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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Homerische Frage

am Anfange, sondern auf dem Höhepunkte der epischen Dichtung der Griechen
Die Untersuchungen, die einen "Kern" aus Ilias und Odyssee und andrerseits
fremde Zusätze auszuscheiden unternommen haben, sind zwar darin als ge¬
scheitert anzusehen, daß sie die verschiednen Bestandteile bis auf den Vers
glauben sondern zu können, aber sie haben es doch im höchsten Maße wahr¬
scheinlich gemacht, daß schon vor Homer nicht bloß Einzellieder, sondern auch
größere zusammenhängende Dichtungen vorhanden waren, an denen sich Homer
ein Muster nehmen und die er in seinen Werken verwenden konnte. Zu dem¬
selben Ergebnis führen die Beobachtungen des Sprachgebrauchs. Wenn wir
selbst in den besten und ältesten Teilen der Dichtungen viel formelhafte
Wendungen und ganze Versreihen finden, die bei strenger Beurteilung an der
betreffenden Stelle nicht ganz passen, so beweist das, daß Homer auch das
vorhandne Versgut reichlich benutzt hat, an der einen Stelle mit größerm, an
der andern mit geringerm Glück -- wie es menschlich ist. Aber -- und das
hat Homer zum wirklichen Dichter gemacht -- diese Abhängigkeit ist keine
sklavische, sie hat die mächtige Entfaltung dichterischer Eigenthätigkeit nicht ge¬
hindert. Gerade wo er zum Herzen spricht, wo er selbst am meisten innerlich
erregt erscheint, ist auch seine Sprache freier und edler, während Szenen, die
für die Handlung gleichartiger sind, auch sprachlich oft die größten Anstöße
bieten und deshalb zu so wegwerfenden Urteil geführt haben. Aber auch
damit steht Homer nicht allein da. Ich will nur auf den ähnlichen Wechsel
bei Shakespeare hinweisen, und auch von Schiller ist bekannt, daß er die
Dichtungen, die ihn gemütlich interessirten, auch sprachlich edler und erhabner
gestaltet hat.

Der Streit über Homer ist mit außerordentlicher Heftigkeit und Er¬
bitterung geführt worden; schonungslos und in den stärksten Ausdrücken haben
die Gegner einander angegriffen wie nur irgend in einer religiösen oder wirt¬
schaftlichen Frage. Wenn jetzt auch auf diesem Gebiete, wie im achtzehnten
Jahrhundert nach den erbitterten Religionskämpfen im sechzehnten und sieb¬
zehnte" Jahrhundert, größere Ruhe eingetreten ist, so mag uns das ein Trost
sein und zugleich die Hoffnung geben, daß andre Streitfragen, in denen wir
jetzt mitten drin stehen, und die uns durch ihre Heftigkeit erschrecken, allmählich
einer ruhigern und gerechtern Auffassung Platz machen werden.




Die Homerische Frage

am Anfange, sondern auf dem Höhepunkte der epischen Dichtung der Griechen
Die Untersuchungen, die einen „Kern" aus Ilias und Odyssee und andrerseits
fremde Zusätze auszuscheiden unternommen haben, sind zwar darin als ge¬
scheitert anzusehen, daß sie die verschiednen Bestandteile bis auf den Vers
glauben sondern zu können, aber sie haben es doch im höchsten Maße wahr¬
scheinlich gemacht, daß schon vor Homer nicht bloß Einzellieder, sondern auch
größere zusammenhängende Dichtungen vorhanden waren, an denen sich Homer
ein Muster nehmen und die er in seinen Werken verwenden konnte. Zu dem¬
selben Ergebnis führen die Beobachtungen des Sprachgebrauchs. Wenn wir
selbst in den besten und ältesten Teilen der Dichtungen viel formelhafte
Wendungen und ganze Versreihen finden, die bei strenger Beurteilung an der
betreffenden Stelle nicht ganz passen, so beweist das, daß Homer auch das
vorhandne Versgut reichlich benutzt hat, an der einen Stelle mit größerm, an
der andern mit geringerm Glück — wie es menschlich ist. Aber — und das
hat Homer zum wirklichen Dichter gemacht — diese Abhängigkeit ist keine
sklavische, sie hat die mächtige Entfaltung dichterischer Eigenthätigkeit nicht ge¬
hindert. Gerade wo er zum Herzen spricht, wo er selbst am meisten innerlich
erregt erscheint, ist auch seine Sprache freier und edler, während Szenen, die
für die Handlung gleichartiger sind, auch sprachlich oft die größten Anstöße
bieten und deshalb zu so wegwerfenden Urteil geführt haben. Aber auch
damit steht Homer nicht allein da. Ich will nur auf den ähnlichen Wechsel
bei Shakespeare hinweisen, und auch von Schiller ist bekannt, daß er die
Dichtungen, die ihn gemütlich interessirten, auch sprachlich edler und erhabner
gestaltet hat.

Der Streit über Homer ist mit außerordentlicher Heftigkeit und Er¬
bitterung geführt worden; schonungslos und in den stärksten Ausdrücken haben
die Gegner einander angegriffen wie nur irgend in einer religiösen oder wirt¬
schaftlichen Frage. Wenn jetzt auch auf diesem Gebiete, wie im achtzehnten
Jahrhundert nach den erbitterten Religionskämpfen im sechzehnten und sieb¬
zehnte» Jahrhundert, größere Ruhe eingetreten ist, so mag uns das ein Trost
sein und zugleich die Hoffnung geben, daß andre Streitfragen, in denen wir
jetzt mitten drin stehen, und die uns durch ihre Heftigkeit erschrecken, allmählich
einer ruhigern und gerechtern Auffassung Platz machen werden.




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[0469] Die Homerische Frage am Anfange, sondern auf dem Höhepunkte der epischen Dichtung der Griechen Die Untersuchungen, die einen „Kern" aus Ilias und Odyssee und andrerseits fremde Zusätze auszuscheiden unternommen haben, sind zwar darin als ge¬ scheitert anzusehen, daß sie die verschiednen Bestandteile bis auf den Vers glauben sondern zu können, aber sie haben es doch im höchsten Maße wahr¬ scheinlich gemacht, daß schon vor Homer nicht bloß Einzellieder, sondern auch größere zusammenhängende Dichtungen vorhanden waren, an denen sich Homer ein Muster nehmen und die er in seinen Werken verwenden konnte. Zu dem¬ selben Ergebnis führen die Beobachtungen des Sprachgebrauchs. Wenn wir selbst in den besten und ältesten Teilen der Dichtungen viel formelhafte Wendungen und ganze Versreihen finden, die bei strenger Beurteilung an der betreffenden Stelle nicht ganz passen, so beweist das, daß Homer auch das vorhandne Versgut reichlich benutzt hat, an der einen Stelle mit größerm, an der andern mit geringerm Glück — wie es menschlich ist. Aber — und das hat Homer zum wirklichen Dichter gemacht — diese Abhängigkeit ist keine sklavische, sie hat die mächtige Entfaltung dichterischer Eigenthätigkeit nicht ge¬ hindert. Gerade wo er zum Herzen spricht, wo er selbst am meisten innerlich erregt erscheint, ist auch seine Sprache freier und edler, während Szenen, die für die Handlung gleichartiger sind, auch sprachlich oft die größten Anstöße bieten und deshalb zu so wegwerfenden Urteil geführt haben. Aber auch damit steht Homer nicht allein da. Ich will nur auf den ähnlichen Wechsel bei Shakespeare hinweisen, und auch von Schiller ist bekannt, daß er die Dichtungen, die ihn gemütlich interessirten, auch sprachlich edler und erhabner gestaltet hat. Der Streit über Homer ist mit außerordentlicher Heftigkeit und Er¬ bitterung geführt worden; schonungslos und in den stärksten Ausdrücken haben die Gegner einander angegriffen wie nur irgend in einer religiösen oder wirt¬ schaftlichen Frage. Wenn jetzt auch auf diesem Gebiete, wie im achtzehnten Jahrhundert nach den erbitterten Religionskämpfen im sechzehnten und sieb¬ zehnte» Jahrhundert, größere Ruhe eingetreten ist, so mag uns das ein Trost sein und zugleich die Hoffnung geben, daß andre Streitfragen, in denen wir jetzt mitten drin stehen, und die uns durch ihre Heftigkeit erschrecken, allmählich einer ruhigern und gerechtern Auffassung Platz machen werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/469>, abgerufen am 12.06.2024.