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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Die Prügelstrafe in der Volksschule

in unsrer Zeit nur schwer an die Verfolgung und Verurteilung solcher Fülle.
Zum Beweise nur einige Belege aus der jüngsten Zeit.

Lehrer Naschold von Neuhauser bei Urach in Schwaben schlug einen
achtjährigen Knaben, der beim Kopfrechnen eine Antwort schuldig geblieben
war, mit dem Rohrstock so über den Hinterkopf, daß er sofort zusammenbrach
lind kurz nachher einer Gehirnhautentzündung erlag. Urteil: vier Monate Ge¬
fängnis. Naschold wurde als pflichttreuer Mann geschildert und sein Lehreifer
vom Gericht ausdrücklich als strafmildernd in Betracht gezogen.

In Zöblitz in Sachsen wurden mehrere Knaben, die in den Verdacht ge¬
kommen waren, einen Vogel getötet zu haben (sie sagten aber, er sei ihnen tot
geschenkt worden), mit je zwanzig Hieben auf den entblößten Hintern bestraft.
Ein Knabe bekam beim dritten Hiebe Krämpfe, den andern lief das Blut an
den Beinen herunter. Es kamen schwere Verletzungen, Blasenlädirung u. s. w.
vor. Nach der Züchtigung wurden die Knaben zum Hause hinausgeworfen.
Diese Schinderei wurde in Szene gesetzt im Beisein des Bürgermeisters, des
Schuldirektors, des städtischen Wachtmeisters, des Doktors und des Pedells,
und zwar "um der Verrohung der Jugend entgegenzuwirken."

Lehrer Linhard in Weiden bei Weilheim hatte die Gewohnheit, die Kinder
mit einem sogenannten Platteuring, wie ihn die Raufbolde in Altbaiern an¬
stecken, wenn sie sich zu einer Schlägerei im Wirtshaus rüsten, auf die Köpfe
zu schlagen, wenn sie eine Antwort nicht gleich wußten. Die Kinder wurden
an den Ohren gerissen, daß das Blut herablief, an den Haaren gezerrt, daß
ganze Büschel ausgingen, geschlagen, daß sie wochenlang die Schule nicht be¬
suchen konnten. Ein Kind von sechs Jahren wurde einige Tage nach seinem
Eintritt in die Schule so geschlagen, daß es fünf Wochen darnach noch die
Spuren der Mißhandlung an sich trug. Die armen Eltern mußten das Kind,
das nicht in die Schule zu bringen war und immer schrie: "Der Lehrer erschlägt
mich noch!" selbst in die Schule bringen und seinem Peiniger übergeben.
Nachdem es der Lehrer jahrelang so getrieben hatte und eine Versetzung nicht
zu erreichen war, geriet er schließlich in die Hände der Justiz, die ihn wegen
acht Vergehen, von denen blutige Augen, geschwollene Hände u. f. w. die Zeugen
waren, zu -- vierzig Mark! verurteilte. Oberlehrer Schubert, der als Sach¬
verständiger berufen war, meinte bei der Verhandlung, "ein im Unmut ge¬
gebner Klaps sei keine Mißhandlung."

Fast die gesamte liberale Presse, voran die Augsburger Abendzeitung,
trat für diesen Jugenderzieher in der wärmsten Weise ein und verunglimpfte
den Pfarrer des Orts, der die Bestrafung des Lehrers veranlaßt hatte, in der
Pöbelhaftesten Weise. Die Vairische Lehrerzeitung, nicht zufrieden mit dem
gelinden Urteil, schrieb mit Bezug darauf, "der Paragraph über vorsätzliche
Körperverletzung sollte auf einen Lehrer überhaupt nicht angewendet werden,
da bei einem heutigen Jugenderzieher eine vorsätzliche Verletzung gar nicht


Grenzboten IV 1895 2
Die Prügelstrafe in der Volksschule

in unsrer Zeit nur schwer an die Verfolgung und Verurteilung solcher Fülle.
Zum Beweise nur einige Belege aus der jüngsten Zeit.

Lehrer Naschold von Neuhauser bei Urach in Schwaben schlug einen
achtjährigen Knaben, der beim Kopfrechnen eine Antwort schuldig geblieben
war, mit dem Rohrstock so über den Hinterkopf, daß er sofort zusammenbrach
lind kurz nachher einer Gehirnhautentzündung erlag. Urteil: vier Monate Ge¬
fängnis. Naschold wurde als pflichttreuer Mann geschildert und sein Lehreifer
vom Gericht ausdrücklich als strafmildernd in Betracht gezogen.

In Zöblitz in Sachsen wurden mehrere Knaben, die in den Verdacht ge¬
kommen waren, einen Vogel getötet zu haben (sie sagten aber, er sei ihnen tot
geschenkt worden), mit je zwanzig Hieben auf den entblößten Hintern bestraft.
Ein Knabe bekam beim dritten Hiebe Krämpfe, den andern lief das Blut an
den Beinen herunter. Es kamen schwere Verletzungen, Blasenlädirung u. s. w.
vor. Nach der Züchtigung wurden die Knaben zum Hause hinausgeworfen.
Diese Schinderei wurde in Szene gesetzt im Beisein des Bürgermeisters, des
Schuldirektors, des städtischen Wachtmeisters, des Doktors und des Pedells,
und zwar „um der Verrohung der Jugend entgegenzuwirken."

Lehrer Linhard in Weiden bei Weilheim hatte die Gewohnheit, die Kinder
mit einem sogenannten Platteuring, wie ihn die Raufbolde in Altbaiern an¬
stecken, wenn sie sich zu einer Schlägerei im Wirtshaus rüsten, auf die Köpfe
zu schlagen, wenn sie eine Antwort nicht gleich wußten. Die Kinder wurden
an den Ohren gerissen, daß das Blut herablief, an den Haaren gezerrt, daß
ganze Büschel ausgingen, geschlagen, daß sie wochenlang die Schule nicht be¬
suchen konnten. Ein Kind von sechs Jahren wurde einige Tage nach seinem
Eintritt in die Schule so geschlagen, daß es fünf Wochen darnach noch die
Spuren der Mißhandlung an sich trug. Die armen Eltern mußten das Kind,
das nicht in die Schule zu bringen war und immer schrie: „Der Lehrer erschlägt
mich noch!" selbst in die Schule bringen und seinem Peiniger übergeben.
Nachdem es der Lehrer jahrelang so getrieben hatte und eine Versetzung nicht
zu erreichen war, geriet er schließlich in die Hände der Justiz, die ihn wegen
acht Vergehen, von denen blutige Augen, geschwollene Hände u. f. w. die Zeugen
waren, zu — vierzig Mark! verurteilte. Oberlehrer Schubert, der als Sach¬
verständiger berufen war, meinte bei der Verhandlung, „ein im Unmut ge¬
gebner Klaps sei keine Mißhandlung."

Fast die gesamte liberale Presse, voran die Augsburger Abendzeitung,
trat für diesen Jugenderzieher in der wärmsten Weise ein und verunglimpfte
den Pfarrer des Orts, der die Bestrafung des Lehrers veranlaßt hatte, in der
Pöbelhaftesten Weise. Die Vairische Lehrerzeitung, nicht zufrieden mit dem
gelinden Urteil, schrieb mit Bezug darauf, „der Paragraph über vorsätzliche
Körperverletzung sollte auf einen Lehrer überhaupt nicht angewendet werden,
da bei einem heutigen Jugenderzieher eine vorsätzliche Verletzung gar nicht


Grenzboten IV 1895 2
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[0017] Die Prügelstrafe in der Volksschule in unsrer Zeit nur schwer an die Verfolgung und Verurteilung solcher Fülle. Zum Beweise nur einige Belege aus der jüngsten Zeit. Lehrer Naschold von Neuhauser bei Urach in Schwaben schlug einen achtjährigen Knaben, der beim Kopfrechnen eine Antwort schuldig geblieben war, mit dem Rohrstock so über den Hinterkopf, daß er sofort zusammenbrach lind kurz nachher einer Gehirnhautentzündung erlag. Urteil: vier Monate Ge¬ fängnis. Naschold wurde als pflichttreuer Mann geschildert und sein Lehreifer vom Gericht ausdrücklich als strafmildernd in Betracht gezogen. In Zöblitz in Sachsen wurden mehrere Knaben, die in den Verdacht ge¬ kommen waren, einen Vogel getötet zu haben (sie sagten aber, er sei ihnen tot geschenkt worden), mit je zwanzig Hieben auf den entblößten Hintern bestraft. Ein Knabe bekam beim dritten Hiebe Krämpfe, den andern lief das Blut an den Beinen herunter. Es kamen schwere Verletzungen, Blasenlädirung u. s. w. vor. Nach der Züchtigung wurden die Knaben zum Hause hinausgeworfen. Diese Schinderei wurde in Szene gesetzt im Beisein des Bürgermeisters, des Schuldirektors, des städtischen Wachtmeisters, des Doktors und des Pedells, und zwar „um der Verrohung der Jugend entgegenzuwirken." Lehrer Linhard in Weiden bei Weilheim hatte die Gewohnheit, die Kinder mit einem sogenannten Platteuring, wie ihn die Raufbolde in Altbaiern an¬ stecken, wenn sie sich zu einer Schlägerei im Wirtshaus rüsten, auf die Köpfe zu schlagen, wenn sie eine Antwort nicht gleich wußten. Die Kinder wurden an den Ohren gerissen, daß das Blut herablief, an den Haaren gezerrt, daß ganze Büschel ausgingen, geschlagen, daß sie wochenlang die Schule nicht be¬ suchen konnten. Ein Kind von sechs Jahren wurde einige Tage nach seinem Eintritt in die Schule so geschlagen, daß es fünf Wochen darnach noch die Spuren der Mißhandlung an sich trug. Die armen Eltern mußten das Kind, das nicht in die Schule zu bringen war und immer schrie: „Der Lehrer erschlägt mich noch!" selbst in die Schule bringen und seinem Peiniger übergeben. Nachdem es der Lehrer jahrelang so getrieben hatte und eine Versetzung nicht zu erreichen war, geriet er schließlich in die Hände der Justiz, die ihn wegen acht Vergehen, von denen blutige Augen, geschwollene Hände u. f. w. die Zeugen waren, zu — vierzig Mark! verurteilte. Oberlehrer Schubert, der als Sach¬ verständiger berufen war, meinte bei der Verhandlung, „ein im Unmut ge¬ gebner Klaps sei keine Mißhandlung." Fast die gesamte liberale Presse, voran die Augsburger Abendzeitung, trat für diesen Jugenderzieher in der wärmsten Weise ein und verunglimpfte den Pfarrer des Orts, der die Bestrafung des Lehrers veranlaßt hatte, in der Pöbelhaftesten Weise. Die Vairische Lehrerzeitung, nicht zufrieden mit dem gelinden Urteil, schrieb mit Bezug darauf, „der Paragraph über vorsätzliche Körperverletzung sollte auf einen Lehrer überhaupt nicht angewendet werden, da bei einem heutigen Jugenderzieher eine vorsätzliche Verletzung gar nicht Grenzboten IV 1895 2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/17>, abgerufen am 16.06.2024.