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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Der Vsten und der Westen des Reichs und der wirtschaftliche Ausgleich

Körper vergleichen, der sich, wie die Erde nach der Kant-Laplaceschen Welt¬
theorie, aus einer Gasmasse verdichtet hat. Die einzelnen Bestandteile diffun-
diren über unbestimmte Grenzen. Der Verkehr zwischen ihnen ist gering.
Der Göte ist Gode, was geht ihn der Chatte an? Das Reich Karls des
Großen und seiner Nachfolger ist kein Staat, sondern eine Welthierarchie mit
zwei Köpfen: Kaiser und Papst. Die eigentlichen Staatsausgaben fallen ört¬
lichen Gewalthabern und Mächten zu. Diese haben aber nur ihr eignes Interesse
und schließen sich gegen einander ab. Der Verkehr bleibt in örtliche Fesseln
gebannt, und nur wo er diese einmal durchbricht, zeigt sich eine kurze Blüte
des Landes. So bleibt es bis in die neue Zeit.

Aber merkwürdigerweise sind alle diese abgeschlossenen Lünderteile in einem
Punkt einmütig bei der Arbeit: in der Kolonisation des Ostens. Das Deutschtum
dringt vor in Österreich, Ungarn, Siebenbürgen, Mähren und Böhmen; es
wirft im Ostseebezirk Slawen und Prutenen zurück, und in die Brandenburger
Marken, nach Pommern, Mecklenburg, Schlesien wandern einträchtiglich mit
einander Franken, Westfalen, Niedersachsen und Thüringer. Der deutsche
Orden erobert Preußen; unter seinen Fahnen fechten fränkische, sächsische,
schwäbische Edle. Bauern und Bürger schieben sich nach, in gleicher Mischung
aus allen deutschen Gauen. Und die Slawengefahr, Kriegs- und Leibcsnot
Schweiße die Scharen zusammen, daß sie ihre Stämme vergessen und sich sühlen
als eine Nation, als Deutsche unter den halben Barbaren. Ein Gegensatz zur
Heimat bildet sich hier noch nicht. Kaufleute ziehen von hüben und drüben.
Das Reich giebt Hilfe, wenn die Not dringend wird. Man hält die Ostmarken
wert. Die hohenzollerschen Franken bilden ein festes Bindeglied. Aber das
Reich bekommt bald mit sich selbst zu thun. Der Orden der Deutschritter
zerfällt, von der Heimat schnöde im Stich gelassen. Die Ostlinge bauen ihren
eignen Staat, und allmählich ist die nahe Beziehung im Westen und Süden
vergessen. Der Osten macht von sich reden; aber es ist meist die Person
einzelner großer Fürsten, die Interesse erweckt. Land und Leute, ihre Art und
Sitte. Denkweise und Lebensgewohnheit kennt man nicht. Der Handel des
Ostens geht über die See seine eignen Wege. So wird man einander fremd
und bleibt einander fremd bis in den Anfang dieses Jahrhunderts. Es fehlt
der Verkehr und damit die Gemeinsamkeit der Interessen.

Im Reiche aber ist man unterdes nicht vorwärts-, sondern zurückgekommen.
Kriege zerfleischen das Land. Die wirtschaftliche Einheit kann sich nirgends
durchringen. Denn die Adern ihres Organismus, die Verkehrswege, werden
geschröpft und unterbunden, wo es nur angeht. Um der Landräuber, um der
Zölle, Auflagen, Schoß- und Kopfgelder halben weicht der Verkehr von den
Landstraßen auf das Wasser, um der Seeräuber, Passagezölle, Durchgangs¬
steuern, Stapelgelder halben flieht er später wieder vom Wasser auf die neue,
die freie Eisenbahn. Das Land, auch im Westen, ist wenig entwickelt. Frankreich
giebt kein Absatzgebiet, denn ein englischer Schriftsteller jener Zeit sagt von ihm:


Der Vsten und der Westen des Reichs und der wirtschaftliche Ausgleich

Körper vergleichen, der sich, wie die Erde nach der Kant-Laplaceschen Welt¬
theorie, aus einer Gasmasse verdichtet hat. Die einzelnen Bestandteile diffun-
diren über unbestimmte Grenzen. Der Verkehr zwischen ihnen ist gering.
Der Göte ist Gode, was geht ihn der Chatte an? Das Reich Karls des
Großen und seiner Nachfolger ist kein Staat, sondern eine Welthierarchie mit
zwei Köpfen: Kaiser und Papst. Die eigentlichen Staatsausgaben fallen ört¬
lichen Gewalthabern und Mächten zu. Diese haben aber nur ihr eignes Interesse
und schließen sich gegen einander ab. Der Verkehr bleibt in örtliche Fesseln
gebannt, und nur wo er diese einmal durchbricht, zeigt sich eine kurze Blüte
des Landes. So bleibt es bis in die neue Zeit.

Aber merkwürdigerweise sind alle diese abgeschlossenen Lünderteile in einem
Punkt einmütig bei der Arbeit: in der Kolonisation des Ostens. Das Deutschtum
dringt vor in Österreich, Ungarn, Siebenbürgen, Mähren und Böhmen; es
wirft im Ostseebezirk Slawen und Prutenen zurück, und in die Brandenburger
Marken, nach Pommern, Mecklenburg, Schlesien wandern einträchtiglich mit
einander Franken, Westfalen, Niedersachsen und Thüringer. Der deutsche
Orden erobert Preußen; unter seinen Fahnen fechten fränkische, sächsische,
schwäbische Edle. Bauern und Bürger schieben sich nach, in gleicher Mischung
aus allen deutschen Gauen. Und die Slawengefahr, Kriegs- und Leibcsnot
Schweiße die Scharen zusammen, daß sie ihre Stämme vergessen und sich sühlen
als eine Nation, als Deutsche unter den halben Barbaren. Ein Gegensatz zur
Heimat bildet sich hier noch nicht. Kaufleute ziehen von hüben und drüben.
Das Reich giebt Hilfe, wenn die Not dringend wird. Man hält die Ostmarken
wert. Die hohenzollerschen Franken bilden ein festes Bindeglied. Aber das
Reich bekommt bald mit sich selbst zu thun. Der Orden der Deutschritter
zerfällt, von der Heimat schnöde im Stich gelassen. Die Ostlinge bauen ihren
eignen Staat, und allmählich ist die nahe Beziehung im Westen und Süden
vergessen. Der Osten macht von sich reden; aber es ist meist die Person
einzelner großer Fürsten, die Interesse erweckt. Land und Leute, ihre Art und
Sitte. Denkweise und Lebensgewohnheit kennt man nicht. Der Handel des
Ostens geht über die See seine eignen Wege. So wird man einander fremd
und bleibt einander fremd bis in den Anfang dieses Jahrhunderts. Es fehlt
der Verkehr und damit die Gemeinsamkeit der Interessen.

Im Reiche aber ist man unterdes nicht vorwärts-, sondern zurückgekommen.
Kriege zerfleischen das Land. Die wirtschaftliche Einheit kann sich nirgends
durchringen. Denn die Adern ihres Organismus, die Verkehrswege, werden
geschröpft und unterbunden, wo es nur angeht. Um der Landräuber, um der
Zölle, Auflagen, Schoß- und Kopfgelder halben weicht der Verkehr von den
Landstraßen auf das Wasser, um der Seeräuber, Passagezölle, Durchgangs¬
steuern, Stapelgelder halben flieht er später wieder vom Wasser auf die neue,
die freie Eisenbahn. Das Land, auch im Westen, ist wenig entwickelt. Frankreich
giebt kein Absatzgebiet, denn ein englischer Schriftsteller jener Zeit sagt von ihm:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/15>, abgerufen am 01.11.2024.