Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Gestaltung unsers Parteiwesens

Also doch endlich Ruhe und Frieden für meine Mittagsstunden! Die wollte
ich ordentlich festhalten!

Nun sind fünf Jahre darüber vergangen, und ich habe auch wirklich bis
auf den heutigen Tag festgehalten. Aber allmählich kommt mir doch die Un¬
parteilichkeit meiner lieben Zeitung immer merkwürdiger vor. Und reiße ich
mich einmal von dem günstigen Vorurteil für sie los und lege mir geradezu
die Frage vor: "Worin ist sie eigentlich noch unparteiisch?" so kann ich mit
gutem Gewissen nur antworten: "Nur darin, daß sie es unentschieden läßt,
ob sie freikonservativ oder gemäßigt dentschkonservativ ist." Nach allen andern
Seiten ist ihr Standpunkt fest umschrieben. Und wollte man sie selber auf¬
fordern, irgend einen Gegenstand zu bezeichnen, über den sie nicht ganz be¬
stimmt "Farbe bekennt," so möchte ihr das Suchen wohl ein bischen viel Zeit
kosten. Sie sagt ihre Meinung mit eben solcher Entschiedenheit und gebraucht
ziemlich dieselbe": Redewendungen wie offne Parteiblätter der erwähnten Rich¬
tung. Trotzdem schreibt sie noch heutigen Tags unter ihren Titel: "Unpar¬
teiische Zeitung." Bei meiner Vorliebe für sie möchte ich gern annehmen, daß
sie selber noch nichts davon merke, daß sie ganz und gar ins Lager des "zer¬
fallenden" politischen Parteiwesens übergegangen ist. Was wird sie wohl
sagen, wenn ihr eines Tages die Augen aufgehen und sie sieht, wohin sie ge¬
raten ist!

Mehr oder weniger geht es allen "Unparteiischen" so. Eine bestimmte
Meinung haben die Herren Redakteure doch über jede Sache, und wenn sie
sich auch bemühen, keinem vor dem andern Recht zu geben, so entschlüpft
ihnen doch hie und da eine Wendung (auch die Anordnung der Zeitungen zeigt
schon etwas), die erkennen läßt, wie sie selber denken. Und andern Menschen
begegnet ähnliches, so lange ihr Blut noch nicht ganz trügflüssig geworden ist.
Man nimmt doch eine bestimmte Stellung, man schließt sich in Gedanken doch
einer bestimmten Partei an -- nur eingestehen will man es sich nicht, denn
niemanden belügt auch der ehrlichste Mensch ja so oft wie sich selber. Aller¬
dings, es giebt ja auch Heroen der Selbstzucht, die sich mit Hilfe eines scharfen
Verstandes auf eine Höhe emporgeschwungen haben, wo ihnen nichts Irdisches
mehr nahe steht, wenigstens nicht so nahe, daß sie das eine vor dem andern
bevorzugten; aber es giebt ihrer doch, wie von allen Glanzcrzeugnissen der
Menschheit, recht wenig! Die gewöhnliche Menschheit ergreift nun einmal,
wissentlich oder unwissentlich, Partei. Und da dürfen wir denn auch vielleicht
das alte Zitat für uns in Anspruch nehmen: "Alles, was ist, ist vernünftig,"
und behaupten, daß die politischen Unterschiede doch eigentlich viel mehr Be¬
rechtigung haben, als ihnen von manchen zugestanden wird, und daß sie
jedenfalls wünschenswerter sind als eine "wirtschaftliche" oder "ständische"
Gliederung.

Der Gegensatz zwischen konservativ und liberal, oder nach dem Sinne,


Zur Gestaltung unsers Parteiwesens

Also doch endlich Ruhe und Frieden für meine Mittagsstunden! Die wollte
ich ordentlich festhalten!

Nun sind fünf Jahre darüber vergangen, und ich habe auch wirklich bis
auf den heutigen Tag festgehalten. Aber allmählich kommt mir doch die Un¬
parteilichkeit meiner lieben Zeitung immer merkwürdiger vor. Und reiße ich
mich einmal von dem günstigen Vorurteil für sie los und lege mir geradezu
die Frage vor: „Worin ist sie eigentlich noch unparteiisch?" so kann ich mit
gutem Gewissen nur antworten: „Nur darin, daß sie es unentschieden läßt,
ob sie freikonservativ oder gemäßigt dentschkonservativ ist." Nach allen andern
Seiten ist ihr Standpunkt fest umschrieben. Und wollte man sie selber auf¬
fordern, irgend einen Gegenstand zu bezeichnen, über den sie nicht ganz be¬
stimmt „Farbe bekennt," so möchte ihr das Suchen wohl ein bischen viel Zeit
kosten. Sie sagt ihre Meinung mit eben solcher Entschiedenheit und gebraucht
ziemlich dieselbe»: Redewendungen wie offne Parteiblätter der erwähnten Rich¬
tung. Trotzdem schreibt sie noch heutigen Tags unter ihren Titel: „Unpar¬
teiische Zeitung." Bei meiner Vorliebe für sie möchte ich gern annehmen, daß
sie selber noch nichts davon merke, daß sie ganz und gar ins Lager des „zer¬
fallenden" politischen Parteiwesens übergegangen ist. Was wird sie wohl
sagen, wenn ihr eines Tages die Augen aufgehen und sie sieht, wohin sie ge¬
raten ist!

Mehr oder weniger geht es allen „Unparteiischen" so. Eine bestimmte
Meinung haben die Herren Redakteure doch über jede Sache, und wenn sie
sich auch bemühen, keinem vor dem andern Recht zu geben, so entschlüpft
ihnen doch hie und da eine Wendung (auch die Anordnung der Zeitungen zeigt
schon etwas), die erkennen läßt, wie sie selber denken. Und andern Menschen
begegnet ähnliches, so lange ihr Blut noch nicht ganz trügflüssig geworden ist.
Man nimmt doch eine bestimmte Stellung, man schließt sich in Gedanken doch
einer bestimmten Partei an — nur eingestehen will man es sich nicht, denn
niemanden belügt auch der ehrlichste Mensch ja so oft wie sich selber. Aller¬
dings, es giebt ja auch Heroen der Selbstzucht, die sich mit Hilfe eines scharfen
Verstandes auf eine Höhe emporgeschwungen haben, wo ihnen nichts Irdisches
mehr nahe steht, wenigstens nicht so nahe, daß sie das eine vor dem andern
bevorzugten; aber es giebt ihrer doch, wie von allen Glanzcrzeugnissen der
Menschheit, recht wenig! Die gewöhnliche Menschheit ergreift nun einmal,
wissentlich oder unwissentlich, Partei. Und da dürfen wir denn auch vielleicht
das alte Zitat für uns in Anspruch nehmen: „Alles, was ist, ist vernünftig,"
und behaupten, daß die politischen Unterschiede doch eigentlich viel mehr Be¬
rechtigung haben, als ihnen von manchen zugestanden wird, und daß sie
jedenfalls wünschenswerter sind als eine „wirtschaftliche" oder „ständische"
Gliederung.

Der Gegensatz zwischen konservativ und liberal, oder nach dem Sinne,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0066" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221042"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Gestaltung unsers Parteiwesens</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_163" prev="#ID_162"> Also doch endlich Ruhe und Frieden für meine Mittagsstunden! Die wollte<lb/>
ich ordentlich festhalten!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_164"> Nun sind fünf Jahre darüber vergangen, und ich habe auch wirklich bis<lb/>
auf den heutigen Tag festgehalten. Aber allmählich kommt mir doch die Un¬<lb/>
parteilichkeit meiner lieben Zeitung immer merkwürdiger vor. Und reiße ich<lb/>
mich einmal von dem günstigen Vorurteil für sie los und lege mir geradezu<lb/>
die Frage vor: &#x201E;Worin ist sie eigentlich noch unparteiisch?" so kann ich mit<lb/>
gutem Gewissen nur antworten: &#x201E;Nur darin, daß sie es unentschieden läßt,<lb/>
ob sie freikonservativ oder gemäßigt dentschkonservativ ist." Nach allen andern<lb/>
Seiten ist ihr Standpunkt fest umschrieben. Und wollte man sie selber auf¬<lb/>
fordern, irgend einen Gegenstand zu bezeichnen, über den sie nicht ganz be¬<lb/>
stimmt &#x201E;Farbe bekennt," so möchte ihr das Suchen wohl ein bischen viel Zeit<lb/>
kosten. Sie sagt ihre Meinung mit eben solcher Entschiedenheit und gebraucht<lb/>
ziemlich dieselbe»: Redewendungen wie offne Parteiblätter der erwähnten Rich¬<lb/>
tung. Trotzdem schreibt sie noch heutigen Tags unter ihren Titel: &#x201E;Unpar¬<lb/>
teiische Zeitung." Bei meiner Vorliebe für sie möchte ich gern annehmen, daß<lb/>
sie selber noch nichts davon merke, daß sie ganz und gar ins Lager des &#x201E;zer¬<lb/>
fallenden" politischen Parteiwesens übergegangen ist. Was wird sie wohl<lb/>
sagen, wenn ihr eines Tages die Augen aufgehen und sie sieht, wohin sie ge¬<lb/>
raten ist!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_165"> Mehr oder weniger geht es allen &#x201E;Unparteiischen" so. Eine bestimmte<lb/>
Meinung haben die Herren Redakteure doch über jede Sache, und wenn sie<lb/>
sich auch bemühen, keinem vor dem andern Recht zu geben, so entschlüpft<lb/>
ihnen doch hie und da eine Wendung (auch die Anordnung der Zeitungen zeigt<lb/>
schon etwas), die erkennen läßt, wie sie selber denken. Und andern Menschen<lb/>
begegnet ähnliches, so lange ihr Blut noch nicht ganz trügflüssig geworden ist.<lb/>
Man nimmt doch eine bestimmte Stellung, man schließt sich in Gedanken doch<lb/>
einer bestimmten Partei an &#x2014; nur eingestehen will man es sich nicht, denn<lb/>
niemanden belügt auch der ehrlichste Mensch ja so oft wie sich selber. Aller¬<lb/>
dings, es giebt ja auch Heroen der Selbstzucht, die sich mit Hilfe eines scharfen<lb/>
Verstandes auf eine Höhe emporgeschwungen haben, wo ihnen nichts Irdisches<lb/>
mehr nahe steht, wenigstens nicht so nahe, daß sie das eine vor dem andern<lb/>
bevorzugten; aber es giebt ihrer doch, wie von allen Glanzcrzeugnissen der<lb/>
Menschheit, recht wenig! Die gewöhnliche Menschheit ergreift nun einmal,<lb/>
wissentlich oder unwissentlich, Partei. Und da dürfen wir denn auch vielleicht<lb/>
das alte Zitat für uns in Anspruch nehmen: &#x201E;Alles, was ist, ist vernünftig,"<lb/>
und behaupten, daß die politischen Unterschiede doch eigentlich viel mehr Be¬<lb/>
rechtigung haben, als ihnen von manchen zugestanden wird, und daß sie<lb/>
jedenfalls wünschenswerter sind als eine &#x201E;wirtschaftliche" oder &#x201E;ständische"<lb/>
Gliederung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_166" next="#ID_167"> Der Gegensatz zwischen konservativ und liberal, oder nach dem Sinne,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0066] Zur Gestaltung unsers Parteiwesens Also doch endlich Ruhe und Frieden für meine Mittagsstunden! Die wollte ich ordentlich festhalten! Nun sind fünf Jahre darüber vergangen, und ich habe auch wirklich bis auf den heutigen Tag festgehalten. Aber allmählich kommt mir doch die Un¬ parteilichkeit meiner lieben Zeitung immer merkwürdiger vor. Und reiße ich mich einmal von dem günstigen Vorurteil für sie los und lege mir geradezu die Frage vor: „Worin ist sie eigentlich noch unparteiisch?" so kann ich mit gutem Gewissen nur antworten: „Nur darin, daß sie es unentschieden läßt, ob sie freikonservativ oder gemäßigt dentschkonservativ ist." Nach allen andern Seiten ist ihr Standpunkt fest umschrieben. Und wollte man sie selber auf¬ fordern, irgend einen Gegenstand zu bezeichnen, über den sie nicht ganz be¬ stimmt „Farbe bekennt," so möchte ihr das Suchen wohl ein bischen viel Zeit kosten. Sie sagt ihre Meinung mit eben solcher Entschiedenheit und gebraucht ziemlich dieselbe»: Redewendungen wie offne Parteiblätter der erwähnten Rich¬ tung. Trotzdem schreibt sie noch heutigen Tags unter ihren Titel: „Unpar¬ teiische Zeitung." Bei meiner Vorliebe für sie möchte ich gern annehmen, daß sie selber noch nichts davon merke, daß sie ganz und gar ins Lager des „zer¬ fallenden" politischen Parteiwesens übergegangen ist. Was wird sie wohl sagen, wenn ihr eines Tages die Augen aufgehen und sie sieht, wohin sie ge¬ raten ist! Mehr oder weniger geht es allen „Unparteiischen" so. Eine bestimmte Meinung haben die Herren Redakteure doch über jede Sache, und wenn sie sich auch bemühen, keinem vor dem andern Recht zu geben, so entschlüpft ihnen doch hie und da eine Wendung (auch die Anordnung der Zeitungen zeigt schon etwas), die erkennen läßt, wie sie selber denken. Und andern Menschen begegnet ähnliches, so lange ihr Blut noch nicht ganz trügflüssig geworden ist. Man nimmt doch eine bestimmte Stellung, man schließt sich in Gedanken doch einer bestimmten Partei an — nur eingestehen will man es sich nicht, denn niemanden belügt auch der ehrlichste Mensch ja so oft wie sich selber. Aller¬ dings, es giebt ja auch Heroen der Selbstzucht, die sich mit Hilfe eines scharfen Verstandes auf eine Höhe emporgeschwungen haben, wo ihnen nichts Irdisches mehr nahe steht, wenigstens nicht so nahe, daß sie das eine vor dem andern bevorzugten; aber es giebt ihrer doch, wie von allen Glanzcrzeugnissen der Menschheit, recht wenig! Die gewöhnliche Menschheit ergreift nun einmal, wissentlich oder unwissentlich, Partei. Und da dürfen wir denn auch vielleicht das alte Zitat für uns in Anspruch nehmen: „Alles, was ist, ist vernünftig," und behaupten, daß die politischen Unterschiede doch eigentlich viel mehr Be¬ rechtigung haben, als ihnen von manchen zugestanden wird, und daß sie jedenfalls wünschenswerter sind als eine „wirtschaftliche" oder „ständische" Gliederung. Der Gegensatz zwischen konservativ und liberal, oder nach dem Sinne,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/66
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/66>, abgerufen am 15.06.2024.