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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Heimat und volkstnm

Noch einmal will ich mich feierlich dagegen verwahren, partikularistische
oder gar reaktionäre Neigungen zu hegen, ich will anch gern zugestehen, daß
ich mich hie und da täuschen kann. Aber ich habe mich, wo ich auch in Deutsch¬
land geweilt habe -- und ich bin ziemlich weit herumgekommen --, immer
gern mit dem "Heimatlichen" beschäftigt und habe eben überall gefunden, daß
nichts oder wenig geschieht, die "berechtigten" Eigentümlichkeiten, die man so
oft in den Mund nimmt, lebendig zu erhalten, daß die Liebe zur Heimat, die
eine starke Teilnahme auch für deren Vergangenheit in sich trägt, mehr und
mehr abnimmt, daß die deutsche Wissenschaft, die berufen ist, sie zu nähren,
Kulturgeschichte und Volkskunde, ihre Pflicht nicht ganz erfüllt, auch daß die
Kunst den Boden der HeiMat und den Zusammenhang mit dem Volkstum in
Deutschland oft zu leicht aufgiebt oder noch nicht wiedergefunden hat, daß ein
oberflächlicher und heimatloser, oft geradezu schädlicher und gefährlicher, kurz
der sogenannte moderne Geist, der mit dem berechtigten Modernen, dem wahren
Gehalt der Gegenwart, nichts zu thun hat, das mit dem Heimischen eng ver¬
knüpfte gute Alte überwuchert und erstickt. Das ist, wie ich wohl weiß, die
Klage schou seit manchem Jahrzehnt, aber schwerlich ist jemals mit so vielem
guten Alten so plötzlich aufgeräumt, mit so viel Überlieferten gebrochen worden,
wie etwa seit dem Jahre 1870. Nun ja, das Rad der Zeit ist nicht aufzuhalten,
unsre Zeit steht ja, wie uns gesagt worden ist, "unter dem Zeichen des Ver¬
kehrs," der zentralisirende Zug wirkt in jedem Volke, und der internationale
unter allen Völkern trotz der oft überstarken Betonung der nationalen Eigen¬
tümlichkeit; überall sind soziale, sind sittliche Fragen zu lösen, und sie tragen
verwandte Gesichter in dem katholischen München und in dem protestantischen
Berlin, im Schwarzwald und Thüringer Wald und in den Ebnen des Ostens.
Ob es aber nötig ist, das deutsche Volk erst zu einem großen Mischbrei werden
zu lassen, ob die städtische Kultur überallhin aufs Land hinausgetragen und
dieses proletarisirt werden muß, ob nicht vielmehr die Pflege der Besonderheiten
dem deutschen Volke viel mehr Stärke geben würde, als ihre Abschleifung, ob
nicht die sozialen Fragen am ehesten im engsten Anschluß an die örtlichen
Verhältnisse und Bedürfnisse zu lösen wären, statt auf dem Wege oder richtiger
"im" Wege der allgemeinen Gesetzgebung, das wäre doch wohl zu erwägen.
Jedenfalls muß das Heimatgefühl wieder gefestigt werden, zuerst dadurch, daß
man den Heimatlosen wieder eine Heimat schafft, dann, indem man alle Wurzeln,
die noch im Heimatboden ruhen, erhält und kräftigt, endlich, indem man ver¬
sucht, neues Einwurzeln zu befördern. Es könnte da sehr viel geschehen, und
vor allem die Gebildeten könnten sehr viel thun; mit Strebertum verträgt
sich freilich ein Streben dieser Art nicht. Daß das nationale Empfinden unter
der Stärkung des Heimatgcfühls leiden, oder daß die alte, thörichte Beschränkt¬
heit, die stets vergißt, daß hinter den Bergen auch noch Menschen wohnen,
und nur das Leben "bei uns zu Hanse" lobenswert findet, je wiederkehren


Heimat und volkstnm

Noch einmal will ich mich feierlich dagegen verwahren, partikularistische
oder gar reaktionäre Neigungen zu hegen, ich will anch gern zugestehen, daß
ich mich hie und da täuschen kann. Aber ich habe mich, wo ich auch in Deutsch¬
land geweilt habe — und ich bin ziemlich weit herumgekommen —, immer
gern mit dem „Heimatlichen" beschäftigt und habe eben überall gefunden, daß
nichts oder wenig geschieht, die „berechtigten" Eigentümlichkeiten, die man so
oft in den Mund nimmt, lebendig zu erhalten, daß die Liebe zur Heimat, die
eine starke Teilnahme auch für deren Vergangenheit in sich trägt, mehr und
mehr abnimmt, daß die deutsche Wissenschaft, die berufen ist, sie zu nähren,
Kulturgeschichte und Volkskunde, ihre Pflicht nicht ganz erfüllt, auch daß die
Kunst den Boden der HeiMat und den Zusammenhang mit dem Volkstum in
Deutschland oft zu leicht aufgiebt oder noch nicht wiedergefunden hat, daß ein
oberflächlicher und heimatloser, oft geradezu schädlicher und gefährlicher, kurz
der sogenannte moderne Geist, der mit dem berechtigten Modernen, dem wahren
Gehalt der Gegenwart, nichts zu thun hat, das mit dem Heimischen eng ver¬
knüpfte gute Alte überwuchert und erstickt. Das ist, wie ich wohl weiß, die
Klage schou seit manchem Jahrzehnt, aber schwerlich ist jemals mit so vielem
guten Alten so plötzlich aufgeräumt, mit so viel Überlieferten gebrochen worden,
wie etwa seit dem Jahre 1870. Nun ja, das Rad der Zeit ist nicht aufzuhalten,
unsre Zeit steht ja, wie uns gesagt worden ist, „unter dem Zeichen des Ver¬
kehrs," der zentralisirende Zug wirkt in jedem Volke, und der internationale
unter allen Völkern trotz der oft überstarken Betonung der nationalen Eigen¬
tümlichkeit; überall sind soziale, sind sittliche Fragen zu lösen, und sie tragen
verwandte Gesichter in dem katholischen München und in dem protestantischen
Berlin, im Schwarzwald und Thüringer Wald und in den Ebnen des Ostens.
Ob es aber nötig ist, das deutsche Volk erst zu einem großen Mischbrei werden
zu lassen, ob die städtische Kultur überallhin aufs Land hinausgetragen und
dieses proletarisirt werden muß, ob nicht vielmehr die Pflege der Besonderheiten
dem deutschen Volke viel mehr Stärke geben würde, als ihre Abschleifung, ob
nicht die sozialen Fragen am ehesten im engsten Anschluß an die örtlichen
Verhältnisse und Bedürfnisse zu lösen wären, statt auf dem Wege oder richtiger
„im" Wege der allgemeinen Gesetzgebung, das wäre doch wohl zu erwägen.
Jedenfalls muß das Heimatgefühl wieder gefestigt werden, zuerst dadurch, daß
man den Heimatlosen wieder eine Heimat schafft, dann, indem man alle Wurzeln,
die noch im Heimatboden ruhen, erhält und kräftigt, endlich, indem man ver¬
sucht, neues Einwurzeln zu befördern. Es könnte da sehr viel geschehen, und
vor allem die Gebildeten könnten sehr viel thun; mit Strebertum verträgt
sich freilich ein Streben dieser Art nicht. Daß das nationale Empfinden unter
der Stärkung des Heimatgcfühls leiden, oder daß die alte, thörichte Beschränkt¬
heit, die stets vergißt, daß hinter den Bergen auch noch Menschen wohnen,
und nur das Leben „bei uns zu Hanse" lobenswert findet, je wiederkehren


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[0288] Heimat und volkstnm Noch einmal will ich mich feierlich dagegen verwahren, partikularistische oder gar reaktionäre Neigungen zu hegen, ich will anch gern zugestehen, daß ich mich hie und da täuschen kann. Aber ich habe mich, wo ich auch in Deutsch¬ land geweilt habe — und ich bin ziemlich weit herumgekommen —, immer gern mit dem „Heimatlichen" beschäftigt und habe eben überall gefunden, daß nichts oder wenig geschieht, die „berechtigten" Eigentümlichkeiten, die man so oft in den Mund nimmt, lebendig zu erhalten, daß die Liebe zur Heimat, die eine starke Teilnahme auch für deren Vergangenheit in sich trägt, mehr und mehr abnimmt, daß die deutsche Wissenschaft, die berufen ist, sie zu nähren, Kulturgeschichte und Volkskunde, ihre Pflicht nicht ganz erfüllt, auch daß die Kunst den Boden der HeiMat und den Zusammenhang mit dem Volkstum in Deutschland oft zu leicht aufgiebt oder noch nicht wiedergefunden hat, daß ein oberflächlicher und heimatloser, oft geradezu schädlicher und gefährlicher, kurz der sogenannte moderne Geist, der mit dem berechtigten Modernen, dem wahren Gehalt der Gegenwart, nichts zu thun hat, das mit dem Heimischen eng ver¬ knüpfte gute Alte überwuchert und erstickt. Das ist, wie ich wohl weiß, die Klage schou seit manchem Jahrzehnt, aber schwerlich ist jemals mit so vielem guten Alten so plötzlich aufgeräumt, mit so viel Überlieferten gebrochen worden, wie etwa seit dem Jahre 1870. Nun ja, das Rad der Zeit ist nicht aufzuhalten, unsre Zeit steht ja, wie uns gesagt worden ist, „unter dem Zeichen des Ver¬ kehrs," der zentralisirende Zug wirkt in jedem Volke, und der internationale unter allen Völkern trotz der oft überstarken Betonung der nationalen Eigen¬ tümlichkeit; überall sind soziale, sind sittliche Fragen zu lösen, und sie tragen verwandte Gesichter in dem katholischen München und in dem protestantischen Berlin, im Schwarzwald und Thüringer Wald und in den Ebnen des Ostens. Ob es aber nötig ist, das deutsche Volk erst zu einem großen Mischbrei werden zu lassen, ob die städtische Kultur überallhin aufs Land hinausgetragen und dieses proletarisirt werden muß, ob nicht vielmehr die Pflege der Besonderheiten dem deutschen Volke viel mehr Stärke geben würde, als ihre Abschleifung, ob nicht die sozialen Fragen am ehesten im engsten Anschluß an die örtlichen Verhältnisse und Bedürfnisse zu lösen wären, statt auf dem Wege oder richtiger „im" Wege der allgemeinen Gesetzgebung, das wäre doch wohl zu erwägen. Jedenfalls muß das Heimatgefühl wieder gefestigt werden, zuerst dadurch, daß man den Heimatlosen wieder eine Heimat schafft, dann, indem man alle Wurzeln, die noch im Heimatboden ruhen, erhält und kräftigt, endlich, indem man ver¬ sucht, neues Einwurzeln zu befördern. Es könnte da sehr viel geschehen, und vor allem die Gebildeten könnten sehr viel thun; mit Strebertum verträgt sich freilich ein Streben dieser Art nicht. Daß das nationale Empfinden unter der Stärkung des Heimatgcfühls leiden, oder daß die alte, thörichte Beschränkt¬ heit, die stets vergißt, daß hinter den Bergen auch noch Menschen wohnen, und nur das Leben „bei uns zu Hanse" lobenswert findet, je wiederkehren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/288>, abgerufen am 16.06.2024.