere Kunst der Verdichtung und der arbeitsparenden
Gruppirung des Stoffes als Notwendigkeit herausgestellt, und infolgedessen
hat sich auch die Kunst des Unterrichts, die Methode, in einer Weise entwickelt,
von der man vor dreißig Jahren noch nichts ahnte. Aber auch die unmittelbare
Führung des Kindes erfordert jetzt eine größere Kunst; denn die Steigerung
der Kultur mehrt auch die Gelegenheiten, wo die Seele des Kindes Schaden
leiden kann. Diese erschwerte Unterrichtung und Führung der Kinder können
die Eltern unmöglich noch „im Nebenamts" besorgen. Sie aber als ihr Haupt¬
geschäft anzusehen, dazu haben die meisten Eltern keine Zeit und auch kein
Geschick. Es heißt also, sich nach Helfern umzusehen. Aber mich die fremden
Erzieher, denen die Leitung von Kindern anvertraut werden soll, müssen eine
Anleitung — und zwar eine systematische — erhalten, wie zu erziehen ist.
Einzelne gottbegnadete Naturen wird es ja immer geben, die einer solchen
Anleitung nicht bedürfen, sondern mit dem sichern Instinkte des Genies ihren
Weg allein finden; aber auf die besten Köpfe sind allgemeine Maßregeln auch
nie berechnet, sondern auf die liebe Mittelmäßigkeit, die ja in allen Berufen
die große Masse bilden wird, und die darum uicht weniger unsre Achtung ver¬
dient, weil ihr geniale Begabung nicht als Angebinde mit in die Wiege gelegt
worden ist. Für sie darf jedenfalls eine solche Anleitung nicht fehlen.

Worin soll aber diese Anleitung bestehen? Offenbar wird sie sich auf die
Theorie wie auf die Praxis des Erziehers erstrecken müssen. Was heutzutage
alles zur Theorie des Erziehers gehört, soll nun hier nicht im einzelnen auf¬
geführt werden. Nur darauf sei hingewiesen, daß der zukünftige Erzieher,
wenn er sich gewissenhaft auf seinen Beruf vorbereiten will, schon beträchtliche


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[0605] Pädagogische Universitätsseminare gewissenhaft auszubilden, wie dies mit den zukünftigen Volksschullehrern in den Übungsschulen der Volksschulseminare geschieht. Nehmen wir zunächst, um mit Lessing zu reden, „die Sache völlig, wie sie liegt." Selbst dem blödesten Verstände leuchtet wohl ein, daß die Jugend nicht unerzogen aufwachsen darf, und auch das ist eine unanfechtbare Thatsache, daß in der großen Mehrzahl der Fälle die Erziehung jetzt nicht mehr allein von den Eltern besorgt werden kann. Wie überall Teilung der Arbeit ein¬ getreten ist, so auch auf dem Gebiete der Erziehung. Die Erziehung der Kinder ist ein Geschäft geworden, an dem neben den Eltern in der Regel noch andre Personen mitzuwirken haben, und zwar ist das ein ganz notwendiges Ergebnis des Kulturfortschritts. Die Verhältnisse, unter denen das Kind aufwächst, sind eben heutzutage viel verwickelter geworden, und es will darum auch alles umsichtiger bedacht sein als ehedem, sowohl die Unterrichtung des Kindes als auch seine unmittelbare Führung. Die Unterrichtung des Kindes ist deshalb viel schwieriger geworden, weil sich die Masse des Lehrgutes von Geschlecht zu Geschlecht vergrößert, während doch der Tag für das Kind der Gegenwart auch nicht mehr Stunden hat, als er für das Kind der Vergangenheit hatte; daher hat sich eine größere Kunst der Verdichtung und der arbeitsparenden Gruppirung des Stoffes als Notwendigkeit herausgestellt, und infolgedessen hat sich auch die Kunst des Unterrichts, die Methode, in einer Weise entwickelt, von der man vor dreißig Jahren noch nichts ahnte. Aber auch die unmittelbare Führung des Kindes erfordert jetzt eine größere Kunst; denn die Steigerung der Kultur mehrt auch die Gelegenheiten, wo die Seele des Kindes Schaden leiden kann. Diese erschwerte Unterrichtung und Führung der Kinder können die Eltern unmöglich noch „im Nebenamts" besorgen. Sie aber als ihr Haupt¬ geschäft anzusehen, dazu haben die meisten Eltern keine Zeit und auch kein Geschick. Es heißt also, sich nach Helfern umzusehen. Aber mich die fremden Erzieher, denen die Leitung von Kindern anvertraut werden soll, müssen eine Anleitung — und zwar eine systematische — erhalten, wie zu erziehen ist. Einzelne gottbegnadete Naturen wird es ja immer geben, die einer solchen Anleitung nicht bedürfen, sondern mit dem sichern Instinkte des Genies ihren Weg allein finden; aber auf die besten Köpfe sind allgemeine Maßregeln auch nie berechnet, sondern auf die liebe Mittelmäßigkeit, die ja in allen Berufen die große Masse bilden wird, und die darum uicht weniger unsre Achtung ver¬ dient, weil ihr geniale Begabung nicht als Angebinde mit in die Wiege gelegt worden ist. Für sie darf jedenfalls eine solche Anleitung nicht fehlen. Worin soll aber diese Anleitung bestehen? Offenbar wird sie sich auf die Theorie wie auf die Praxis des Erziehers erstrecken müssen. Was heutzutage alles zur Theorie des Erziehers gehört, soll nun hier nicht im einzelnen auf¬ geführt werden. Nur darauf sei hingewiesen, daß der zukünftige Erzieher, wenn er sich gewissenhaft auf seinen Beruf vorbereiten will, schon beträchtliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/605>, abgerufen am 12.05.2024.