Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
!vais verlangen wir von einem bürgerlichen Gesetzbuch?

Gebrauchswert hat. Verweigert daher bei derartigen Leistungen der Besteller
die Amiahme, so ist alle aufgewendete Mühe und Zeit, alles darauf verwendete
Kapital verloren, hiermit aber der gesamten Volkswirtschaft ein Nachteil zu¬
gefügt, insofern die vergebliche Arbeit anderweit hätte fruchtbringend aufge¬
wendet werden können. Es ist also auch hier zu prüfen, welche Interessen
vorwiegen: die des Bestellers an der rechtzeitige" Lieferung, oder die der ge-
samten Volkswirtschaft daran, daß keine Güter erzeugt werden, die ohne Ge¬
brauchswert sind.

Diese Beispiele werden genügen, um deutlich zu mache", nach welchen
Gesichtspunkten die Vorschriften des Entwurfs auf ihre Zweckmäßigkeit, also
Gerechtigkeit zu prüfen sind.


5. Die Form der Gesetzgebung

Da das Gesetzbuch die einzige Rechtsquelle sein will, so muß es nicht
nur alles umfassen, was durch Sondergesctze nicht geregelt werden soll, sondern
es muß auch die behandelten einzelnen Gegenstände so vollständig regeln, daß
alle vorkommenden Fälle nach den Vorschriften des Gesetzes entschieden werden
können. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß es nun eine Fülle von Kasuistik
liefern soll. Das würde ein Gesetzbuch nur unklar und verworren machen
und das gerade Gegenteil der Vollständigkeit erzielen. Die Verschiedenheit des
Lebens ist so groß, daß auch nur der Versuch, für jeden einzelnen Fall eine
besondre Gesetzvvrschrift geben zu Wollen, scheitern müßte. Ein Gesetzbuch
kann nicht, wie Gönner einmal witzig gesagt hat, "für jede Nuß einen eignen
Knacker liefern." Dies verkannt zu haben, ist bekanntlich der Fehler des
preußischen Allgemeinen Landrechts. Die Folge ist, daß in diesem die all¬
gemeinen Begriffe und leitenden Gesichtspunkte vernachlässigt sind und es dann
Schwierigkeiten macht, den einzelnen zur Entscheidung stehenden und nicht aus¬
drücklich im Gesetzbuch erwähnten Rechtsfall unter einem höhern Gesichtspunkt
zu betrachten und unter eine allgemeinere Nechtsregel zu bringen. Es ist also,
sagt Portalis, die Pflicht des Gesetzgebers, durch große Ansichten die all¬
gemeinen Rechtsregeln festzusetzen, folgenreiche Prinzipien aufzustellen und nicht
herabzusteigen in das Detail der Fragen. Seine große Kunst bestehe eben
darin, alles zu vereinfachen; alles vereinfachen sei eine Operation, die man
verstehen müsse, alles voraussehen ein Ziel, das man nie erreichen könne. Nur
wenn alles auf möglichst einfache Grundbegriffe zurückgeführt wird, kann der
Gesetzgeber einigermaßen sicher sein, die große Fülle des Rechtslebens zu er¬
schöpfen.

Aber auch in dem Streben, nur die leitende" Grundsätze herauszuheben
und überflüssige Kasuistik zu vermeiden, kann über das Ziel hinausgeschossen
werden. Das lehrt sowohl der voäs vivit als das österreichische Gesetzbuch,
die in dieser Beziehung Gegenstücke zu dem preußischen Landrecht bilden. Bei


!vais verlangen wir von einem bürgerlichen Gesetzbuch?

Gebrauchswert hat. Verweigert daher bei derartigen Leistungen der Besteller
die Amiahme, so ist alle aufgewendete Mühe und Zeit, alles darauf verwendete
Kapital verloren, hiermit aber der gesamten Volkswirtschaft ein Nachteil zu¬
gefügt, insofern die vergebliche Arbeit anderweit hätte fruchtbringend aufge¬
wendet werden können. Es ist also auch hier zu prüfen, welche Interessen
vorwiegen: die des Bestellers an der rechtzeitige» Lieferung, oder die der ge-
samten Volkswirtschaft daran, daß keine Güter erzeugt werden, die ohne Ge¬
brauchswert sind.

Diese Beispiele werden genügen, um deutlich zu mache», nach welchen
Gesichtspunkten die Vorschriften des Entwurfs auf ihre Zweckmäßigkeit, also
Gerechtigkeit zu prüfen sind.


5. Die Form der Gesetzgebung

Da das Gesetzbuch die einzige Rechtsquelle sein will, so muß es nicht
nur alles umfassen, was durch Sondergesctze nicht geregelt werden soll, sondern
es muß auch die behandelten einzelnen Gegenstände so vollständig regeln, daß
alle vorkommenden Fälle nach den Vorschriften des Gesetzes entschieden werden
können. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß es nun eine Fülle von Kasuistik
liefern soll. Das würde ein Gesetzbuch nur unklar und verworren machen
und das gerade Gegenteil der Vollständigkeit erzielen. Die Verschiedenheit des
Lebens ist so groß, daß auch nur der Versuch, für jeden einzelnen Fall eine
besondre Gesetzvvrschrift geben zu Wollen, scheitern müßte. Ein Gesetzbuch
kann nicht, wie Gönner einmal witzig gesagt hat, „für jede Nuß einen eignen
Knacker liefern." Dies verkannt zu haben, ist bekanntlich der Fehler des
preußischen Allgemeinen Landrechts. Die Folge ist, daß in diesem die all¬
gemeinen Begriffe und leitenden Gesichtspunkte vernachlässigt sind und es dann
Schwierigkeiten macht, den einzelnen zur Entscheidung stehenden und nicht aus¬
drücklich im Gesetzbuch erwähnten Rechtsfall unter einem höhern Gesichtspunkt
zu betrachten und unter eine allgemeinere Nechtsregel zu bringen. Es ist also,
sagt Portalis, die Pflicht des Gesetzgebers, durch große Ansichten die all¬
gemeinen Rechtsregeln festzusetzen, folgenreiche Prinzipien aufzustellen und nicht
herabzusteigen in das Detail der Fragen. Seine große Kunst bestehe eben
darin, alles zu vereinfachen; alles vereinfachen sei eine Operation, die man
verstehen müsse, alles voraussehen ein Ziel, das man nie erreichen könne. Nur
wenn alles auf möglichst einfache Grundbegriffe zurückgeführt wird, kann der
Gesetzgeber einigermaßen sicher sein, die große Fülle des Rechtslebens zu er¬
schöpfen.

Aber auch in dem Streben, nur die leitende» Grundsätze herauszuheben
und überflüssige Kasuistik zu vermeiden, kann über das Ziel hinausgeschossen
werden. Das lehrt sowohl der voäs vivit als das österreichische Gesetzbuch,
die in dieser Beziehung Gegenstücke zu dem preußischen Landrecht bilden. Bei


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0277" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221253"/>
            <fw type="header" place="top"> !vais verlangen wir von einem bürgerlichen Gesetzbuch?</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_876" prev="#ID_875"> Gebrauchswert hat. Verweigert daher bei derartigen Leistungen der Besteller<lb/>
die Amiahme, so ist alle aufgewendete Mühe und Zeit, alles darauf verwendete<lb/>
Kapital verloren, hiermit aber der gesamten Volkswirtschaft ein Nachteil zu¬<lb/>
gefügt, insofern die vergebliche Arbeit anderweit hätte fruchtbringend aufge¬<lb/>
wendet werden können. Es ist also auch hier zu prüfen, welche Interessen<lb/>
vorwiegen: die des Bestellers an der rechtzeitige» Lieferung, oder die der ge-<lb/>
samten Volkswirtschaft daran, daß keine Güter erzeugt werden, die ohne Ge¬<lb/>
brauchswert sind.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_877"> Diese Beispiele werden genügen, um deutlich zu mache», nach welchen<lb/>
Gesichtspunkten die Vorschriften des Entwurfs auf ihre Zweckmäßigkeit, also<lb/>
Gerechtigkeit zu prüfen sind.</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> 5. Die Form der Gesetzgebung</head><lb/>
            <p xml:id="ID_878"> Da das Gesetzbuch die einzige Rechtsquelle sein will, so muß es nicht<lb/>
nur alles umfassen, was durch Sondergesctze nicht geregelt werden soll, sondern<lb/>
es muß auch die behandelten einzelnen Gegenstände so vollständig regeln, daß<lb/>
alle vorkommenden Fälle nach den Vorschriften des Gesetzes entschieden werden<lb/>
können. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß es nun eine Fülle von Kasuistik<lb/>
liefern soll. Das würde ein Gesetzbuch nur unklar und verworren machen<lb/>
und das gerade Gegenteil der Vollständigkeit erzielen. Die Verschiedenheit des<lb/>
Lebens ist so groß, daß auch nur der Versuch, für jeden einzelnen Fall eine<lb/>
besondre Gesetzvvrschrift geben zu Wollen, scheitern müßte. Ein Gesetzbuch<lb/>
kann nicht, wie Gönner einmal witzig gesagt hat, &#x201E;für jede Nuß einen eignen<lb/>
Knacker liefern." Dies verkannt zu haben, ist bekanntlich der Fehler des<lb/>
preußischen Allgemeinen Landrechts. Die Folge ist, daß in diesem die all¬<lb/>
gemeinen Begriffe und leitenden Gesichtspunkte vernachlässigt sind und es dann<lb/>
Schwierigkeiten macht, den einzelnen zur Entscheidung stehenden und nicht aus¬<lb/>
drücklich im Gesetzbuch erwähnten Rechtsfall unter einem höhern Gesichtspunkt<lb/>
zu betrachten und unter eine allgemeinere Nechtsregel zu bringen. Es ist also,<lb/>
sagt Portalis, die Pflicht des Gesetzgebers, durch große Ansichten die all¬<lb/>
gemeinen Rechtsregeln festzusetzen, folgenreiche Prinzipien aufzustellen und nicht<lb/>
herabzusteigen in das Detail der Fragen. Seine große Kunst bestehe eben<lb/>
darin, alles zu vereinfachen; alles vereinfachen sei eine Operation, die man<lb/>
verstehen müsse, alles voraussehen ein Ziel, das man nie erreichen könne. Nur<lb/>
wenn alles auf möglichst einfache Grundbegriffe zurückgeführt wird, kann der<lb/>
Gesetzgeber einigermaßen sicher sein, die große Fülle des Rechtslebens zu er¬<lb/>
schöpfen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_879" next="#ID_880"> Aber auch in dem Streben, nur die leitende» Grundsätze herauszuheben<lb/>
und überflüssige Kasuistik zu vermeiden, kann über das Ziel hinausgeschossen<lb/>
werden. Das lehrt sowohl der voäs vivit als das österreichische Gesetzbuch,<lb/>
die in dieser Beziehung Gegenstücke zu dem preußischen Landrecht bilden. Bei</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0277] !vais verlangen wir von einem bürgerlichen Gesetzbuch? Gebrauchswert hat. Verweigert daher bei derartigen Leistungen der Besteller die Amiahme, so ist alle aufgewendete Mühe und Zeit, alles darauf verwendete Kapital verloren, hiermit aber der gesamten Volkswirtschaft ein Nachteil zu¬ gefügt, insofern die vergebliche Arbeit anderweit hätte fruchtbringend aufge¬ wendet werden können. Es ist also auch hier zu prüfen, welche Interessen vorwiegen: die des Bestellers an der rechtzeitige» Lieferung, oder die der ge- samten Volkswirtschaft daran, daß keine Güter erzeugt werden, die ohne Ge¬ brauchswert sind. Diese Beispiele werden genügen, um deutlich zu mache», nach welchen Gesichtspunkten die Vorschriften des Entwurfs auf ihre Zweckmäßigkeit, also Gerechtigkeit zu prüfen sind. 5. Die Form der Gesetzgebung Da das Gesetzbuch die einzige Rechtsquelle sein will, so muß es nicht nur alles umfassen, was durch Sondergesctze nicht geregelt werden soll, sondern es muß auch die behandelten einzelnen Gegenstände so vollständig regeln, daß alle vorkommenden Fälle nach den Vorschriften des Gesetzes entschieden werden können. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß es nun eine Fülle von Kasuistik liefern soll. Das würde ein Gesetzbuch nur unklar und verworren machen und das gerade Gegenteil der Vollständigkeit erzielen. Die Verschiedenheit des Lebens ist so groß, daß auch nur der Versuch, für jeden einzelnen Fall eine besondre Gesetzvvrschrift geben zu Wollen, scheitern müßte. Ein Gesetzbuch kann nicht, wie Gönner einmal witzig gesagt hat, „für jede Nuß einen eignen Knacker liefern." Dies verkannt zu haben, ist bekanntlich der Fehler des preußischen Allgemeinen Landrechts. Die Folge ist, daß in diesem die all¬ gemeinen Begriffe und leitenden Gesichtspunkte vernachlässigt sind und es dann Schwierigkeiten macht, den einzelnen zur Entscheidung stehenden und nicht aus¬ drücklich im Gesetzbuch erwähnten Rechtsfall unter einem höhern Gesichtspunkt zu betrachten und unter eine allgemeinere Nechtsregel zu bringen. Es ist also, sagt Portalis, die Pflicht des Gesetzgebers, durch große Ansichten die all¬ gemeinen Rechtsregeln festzusetzen, folgenreiche Prinzipien aufzustellen und nicht herabzusteigen in das Detail der Fragen. Seine große Kunst bestehe eben darin, alles zu vereinfachen; alles vereinfachen sei eine Operation, die man verstehen müsse, alles voraussehen ein Ziel, das man nie erreichen könne. Nur wenn alles auf möglichst einfache Grundbegriffe zurückgeführt wird, kann der Gesetzgeber einigermaßen sicher sein, die große Fülle des Rechtslebens zu er¬ schöpfen. Aber auch in dem Streben, nur die leitende» Grundsätze herauszuheben und überflüssige Kasuistik zu vermeiden, kann über das Ziel hinausgeschossen werden. Das lehrt sowohl der voäs vivit als das österreichische Gesetzbuch, die in dieser Beziehung Gegenstücke zu dem preußischen Landrecht bilden. Bei

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/277
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/277>, abgerufen am 16.06.2024.