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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Über allen Gipfeln

jeder Gelegenheit auf die Thatsache hinzuweisen, daß im Nathan sein Glaubens¬
bekenntnis enthalten sei. Aus beiden Thatsachen aber kaun hier die dritte ab¬
gezogen werden, daß Lessing sein Verhalten jedesmal nach der Lage der Dinge
einrichtete. Auf den groben Klotz gehörte der grobe Keil, und der schlug
unter den Hieben des schärfsten Verstandes und glänzendsten Witzes unfehlbar
durch. Als es sich aber um die ganze Sache handelte, die nicht bloß die seine,
sondern mehr als jede andre die der Menschheit war, entstand der Nathan,
der noch lange in Kunst und Leben für suchende Menschen der weithin sichtbare
Wegweiser sein wird. In der Kunst nicht weniger als irgend eine der großen
Dichtungen, die das Erbteil aller Völker sind. Lessing war allzu bescheiden,
als er sich selber mehr für einen Mann der Wissenschaft als für einen Dichter
erklärte. Mit dem Nathan allein kann man den Beweis vom Gegenteil führen,
besonders darin, daß der Dichter, der in seinem Kunstwerk zur Menschheit
sprechen will, selber gewissermaßen alles Menschliche abgestreift haben muß.
Gott läßt seinen Regen strömen über Gerechte und Ungerechte; so soll auch
der Dichter jenseits von Gut und Böse seinen Platz haben. Wenn das
Friedrich Nietzsche mit seinen bekannten Worten gemeint hätte, könnte man
ihm nur Recht geben. Es giebt aber keine Dichtung alter und neuer Zeit,
weder Epos noch Drama, worin sich sein Schöpfer unsichtbarer über den
Wolken hielte, aus denen sich Blitz und Donner der Handlung entladen, als
der Dichter Lessing über den dramatischen Vorgängen, die sich in seinem Nathan
abspielen.

Und doch enthält dieses Drama das Glaubensbekenntnis des großen
Mannes. Warum auch nicht? Jedes Lied, jede Dichtung ist ein Teil von
dem Leben und Sein, von dem Glauben und den Zweifeln seines Verfassers;
es kommt nur darauf an, wie es sich äußert. Lessing hat mit dem Verfasser
der Ilias und der Odyssee, mit dem Dichter des Nibelungenliedes, mit Shake¬
speare, mit Cervantes und Goethe das gemein, daß nicht er selber redet und
handelt, sondern daß er das die Menschen thun läßt, die er in seine Dichtung
hineinstellt. Von Lessing sieht und merkt man im Nathan gar nichts; alles,
was geschieht, erscheint "als naturnotwendige Folge der auf die verschiednen
Charaktere wirkenden Beweggründe. Die folgerichtige Durchführung des Ge¬
dankens, der Schönheit der Sprache sind etwas sehr wesentliches, aber sie sind
nicht die Hauptsache. Diese beruht in der völligen Abwesenheit jeder andern
Tendenz, als der, die auf die Wahrheit gerichtet ist. Diese Wahrheit aber
liegt nicht einseitig in dem Subjekt des Dichters, sondern in den Dingen, und
zwar an ihrer Innenseite." Hier soll er sie ergründen und sie dann zur Dar¬
stellung bringen, ohne merken zu lassen, ob sie ihm selber Freude oder Verdruß,
Lust oder Schmerz bereitet. Damit ist seine Thätigkeit keine andre, als die
des ehrlichen Makkers, der von der Wahrheit, die er übermittelt, weder etwas
für sich behält, noch von dem seinigen etwas hinzuthut. Je unmittelbarer diese


Über allen Gipfeln

jeder Gelegenheit auf die Thatsache hinzuweisen, daß im Nathan sein Glaubens¬
bekenntnis enthalten sei. Aus beiden Thatsachen aber kaun hier die dritte ab¬
gezogen werden, daß Lessing sein Verhalten jedesmal nach der Lage der Dinge
einrichtete. Auf den groben Klotz gehörte der grobe Keil, und der schlug
unter den Hieben des schärfsten Verstandes und glänzendsten Witzes unfehlbar
durch. Als es sich aber um die ganze Sache handelte, die nicht bloß die seine,
sondern mehr als jede andre die der Menschheit war, entstand der Nathan,
der noch lange in Kunst und Leben für suchende Menschen der weithin sichtbare
Wegweiser sein wird. In der Kunst nicht weniger als irgend eine der großen
Dichtungen, die das Erbteil aller Völker sind. Lessing war allzu bescheiden,
als er sich selber mehr für einen Mann der Wissenschaft als für einen Dichter
erklärte. Mit dem Nathan allein kann man den Beweis vom Gegenteil führen,
besonders darin, daß der Dichter, der in seinem Kunstwerk zur Menschheit
sprechen will, selber gewissermaßen alles Menschliche abgestreift haben muß.
Gott läßt seinen Regen strömen über Gerechte und Ungerechte; so soll auch
der Dichter jenseits von Gut und Böse seinen Platz haben. Wenn das
Friedrich Nietzsche mit seinen bekannten Worten gemeint hätte, könnte man
ihm nur Recht geben. Es giebt aber keine Dichtung alter und neuer Zeit,
weder Epos noch Drama, worin sich sein Schöpfer unsichtbarer über den
Wolken hielte, aus denen sich Blitz und Donner der Handlung entladen, als
der Dichter Lessing über den dramatischen Vorgängen, die sich in seinem Nathan
abspielen.

Und doch enthält dieses Drama das Glaubensbekenntnis des großen
Mannes. Warum auch nicht? Jedes Lied, jede Dichtung ist ein Teil von
dem Leben und Sein, von dem Glauben und den Zweifeln seines Verfassers;
es kommt nur darauf an, wie es sich äußert. Lessing hat mit dem Verfasser
der Ilias und der Odyssee, mit dem Dichter des Nibelungenliedes, mit Shake¬
speare, mit Cervantes und Goethe das gemein, daß nicht er selber redet und
handelt, sondern daß er das die Menschen thun läßt, die er in seine Dichtung
hineinstellt. Von Lessing sieht und merkt man im Nathan gar nichts; alles,
was geschieht, erscheint „als naturnotwendige Folge der auf die verschiednen
Charaktere wirkenden Beweggründe. Die folgerichtige Durchführung des Ge¬
dankens, der Schönheit der Sprache sind etwas sehr wesentliches, aber sie sind
nicht die Hauptsache. Diese beruht in der völligen Abwesenheit jeder andern
Tendenz, als der, die auf die Wahrheit gerichtet ist. Diese Wahrheit aber
liegt nicht einseitig in dem Subjekt des Dichters, sondern in den Dingen, und
zwar an ihrer Innenseite." Hier soll er sie ergründen und sie dann zur Dar¬
stellung bringen, ohne merken zu lassen, ob sie ihm selber Freude oder Verdruß,
Lust oder Schmerz bereitet. Damit ist seine Thätigkeit keine andre, als die
des ehrlichen Makkers, der von der Wahrheit, die er übermittelt, weder etwas
für sich behält, noch von dem seinigen etwas hinzuthut. Je unmittelbarer diese


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[0144] Über allen Gipfeln jeder Gelegenheit auf die Thatsache hinzuweisen, daß im Nathan sein Glaubens¬ bekenntnis enthalten sei. Aus beiden Thatsachen aber kaun hier die dritte ab¬ gezogen werden, daß Lessing sein Verhalten jedesmal nach der Lage der Dinge einrichtete. Auf den groben Klotz gehörte der grobe Keil, und der schlug unter den Hieben des schärfsten Verstandes und glänzendsten Witzes unfehlbar durch. Als es sich aber um die ganze Sache handelte, die nicht bloß die seine, sondern mehr als jede andre die der Menschheit war, entstand der Nathan, der noch lange in Kunst und Leben für suchende Menschen der weithin sichtbare Wegweiser sein wird. In der Kunst nicht weniger als irgend eine der großen Dichtungen, die das Erbteil aller Völker sind. Lessing war allzu bescheiden, als er sich selber mehr für einen Mann der Wissenschaft als für einen Dichter erklärte. Mit dem Nathan allein kann man den Beweis vom Gegenteil führen, besonders darin, daß der Dichter, der in seinem Kunstwerk zur Menschheit sprechen will, selber gewissermaßen alles Menschliche abgestreift haben muß. Gott läßt seinen Regen strömen über Gerechte und Ungerechte; so soll auch der Dichter jenseits von Gut und Böse seinen Platz haben. Wenn das Friedrich Nietzsche mit seinen bekannten Worten gemeint hätte, könnte man ihm nur Recht geben. Es giebt aber keine Dichtung alter und neuer Zeit, weder Epos noch Drama, worin sich sein Schöpfer unsichtbarer über den Wolken hielte, aus denen sich Blitz und Donner der Handlung entladen, als der Dichter Lessing über den dramatischen Vorgängen, die sich in seinem Nathan abspielen. Und doch enthält dieses Drama das Glaubensbekenntnis des großen Mannes. Warum auch nicht? Jedes Lied, jede Dichtung ist ein Teil von dem Leben und Sein, von dem Glauben und den Zweifeln seines Verfassers; es kommt nur darauf an, wie es sich äußert. Lessing hat mit dem Verfasser der Ilias und der Odyssee, mit dem Dichter des Nibelungenliedes, mit Shake¬ speare, mit Cervantes und Goethe das gemein, daß nicht er selber redet und handelt, sondern daß er das die Menschen thun läßt, die er in seine Dichtung hineinstellt. Von Lessing sieht und merkt man im Nathan gar nichts; alles, was geschieht, erscheint „als naturnotwendige Folge der auf die verschiednen Charaktere wirkenden Beweggründe. Die folgerichtige Durchführung des Ge¬ dankens, der Schönheit der Sprache sind etwas sehr wesentliches, aber sie sind nicht die Hauptsache. Diese beruht in der völligen Abwesenheit jeder andern Tendenz, als der, die auf die Wahrheit gerichtet ist. Diese Wahrheit aber liegt nicht einseitig in dem Subjekt des Dichters, sondern in den Dingen, und zwar an ihrer Innenseite." Hier soll er sie ergründen und sie dann zur Dar¬ stellung bringen, ohne merken zu lassen, ob sie ihm selber Freude oder Verdruß, Lust oder Schmerz bereitet. Damit ist seine Thätigkeit keine andre, als die des ehrlichen Makkers, der von der Wahrheit, die er übermittelt, weder etwas für sich behält, noch von dem seinigen etwas hinzuthut. Je unmittelbarer diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/144>, abgerufen am 08.05.2024.