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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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politische Zeitbetrachtungen

Also wohin wir blicken, nirgends sehen wir ein dringliches Bedürfnis zu
neuen großen oder auch nur kleinen gesetzgeberischen Thaten. Wir haben vor
fünfundzwanzig Jahren geblutet und gerungen, um uns den Nationalstaat zu
begründen. Wir haben fünfundzwanzig Jahre lang angestrengt an dem innern
Ausbau des Reichs gearbeitet. Gönnen wir uns einmal weitere fünfund¬
zwanzig Jahre, um uns endlich auch einmal darin wohnlich einzurichten. Mau
hat sich daran gewöhnt, die Neichstagssessionen unfruchtbar zu schelten, wenn
nicht an ihrem Schlüsse so und soviel Hunderte oder tausende von Gesetzes¬
paragraphen aus dem Apparat herausfallen. Solche "unfruchtbare" Sessionen
aber gerade brauchen wir zur höchsten Not. Man klagt über die viele Zeit,
die der Reichstag auf die Etatsberatungen verschwende. Wir wünschen im
Gegenteil, daß der Reichstag fortfahre, bei dieser Gelegenheit den Reichskanzler
recht fleißig daran zu erinnern, daß er ihm für zweckmäßige und gerechte
Handhabung der bestehenden Gesetze, sür etwaige Fehler und Mißgriffe der
Bürenukratie, für Ausübung des kaiserlichen Aufsichtsrechtes gegenüber den
Einzelstaaten verantwortlich sei. Die bürgerlichen Parteien könnten der Sozial¬
demokratie viel Wind aus den Segeln nehmen, wenn sie auch ihrerseits wirklich
vorhandne Mißstände rückhaltlos rügen wollten. Auch dagegen ist nichts
einzuwenden, wenn sich der Reichstag in seinen Mußestunden damit beschäftigt,
Mittel und Wege, einzelnen Übelständen gesetzgeberisch abzuhelfen, zu erwägen.
Die Möglichkeit, Initiativanträge einzubringen, giebt ihm auch verfassungs¬
mäßig das Recht dazu. Nur soll er sich hüten, unreifen Plänen, nur ut
-Mlluiä köoissö via"zg.or, zur Gesetzeskraft zu verhelfen. Wir verweisen nur
ungern auf englische Einrichtungen. Aber die Methode, jeden wichtigern Schritt
der Gesetzgebung durch umfassende und sorgfältige, mit allen Bürgschaften der
Unparteilichkeit umgebne Erhebungen Vo5 königlichen oder parlamentarischen
Kommissionen vorzubereiten, sollten wir uns lieber heute als morgen an¬
eignen. Die beiden wichtigsten Fragen der Gegenwart: die Sorge für die
mittlern Stände, namentlich für die Landwirtschaft und das Handwerk, und die
Sorge für die arbeitenden Klassen können ohne eine gründliche Enquete
überhaupt nicht gelöst werden. So unendlich viel gerade über diese Fragen
geredet und geschrieben worden ist. so giebt es doch auch heute noch keinen
Menschen in Deutschland, der von der wirtschaftliche Lage dieser Berufs¬
klassen ein wirklich getreues und umfassendes Bild zu geben imstande wäre.
Hier liegt der Punkt, wo die Staatsgewalt in enger Fühlung mit der Wissen¬
schaft und möglichst bis zu jedem einzelnen im Volke herabsteigend ihre ganze
Kraft und Geschicklichkeit einsetzen sollte, nebenbei bemerkt, auch eine vortreff¬
liche Gelegenheit, den immer mehr verloren gehenden Zusammenhang zwischen
der Vüreaukratie und dem eigentlichen Volke wieder herzustellen. Mag sein,
daß Jahre vergehen, ehe diese Arbeit Früchte zu tragen beginnt. Aber wir
Deutschen haben doch nun schon an die tausend Jahre staatlichen Lebens hinter


politische Zeitbetrachtungen

Also wohin wir blicken, nirgends sehen wir ein dringliches Bedürfnis zu
neuen großen oder auch nur kleinen gesetzgeberischen Thaten. Wir haben vor
fünfundzwanzig Jahren geblutet und gerungen, um uns den Nationalstaat zu
begründen. Wir haben fünfundzwanzig Jahre lang angestrengt an dem innern
Ausbau des Reichs gearbeitet. Gönnen wir uns einmal weitere fünfund¬
zwanzig Jahre, um uns endlich auch einmal darin wohnlich einzurichten. Mau
hat sich daran gewöhnt, die Neichstagssessionen unfruchtbar zu schelten, wenn
nicht an ihrem Schlüsse so und soviel Hunderte oder tausende von Gesetzes¬
paragraphen aus dem Apparat herausfallen. Solche „unfruchtbare" Sessionen
aber gerade brauchen wir zur höchsten Not. Man klagt über die viele Zeit,
die der Reichstag auf die Etatsberatungen verschwende. Wir wünschen im
Gegenteil, daß der Reichstag fortfahre, bei dieser Gelegenheit den Reichskanzler
recht fleißig daran zu erinnern, daß er ihm für zweckmäßige und gerechte
Handhabung der bestehenden Gesetze, sür etwaige Fehler und Mißgriffe der
Bürenukratie, für Ausübung des kaiserlichen Aufsichtsrechtes gegenüber den
Einzelstaaten verantwortlich sei. Die bürgerlichen Parteien könnten der Sozial¬
demokratie viel Wind aus den Segeln nehmen, wenn sie auch ihrerseits wirklich
vorhandne Mißstände rückhaltlos rügen wollten. Auch dagegen ist nichts
einzuwenden, wenn sich der Reichstag in seinen Mußestunden damit beschäftigt,
Mittel und Wege, einzelnen Übelständen gesetzgeberisch abzuhelfen, zu erwägen.
Die Möglichkeit, Initiativanträge einzubringen, giebt ihm auch verfassungs¬
mäßig das Recht dazu. Nur soll er sich hüten, unreifen Plänen, nur ut
-Mlluiä köoissö via«zg.or, zur Gesetzeskraft zu verhelfen. Wir verweisen nur
ungern auf englische Einrichtungen. Aber die Methode, jeden wichtigern Schritt
der Gesetzgebung durch umfassende und sorgfältige, mit allen Bürgschaften der
Unparteilichkeit umgebne Erhebungen Vo5 königlichen oder parlamentarischen
Kommissionen vorzubereiten, sollten wir uns lieber heute als morgen an¬
eignen. Die beiden wichtigsten Fragen der Gegenwart: die Sorge für die
mittlern Stände, namentlich für die Landwirtschaft und das Handwerk, und die
Sorge für die arbeitenden Klassen können ohne eine gründliche Enquete
überhaupt nicht gelöst werden. So unendlich viel gerade über diese Fragen
geredet und geschrieben worden ist. so giebt es doch auch heute noch keinen
Menschen in Deutschland, der von der wirtschaftliche Lage dieser Berufs¬
klassen ein wirklich getreues und umfassendes Bild zu geben imstande wäre.
Hier liegt der Punkt, wo die Staatsgewalt in enger Fühlung mit der Wissen¬
schaft und möglichst bis zu jedem einzelnen im Volke herabsteigend ihre ganze
Kraft und Geschicklichkeit einsetzen sollte, nebenbei bemerkt, auch eine vortreff¬
liche Gelegenheit, den immer mehr verloren gehenden Zusammenhang zwischen
der Vüreaukratie und dem eigentlichen Volke wieder herzustellen. Mag sein,
daß Jahre vergehen, ehe diese Arbeit Früchte zu tragen beginnt. Aber wir
Deutschen haben doch nun schon an die tausend Jahre staatlichen Lebens hinter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/15>, abgerufen am 15.06.2024.