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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Die Prügelstrafe in der Volksschule

zieher führt sie im Munde. "Von sechs Schlägen gehören fünf dem Lehrer,"
sagt Kern. Wie würde der Schulmeister von Sadowa aussehen, wenn diese
Berechnung auf ihn angewendet würde!

Es muß unbedingt auf Abschaffung des Stockes auch aus der Volksschule
gedrungen werden. Nachdem dieses barbarische Instrument aus der Armee,
aus der höhern Schule, aus den: Zuchthaus und dem Gefängnis verbannt
worden ist, muß ihm auch die letzte Zufluchtstätte, die Volksschule, genommen
werden; hier bei den Kleinen ist es am wenigsten am Platz. Die Gefahr des
Mißbrauchs ist zu groß. Eine Kontrolle, eine Abwägung der Strafe ist un¬
möglich, sobald es einmal zugelassen wird. Die Hilflosigkeit des Kindes, das
Alleinsein des Lehrers -- Eintritt ins Schulzimmer ist ja durch strenge Strafen
untersagt -- begünstigen in bedenklichem Maße die häufige und ungerecht¬
fertigte Anwendung des Stockes. Der Lehrer ist Ankläger, Richter und Straf¬
vollstrecker in einer Person; wie leicht läßt sich der Richter vom Ankläger be¬
einflussen, zumal da dem Schüler kein Anwalt zur Seite steht! Denn auch
der Lehrer ist Mensch und ist Leidenschaften unterworfen. Und daß ein Teil
der Lehrer in Bezug auf Bescheidenheit, Demut, Selbstzucht -- Eigenschaften, die
der Erzieher vor allem besitzen muß -- nicht gerade den höchsten Rang ein¬
nimmt, wird wohl allerseits zugestanden werden. Von jedem Gebildeten er¬
wartet man, daß er sich bemeistern könne, selbst wo seine Geduld auf die
Probe gestellt wird, daß er nicht gleich wie der Raufbold dreinschlage. Das
wird auch der Lehrer lernen müssen. Er studire nur die Kindesuatur, be¬
trachte das Schülermaterial nicht als wissenschaftlichen Schleifstein für seine
Geistesschärfung und seine pädagogischen Experimente, sondern, wie Comenius
sagt, als "die Figürchen des lebendigen Gottes" und bedenke, daß er uicht
eine Schulherrschaft, sondern einen Schuldienst übernommen, also Pflichten zu
üben hat, die tiefes Wissen, edle Charaktereigenschaften und reines Streben
erfordern. Ist er von diesem Gedanken erfüllt, so wird er seinen Stolz
darein setzen, ohne Gewaltmittel auszukommen, und der unselige Zwiespalt
zwischen Haus und Schule wird schwinden, der jetzt eine gedeihliche Kinder¬
erziehung so erschwert. Der Lehrerstnnd wird geachteter dastehen, wenn die
Glieder ausgemerzt sind, mit denen zusammengeworfen zu werden dem ge¬
wissenhaften Lehrer oft schmerzlich genug ist. Die Schüler aber werden froher
zur Schule kommen, wenn die Schule keine Znchtanstalt mehr ist, sondern
eine Pflanzstätte der Menschlichkeit, wenn ihnen beim Eintritt ins Schul¬
zimmer nicht sofort die Marterinstrumente ins Ange fallen, als betraten sie
einen Zwinger, wo Raubtiere dressirt werden sollen. Ist das die Art, in
zarten Kindesgemütern Lernlust zu wecken? Fort mit dem Stock aus der
Volksschule! '




Die Prügelstrafe in der Volksschule

zieher führt sie im Munde. „Von sechs Schlägen gehören fünf dem Lehrer,"
sagt Kern. Wie würde der Schulmeister von Sadowa aussehen, wenn diese
Berechnung auf ihn angewendet würde!

Es muß unbedingt auf Abschaffung des Stockes auch aus der Volksschule
gedrungen werden. Nachdem dieses barbarische Instrument aus der Armee,
aus der höhern Schule, aus den: Zuchthaus und dem Gefängnis verbannt
worden ist, muß ihm auch die letzte Zufluchtstätte, die Volksschule, genommen
werden; hier bei den Kleinen ist es am wenigsten am Platz. Die Gefahr des
Mißbrauchs ist zu groß. Eine Kontrolle, eine Abwägung der Strafe ist un¬
möglich, sobald es einmal zugelassen wird. Die Hilflosigkeit des Kindes, das
Alleinsein des Lehrers — Eintritt ins Schulzimmer ist ja durch strenge Strafen
untersagt — begünstigen in bedenklichem Maße die häufige und ungerecht¬
fertigte Anwendung des Stockes. Der Lehrer ist Ankläger, Richter und Straf¬
vollstrecker in einer Person; wie leicht läßt sich der Richter vom Ankläger be¬
einflussen, zumal da dem Schüler kein Anwalt zur Seite steht! Denn auch
der Lehrer ist Mensch und ist Leidenschaften unterworfen. Und daß ein Teil
der Lehrer in Bezug auf Bescheidenheit, Demut, Selbstzucht — Eigenschaften, die
der Erzieher vor allem besitzen muß — nicht gerade den höchsten Rang ein¬
nimmt, wird wohl allerseits zugestanden werden. Von jedem Gebildeten er¬
wartet man, daß er sich bemeistern könne, selbst wo seine Geduld auf die
Probe gestellt wird, daß er nicht gleich wie der Raufbold dreinschlage. Das
wird auch der Lehrer lernen müssen. Er studire nur die Kindesuatur, be¬
trachte das Schülermaterial nicht als wissenschaftlichen Schleifstein für seine
Geistesschärfung und seine pädagogischen Experimente, sondern, wie Comenius
sagt, als „die Figürchen des lebendigen Gottes" und bedenke, daß er uicht
eine Schulherrschaft, sondern einen Schuldienst übernommen, also Pflichten zu
üben hat, die tiefes Wissen, edle Charaktereigenschaften und reines Streben
erfordern. Ist er von diesem Gedanken erfüllt, so wird er seinen Stolz
darein setzen, ohne Gewaltmittel auszukommen, und der unselige Zwiespalt
zwischen Haus und Schule wird schwinden, der jetzt eine gedeihliche Kinder¬
erziehung so erschwert. Der Lehrerstnnd wird geachteter dastehen, wenn die
Glieder ausgemerzt sind, mit denen zusammengeworfen zu werden dem ge¬
wissenhaften Lehrer oft schmerzlich genug ist. Die Schüler aber werden froher
zur Schule kommen, wenn die Schule keine Znchtanstalt mehr ist, sondern
eine Pflanzstätte der Menschlichkeit, wenn ihnen beim Eintritt ins Schul¬
zimmer nicht sofort die Marterinstrumente ins Ange fallen, als betraten sie
einen Zwinger, wo Raubtiere dressirt werden sollen. Ist das die Art, in
zarten Kindesgemütern Lernlust zu wecken? Fort mit dem Stock aus der
Volksschule! '




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/86>, abgerufen am 15.06.2024.