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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Der Tuchmacherstreik in Aottbus

vieler Menschen müßte tumultucirische Auftritte zur Folge gehabt haben, ein
nervöses Auf- und Abwogen der Menge in den Straßen, überhaupt eine leiden¬
schaftliche Erregung der Gemüter. Aber davon war kaum etwas zu merken.
Die Streitenden besuchten ihre Versammlungen, gingen pflichtmäßig in die
Wirtshäuser, um ihre Streikkarten abstempeln zu lassen und ein wenig zu
Plaudern, und lebten sonst in stiller Zurückgezogenheit. Nachdem anfänglich
einige Übertretungen der gesetzlichen Ordnung, sogar einige blutige Zusammen¬
stöße zwischen den Arbeitern selbst stattgefunden hatten, übten sie später,
wie es scheint, selbst Polizeidienste aus und nahmen sich auch mit freundlicher
Teilnahme der Vetrunknen an, indem sie sie nach Hause brachten und sie daran
hinderten, in ihrem der Ermahnung unzugänglichen Zustande Szenen herauf¬
zubeschwören, durch die ihr Ruhm, sich musterhaft betragen zu haben, Einbuße
erlitten hätte. Ihre Haltung während des Streiks, auf die sie selbst stolz
sind, verdient auch ohne Zweifel alles Lob, wenngleich nicht vergessen werden
darf, daß ihnen sowohl durch scharfe Richtersprüche über ihre ersten Aus¬
schreitungen wie durch die Entfaltung einer großen Polizeigewalt die Wichtig¬
keit des Satzes, daß Ruhe die erste Bürgerpflicht sei, deutlich gemacht worden
war. Der Anblick eines halben Hunderts von Gendarmen, meist mächtiger
und imponirender Gestalten, die man neben den gewöhnlichen Polizeibeamten
langsam und ernst durch die Straßen Patrouilliren sah, war geeignet genug,
zum Nachdenken anzuregen; aber an deren Anwesenheit lag es sicher nicht
allein, daß die Ruhe der Stadt ungestört blieb, und daß selbst die Aufregung einer
nächtlichen Feuersbrunst, das Begräbnis des ehemaligen sozialdemokratischen
Vertrauensmannes und das bunte Jahrmarktstreiben ohne Versuchung vorüber¬
gegangen ist. Nach außen hin bot also die Stadt während des Streiks ein Bild
der Ruhe und des Friedens. Reiner als sonst wehte die Luft über Dächern und
Rauchschloten, hell leuchtete die Sonne über dem frischen Grün der aufschlagenden
Bäume, und lustig wie sonst spielten die Kinder auf allen Straßen; man konnte
es fast vergessen, daß Tausende von Menschen brotlos waren und sorgenvoll
"> die Zukunft blickten, daß eine blühende Industrie in Gefahr geraten war,
für längere Zeit, vielleicht für immer geschädigt zu werden.

Bis in die achtziger Jahre bestand in Kottbus nur die Streichgarnindustrie,
dann kam die Kammgarnweberei auf, deren Einführung es nötig machte, fremde
Arbeiter aus Sachsen und Österreich herbeizuziehen, da die einheimischen zuerst
der neuen Industrie wenig Neigung entgegenbrachten. Das wurde anders, als
sie sahen, daß von der neuen Weberei nicht nur ein goldner Strom in die eisernen
Schränke der Fabrikanten floß, sondern daß auch die dabei beschäftigten Ar¬
beiter höhere Löhne, zuweilen doppelt so hohe Löhne als die bisher üblichen
nach Hause brachten. Während aber vorher, wo die Löhne allgemein niedriger
gewesen waren, Zufriedenheit geherrscht hatte oder wenigstens ernstliche Zer¬
würfnisse nicht vorgekommen waren, setzte sich jetzt in ihren Herzen ein Stachel


Der Tuchmacherstreik in Aottbus

vieler Menschen müßte tumultucirische Auftritte zur Folge gehabt haben, ein
nervöses Auf- und Abwogen der Menge in den Straßen, überhaupt eine leiden¬
schaftliche Erregung der Gemüter. Aber davon war kaum etwas zu merken.
Die Streitenden besuchten ihre Versammlungen, gingen pflichtmäßig in die
Wirtshäuser, um ihre Streikkarten abstempeln zu lassen und ein wenig zu
Plaudern, und lebten sonst in stiller Zurückgezogenheit. Nachdem anfänglich
einige Übertretungen der gesetzlichen Ordnung, sogar einige blutige Zusammen¬
stöße zwischen den Arbeitern selbst stattgefunden hatten, übten sie später,
wie es scheint, selbst Polizeidienste aus und nahmen sich auch mit freundlicher
Teilnahme der Vetrunknen an, indem sie sie nach Hause brachten und sie daran
hinderten, in ihrem der Ermahnung unzugänglichen Zustande Szenen herauf¬
zubeschwören, durch die ihr Ruhm, sich musterhaft betragen zu haben, Einbuße
erlitten hätte. Ihre Haltung während des Streiks, auf die sie selbst stolz
sind, verdient auch ohne Zweifel alles Lob, wenngleich nicht vergessen werden
darf, daß ihnen sowohl durch scharfe Richtersprüche über ihre ersten Aus¬
schreitungen wie durch die Entfaltung einer großen Polizeigewalt die Wichtig¬
keit des Satzes, daß Ruhe die erste Bürgerpflicht sei, deutlich gemacht worden
war. Der Anblick eines halben Hunderts von Gendarmen, meist mächtiger
und imponirender Gestalten, die man neben den gewöhnlichen Polizeibeamten
langsam und ernst durch die Straßen Patrouilliren sah, war geeignet genug,
zum Nachdenken anzuregen; aber an deren Anwesenheit lag es sicher nicht
allein, daß die Ruhe der Stadt ungestört blieb, und daß selbst die Aufregung einer
nächtlichen Feuersbrunst, das Begräbnis des ehemaligen sozialdemokratischen
Vertrauensmannes und das bunte Jahrmarktstreiben ohne Versuchung vorüber¬
gegangen ist. Nach außen hin bot also die Stadt während des Streiks ein Bild
der Ruhe und des Friedens. Reiner als sonst wehte die Luft über Dächern und
Rauchschloten, hell leuchtete die Sonne über dem frischen Grün der aufschlagenden
Bäume, und lustig wie sonst spielten die Kinder auf allen Straßen; man konnte
es fast vergessen, daß Tausende von Menschen brotlos waren und sorgenvoll
"> die Zukunft blickten, daß eine blühende Industrie in Gefahr geraten war,
für längere Zeit, vielleicht für immer geschädigt zu werden.

Bis in die achtziger Jahre bestand in Kottbus nur die Streichgarnindustrie,
dann kam die Kammgarnweberei auf, deren Einführung es nötig machte, fremde
Arbeiter aus Sachsen und Österreich herbeizuziehen, da die einheimischen zuerst
der neuen Industrie wenig Neigung entgegenbrachten. Das wurde anders, als
sie sahen, daß von der neuen Weberei nicht nur ein goldner Strom in die eisernen
Schränke der Fabrikanten floß, sondern daß auch die dabei beschäftigten Ar¬
beiter höhere Löhne, zuweilen doppelt so hohe Löhne als die bisher üblichen
nach Hause brachten. Während aber vorher, wo die Löhne allgemein niedriger
gewesen waren, Zufriedenheit geherrscht hatte oder wenigstens ernstliche Zer¬
würfnisse nicht vorgekommen waren, setzte sich jetzt in ihren Herzen ein Stachel


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[0255] Der Tuchmacherstreik in Aottbus vieler Menschen müßte tumultucirische Auftritte zur Folge gehabt haben, ein nervöses Auf- und Abwogen der Menge in den Straßen, überhaupt eine leiden¬ schaftliche Erregung der Gemüter. Aber davon war kaum etwas zu merken. Die Streitenden besuchten ihre Versammlungen, gingen pflichtmäßig in die Wirtshäuser, um ihre Streikkarten abstempeln zu lassen und ein wenig zu Plaudern, und lebten sonst in stiller Zurückgezogenheit. Nachdem anfänglich einige Übertretungen der gesetzlichen Ordnung, sogar einige blutige Zusammen¬ stöße zwischen den Arbeitern selbst stattgefunden hatten, übten sie später, wie es scheint, selbst Polizeidienste aus und nahmen sich auch mit freundlicher Teilnahme der Vetrunknen an, indem sie sie nach Hause brachten und sie daran hinderten, in ihrem der Ermahnung unzugänglichen Zustande Szenen herauf¬ zubeschwören, durch die ihr Ruhm, sich musterhaft betragen zu haben, Einbuße erlitten hätte. Ihre Haltung während des Streiks, auf die sie selbst stolz sind, verdient auch ohne Zweifel alles Lob, wenngleich nicht vergessen werden darf, daß ihnen sowohl durch scharfe Richtersprüche über ihre ersten Aus¬ schreitungen wie durch die Entfaltung einer großen Polizeigewalt die Wichtig¬ keit des Satzes, daß Ruhe die erste Bürgerpflicht sei, deutlich gemacht worden war. Der Anblick eines halben Hunderts von Gendarmen, meist mächtiger und imponirender Gestalten, die man neben den gewöhnlichen Polizeibeamten langsam und ernst durch die Straßen Patrouilliren sah, war geeignet genug, zum Nachdenken anzuregen; aber an deren Anwesenheit lag es sicher nicht allein, daß die Ruhe der Stadt ungestört blieb, und daß selbst die Aufregung einer nächtlichen Feuersbrunst, das Begräbnis des ehemaligen sozialdemokratischen Vertrauensmannes und das bunte Jahrmarktstreiben ohne Versuchung vorüber¬ gegangen ist. Nach außen hin bot also die Stadt während des Streiks ein Bild der Ruhe und des Friedens. Reiner als sonst wehte die Luft über Dächern und Rauchschloten, hell leuchtete die Sonne über dem frischen Grün der aufschlagenden Bäume, und lustig wie sonst spielten die Kinder auf allen Straßen; man konnte es fast vergessen, daß Tausende von Menschen brotlos waren und sorgenvoll "> die Zukunft blickten, daß eine blühende Industrie in Gefahr geraten war, für längere Zeit, vielleicht für immer geschädigt zu werden. Bis in die achtziger Jahre bestand in Kottbus nur die Streichgarnindustrie, dann kam die Kammgarnweberei auf, deren Einführung es nötig machte, fremde Arbeiter aus Sachsen und Österreich herbeizuziehen, da die einheimischen zuerst der neuen Industrie wenig Neigung entgegenbrachten. Das wurde anders, als sie sahen, daß von der neuen Weberei nicht nur ein goldner Strom in die eisernen Schränke der Fabrikanten floß, sondern daß auch die dabei beschäftigten Ar¬ beiter höhere Löhne, zuweilen doppelt so hohe Löhne als die bisher üblichen nach Hause brachten. Während aber vorher, wo die Löhne allgemein niedriger gewesen waren, Zufriedenheit geherrscht hatte oder wenigstens ernstliche Zer¬ würfnisse nicht vorgekommen waren, setzte sich jetzt in ihren Herzen ein Stachel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/255>, abgerufen am 11.05.2024.