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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Der ewige Zude und der Teufel

Eggert (Stuttgart, Süddeutsche Verlagsbuchhandlung, 1894), verkörpert Ge¬
stalt und Schicksale des Vorläufers Christi, Johannes des Täufers, mit voller
poetischer Naivität, hält sich in der Charakteristik streng an die biblische Über¬
lieferung, entfaltet in der Schilderung, nach dem Vorbilde Byrons und Hamer-
lings, ein glänzendes Kolorit und im Gang der Erzählung eine gewisse
Plastik. Trotz dieser Vorzüge hinterläßt die Dichtung keinen tiefern Eindruck,
als die einfache, gewaltige Erzählung vom Ende des Täufers in den Evan¬
gelien. -- Eine formschöne und sinnige Dichtung tritt uns dagegen in dem dra¬
matischen Gedicht: Das hohe Lied von Rudolf Lothar (Wien, M. Engler
und Söhne, 1895) entgegen, das mit Heliogravüren nach Zeichnungen von
Max Levis verziert erschienen ist. Die Handlung des Gedichts spielt "auf
der Trümmerstütte des Tempels zu Jerusalem am Tage seiner Zerstörung
durch Titus." Ein römischer Centurio, der zunächst großmütig einen christ¬
lichen Knaben verschont, wird durch eine Rolle, die er im Schutt findet, eine
Handschrift des hohen Liedes, zum Nachdenken über die Liebe bewegt, er hat
eine Erscheinung, in der er zuerst der eignen alten Liebe, einer verlassenen
Geliebten aus den Albanerbergen bei Rom, gedenkt und ihre Stimme zu ver¬
nehmen glaubt. Nach und nach wandelt sich die Erscheinung der irdischen
Geliebten in die der Königin des Himmels, die ihm von einer andern, reinern
und höhern Liebe spricht als der, die unser Centurio gekannt und doch ver¬
leugnet hat. Sie erfüllt ihn mit der Sehnsucht nach dieser Liebe, mit so
heißer, unwiderstehlicher Sehnsucht, daß sich der römische Krieger, als der
christliche Knabe zu ihm zurückkehrt, getrieben fühlt, sein Genosse zu werden
und mit ihm als christlicher Wahrheitskünder und Liebesbote "den Weg des
Lebens zu den Toten" zu gehen. Die tiefste Wirkung der Dichtung beruht
in einer Stimmung, die leise, allmählich anschwellend, unsre Tage wieder zu
durchdringen anfängt, das Verlangen nach dem Opfertod für eine als heilig
und hehr erkannte Wahrheit. Unter der Liebe, die die Himmelskönigin dein
Centurio verkündet, wird die Mehrzahl der modernen Leser eine andre ver¬
stehen als die, für die die christlichen Märtyrer unter Nero und Diocletian
gestorben sind.

Aus all diesen so grundverschiedneu Dichtungen bleibt uns ein Gesamt-
eindruck zurück: die Gegenströmung gegen den brutalen Naturalismus, gegen
die ausschließliche Gegenwarts- und moderne Elendsschilderung ist im starken
Anwachsen begriffen, die Welt, wenigstens die deutsche Welt, ist der Darstellung
der nackten Wirklichkeit ohne tiefern Sinn müde. Was aus den zum Teil
krampfhaften Versuchen, sich dieser Enge zu entwinden, schließlich für die Dich¬
tung hervorgehen wird, müssen wir abwarten. Jedenfalls werden ernste
Litteraturfreunde gut thun, ihren Blick einmal auf die Keime zu wenden, die
sich in den besprochnen Dichtungen und ohne Zweifel noch in manchen andern
zeigen und regen.




Der ewige Zude und der Teufel

Eggert (Stuttgart, Süddeutsche Verlagsbuchhandlung, 1894), verkörpert Ge¬
stalt und Schicksale des Vorläufers Christi, Johannes des Täufers, mit voller
poetischer Naivität, hält sich in der Charakteristik streng an die biblische Über¬
lieferung, entfaltet in der Schilderung, nach dem Vorbilde Byrons und Hamer-
lings, ein glänzendes Kolorit und im Gang der Erzählung eine gewisse
Plastik. Trotz dieser Vorzüge hinterläßt die Dichtung keinen tiefern Eindruck,
als die einfache, gewaltige Erzählung vom Ende des Täufers in den Evan¬
gelien. — Eine formschöne und sinnige Dichtung tritt uns dagegen in dem dra¬
matischen Gedicht: Das hohe Lied von Rudolf Lothar (Wien, M. Engler
und Söhne, 1895) entgegen, das mit Heliogravüren nach Zeichnungen von
Max Levis verziert erschienen ist. Die Handlung des Gedichts spielt „auf
der Trümmerstütte des Tempels zu Jerusalem am Tage seiner Zerstörung
durch Titus." Ein römischer Centurio, der zunächst großmütig einen christ¬
lichen Knaben verschont, wird durch eine Rolle, die er im Schutt findet, eine
Handschrift des hohen Liedes, zum Nachdenken über die Liebe bewegt, er hat
eine Erscheinung, in der er zuerst der eignen alten Liebe, einer verlassenen
Geliebten aus den Albanerbergen bei Rom, gedenkt und ihre Stimme zu ver¬
nehmen glaubt. Nach und nach wandelt sich die Erscheinung der irdischen
Geliebten in die der Königin des Himmels, die ihm von einer andern, reinern
und höhern Liebe spricht als der, die unser Centurio gekannt und doch ver¬
leugnet hat. Sie erfüllt ihn mit der Sehnsucht nach dieser Liebe, mit so
heißer, unwiderstehlicher Sehnsucht, daß sich der römische Krieger, als der
christliche Knabe zu ihm zurückkehrt, getrieben fühlt, sein Genosse zu werden
und mit ihm als christlicher Wahrheitskünder und Liebesbote „den Weg des
Lebens zu den Toten" zu gehen. Die tiefste Wirkung der Dichtung beruht
in einer Stimmung, die leise, allmählich anschwellend, unsre Tage wieder zu
durchdringen anfängt, das Verlangen nach dem Opfertod für eine als heilig
und hehr erkannte Wahrheit. Unter der Liebe, die die Himmelskönigin dein
Centurio verkündet, wird die Mehrzahl der modernen Leser eine andre ver¬
stehen als die, für die die christlichen Märtyrer unter Nero und Diocletian
gestorben sind.

Aus all diesen so grundverschiedneu Dichtungen bleibt uns ein Gesamt-
eindruck zurück: die Gegenströmung gegen den brutalen Naturalismus, gegen
die ausschließliche Gegenwarts- und moderne Elendsschilderung ist im starken
Anwachsen begriffen, die Welt, wenigstens die deutsche Welt, ist der Darstellung
der nackten Wirklichkeit ohne tiefern Sinn müde. Was aus den zum Teil
krampfhaften Versuchen, sich dieser Enge zu entwinden, schließlich für die Dich¬
tung hervorgehen wird, müssen wir abwarten. Jedenfalls werden ernste
Litteraturfreunde gut thun, ihren Blick einmal auf die Keime zu wenden, die
sich in den besprochnen Dichtungen und ohne Zweifel noch in manchen andern
zeigen und regen.




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[0091] Der ewige Zude und der Teufel Eggert (Stuttgart, Süddeutsche Verlagsbuchhandlung, 1894), verkörpert Ge¬ stalt und Schicksale des Vorläufers Christi, Johannes des Täufers, mit voller poetischer Naivität, hält sich in der Charakteristik streng an die biblische Über¬ lieferung, entfaltet in der Schilderung, nach dem Vorbilde Byrons und Hamer- lings, ein glänzendes Kolorit und im Gang der Erzählung eine gewisse Plastik. Trotz dieser Vorzüge hinterläßt die Dichtung keinen tiefern Eindruck, als die einfache, gewaltige Erzählung vom Ende des Täufers in den Evan¬ gelien. — Eine formschöne und sinnige Dichtung tritt uns dagegen in dem dra¬ matischen Gedicht: Das hohe Lied von Rudolf Lothar (Wien, M. Engler und Söhne, 1895) entgegen, das mit Heliogravüren nach Zeichnungen von Max Levis verziert erschienen ist. Die Handlung des Gedichts spielt „auf der Trümmerstütte des Tempels zu Jerusalem am Tage seiner Zerstörung durch Titus." Ein römischer Centurio, der zunächst großmütig einen christ¬ lichen Knaben verschont, wird durch eine Rolle, die er im Schutt findet, eine Handschrift des hohen Liedes, zum Nachdenken über die Liebe bewegt, er hat eine Erscheinung, in der er zuerst der eignen alten Liebe, einer verlassenen Geliebten aus den Albanerbergen bei Rom, gedenkt und ihre Stimme zu ver¬ nehmen glaubt. Nach und nach wandelt sich die Erscheinung der irdischen Geliebten in die der Königin des Himmels, die ihm von einer andern, reinern und höhern Liebe spricht als der, die unser Centurio gekannt und doch ver¬ leugnet hat. Sie erfüllt ihn mit der Sehnsucht nach dieser Liebe, mit so heißer, unwiderstehlicher Sehnsucht, daß sich der römische Krieger, als der christliche Knabe zu ihm zurückkehrt, getrieben fühlt, sein Genosse zu werden und mit ihm als christlicher Wahrheitskünder und Liebesbote „den Weg des Lebens zu den Toten" zu gehen. Die tiefste Wirkung der Dichtung beruht in einer Stimmung, die leise, allmählich anschwellend, unsre Tage wieder zu durchdringen anfängt, das Verlangen nach dem Opfertod für eine als heilig und hehr erkannte Wahrheit. Unter der Liebe, die die Himmelskönigin dein Centurio verkündet, wird die Mehrzahl der modernen Leser eine andre ver¬ stehen als die, für die die christlichen Märtyrer unter Nero und Diocletian gestorben sind. Aus all diesen so grundverschiedneu Dichtungen bleibt uns ein Gesamt- eindruck zurück: die Gegenströmung gegen den brutalen Naturalismus, gegen die ausschließliche Gegenwarts- und moderne Elendsschilderung ist im starken Anwachsen begriffen, die Welt, wenigstens die deutsche Welt, ist der Darstellung der nackten Wirklichkeit ohne tiefern Sinn müde. Was aus den zum Teil krampfhaften Versuchen, sich dieser Enge zu entwinden, schließlich für die Dich¬ tung hervorgehen wird, müssen wir abwarten. Jedenfalls werden ernste Litteraturfreunde gut thun, ihren Blick einmal auf die Keime zu wenden, die sich in den besprochnen Dichtungen und ohne Zweifel noch in manchen andern zeigen und regen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/91>, abgerufen am 13.05.2024.