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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Adolf wilbrandt

Ehrgefühl durch kein Sophisma der ästhetischen Bildung verwirren läßt,"
empfand und erkannte Wilbrandt eines der Vorbilder, denen uachzuringen ihm
als rühmlich und rätlich galt. Auch in späterer Zeit hat er in seinen Auf¬
sätzen über Hölderlin, Fritz Reuter und Lichtenberg eine kleine Reihe von
Lieblingsdichtern und Schriftstellern mit seiner Charakteristik und lebendigem
Eindringen in den innersten Kern ihres Wesens und Schaffens zu schildern
verstanden. Aber einem so unmittelbar leidenschaftlichen, eindringenden Anteil,
wie an der Erscheinung des Dichters der "Penthesilea" und des "Prinzen von
Homburg," begegnen wir in diesen Skizzen nicht, so interessante Zeugnisse sie
für Wilbrandts feine Empfänglichkeit nud Mitempfindung an lebendigen Ge¬
stalten, Bildungen und Schicksalen bleiben.

Als Dichter trat Wilbrandt zuerst mit dem dreibändigen Roman "Geister
und Menschen" hervor (1864), der es recht deutlich macht, in welchem Kampfe
der werdende Künstler steht, der schon ein Stück eignes Leben in sich trägt,
nach dessen Verkörperung verlangt und auf der andern Seite sich doch bewußt
bleibt, daß die längst gewonnenen Formen der poetischen Überlieferung nichts
Gleichgültiges, Zufälliges sind, daß sie mit der jeweiligen künstlerischen Aufgabe
in einem unlösbaren Zusammenhange stehen. Drängte es nun den jungen
Dichter seiue Sporen an einem Bildungsroman zu verdienen, der die ganze
Weltbreite überschaute und alle die Zeit durchschießenden Strahlen in einem
Brennpunkte zu sammeln suchte, so war es gewissermaßen unvermeidlich, daß
er ins Fahrwasser des Wilhelm Meister geriet, so riesengroß auch der Abstand
zwischen seiner Unreife und der klaren Meisterschaft Goethes, zwischen den
hellen, heitern Bildungsinteressen des ausklingenden achtzehnten Jahrhunderts
und dem politischen Drange des neunzehnten Jahrhunderts sein mochte. Das
Bewußtsein, daß das geplante Weltbild einen groß angelegten, klassisch objekti-
virten Roman fordere, und der Widerspruch leidenschaftlicher Empfindungen
und überreizter Reflexionen mit der gewählten überlieferten Form, macht das
Buch zu einer merkwürdig ungleichen Produktion, in der die Bedeutung des
Einzelnen die Mißverhältnisse des Ganzen nicht zu beseitigen, das Feuer des
eignen Erlebnisses, wirklich poetischer Anschauung die spröden Massen der
geistigen Vielseitigkeit, der bloß gelesenen und ersonnenen Dinge nicht zu durch¬
glühen und in Fluß zu bringen vermochte.

Vvllgiltigere Zeugnisse seines Talents und seiner künstlerischen Fähigkeit,
das Geschaute und Erdachte warm zu beleben, gaben noch in den sechziger
und ersten siebziger Jahren, also in der ersten Periode des Dichters, die beiden
Bände seiner "Novellen" (1869) und "Neuen Novellen" (1870), die kleinen
und größern Lustspiele. Und auch da läßt sich genau erkennen, daß noch zwei
geistige Strömungen in seiner Natur und Phantasie nebeneinander herliefen.
Die Einwirkungen einer an Tieck und andern Klassikern der Novelle geschulten
Kunst, das Wohlgefallen am absonderlichen Problem, ohne daß der Dichter


Adolf wilbrandt

Ehrgefühl durch kein Sophisma der ästhetischen Bildung verwirren läßt,"
empfand und erkannte Wilbrandt eines der Vorbilder, denen uachzuringen ihm
als rühmlich und rätlich galt. Auch in späterer Zeit hat er in seinen Auf¬
sätzen über Hölderlin, Fritz Reuter und Lichtenberg eine kleine Reihe von
Lieblingsdichtern und Schriftstellern mit seiner Charakteristik und lebendigem
Eindringen in den innersten Kern ihres Wesens und Schaffens zu schildern
verstanden. Aber einem so unmittelbar leidenschaftlichen, eindringenden Anteil,
wie an der Erscheinung des Dichters der „Penthesilea" und des „Prinzen von
Homburg," begegnen wir in diesen Skizzen nicht, so interessante Zeugnisse sie
für Wilbrandts feine Empfänglichkeit nud Mitempfindung an lebendigen Ge¬
stalten, Bildungen und Schicksalen bleiben.

Als Dichter trat Wilbrandt zuerst mit dem dreibändigen Roman „Geister
und Menschen" hervor (1864), der es recht deutlich macht, in welchem Kampfe
der werdende Künstler steht, der schon ein Stück eignes Leben in sich trägt,
nach dessen Verkörperung verlangt und auf der andern Seite sich doch bewußt
bleibt, daß die längst gewonnenen Formen der poetischen Überlieferung nichts
Gleichgültiges, Zufälliges sind, daß sie mit der jeweiligen künstlerischen Aufgabe
in einem unlösbaren Zusammenhange stehen. Drängte es nun den jungen
Dichter seiue Sporen an einem Bildungsroman zu verdienen, der die ganze
Weltbreite überschaute und alle die Zeit durchschießenden Strahlen in einem
Brennpunkte zu sammeln suchte, so war es gewissermaßen unvermeidlich, daß
er ins Fahrwasser des Wilhelm Meister geriet, so riesengroß auch der Abstand
zwischen seiner Unreife und der klaren Meisterschaft Goethes, zwischen den
hellen, heitern Bildungsinteressen des ausklingenden achtzehnten Jahrhunderts
und dem politischen Drange des neunzehnten Jahrhunderts sein mochte. Das
Bewußtsein, daß das geplante Weltbild einen groß angelegten, klassisch objekti-
virten Roman fordere, und der Widerspruch leidenschaftlicher Empfindungen
und überreizter Reflexionen mit der gewählten überlieferten Form, macht das
Buch zu einer merkwürdig ungleichen Produktion, in der die Bedeutung des
Einzelnen die Mißverhältnisse des Ganzen nicht zu beseitigen, das Feuer des
eignen Erlebnisses, wirklich poetischer Anschauung die spröden Massen der
geistigen Vielseitigkeit, der bloß gelesenen und ersonnenen Dinge nicht zu durch¬
glühen und in Fluß zu bringen vermochte.

Vvllgiltigere Zeugnisse seines Talents und seiner künstlerischen Fähigkeit,
das Geschaute und Erdachte warm zu beleben, gaben noch in den sechziger
und ersten siebziger Jahren, also in der ersten Periode des Dichters, die beiden
Bände seiner „Novellen" (1869) und „Neuen Novellen" (1870), die kleinen
und größern Lustspiele. Und auch da läßt sich genau erkennen, daß noch zwei
geistige Strömungen in seiner Natur und Phantasie nebeneinander herliefen.
Die Einwirkungen einer an Tieck und andern Klassikern der Novelle geschulten
Kunst, das Wohlgefallen am absonderlichen Problem, ohne daß der Dichter


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[0029] Adolf wilbrandt Ehrgefühl durch kein Sophisma der ästhetischen Bildung verwirren läßt," empfand und erkannte Wilbrandt eines der Vorbilder, denen uachzuringen ihm als rühmlich und rätlich galt. Auch in späterer Zeit hat er in seinen Auf¬ sätzen über Hölderlin, Fritz Reuter und Lichtenberg eine kleine Reihe von Lieblingsdichtern und Schriftstellern mit seiner Charakteristik und lebendigem Eindringen in den innersten Kern ihres Wesens und Schaffens zu schildern verstanden. Aber einem so unmittelbar leidenschaftlichen, eindringenden Anteil, wie an der Erscheinung des Dichters der „Penthesilea" und des „Prinzen von Homburg," begegnen wir in diesen Skizzen nicht, so interessante Zeugnisse sie für Wilbrandts feine Empfänglichkeit nud Mitempfindung an lebendigen Ge¬ stalten, Bildungen und Schicksalen bleiben. Als Dichter trat Wilbrandt zuerst mit dem dreibändigen Roman „Geister und Menschen" hervor (1864), der es recht deutlich macht, in welchem Kampfe der werdende Künstler steht, der schon ein Stück eignes Leben in sich trägt, nach dessen Verkörperung verlangt und auf der andern Seite sich doch bewußt bleibt, daß die längst gewonnenen Formen der poetischen Überlieferung nichts Gleichgültiges, Zufälliges sind, daß sie mit der jeweiligen künstlerischen Aufgabe in einem unlösbaren Zusammenhange stehen. Drängte es nun den jungen Dichter seiue Sporen an einem Bildungsroman zu verdienen, der die ganze Weltbreite überschaute und alle die Zeit durchschießenden Strahlen in einem Brennpunkte zu sammeln suchte, so war es gewissermaßen unvermeidlich, daß er ins Fahrwasser des Wilhelm Meister geriet, so riesengroß auch der Abstand zwischen seiner Unreife und der klaren Meisterschaft Goethes, zwischen den hellen, heitern Bildungsinteressen des ausklingenden achtzehnten Jahrhunderts und dem politischen Drange des neunzehnten Jahrhunderts sein mochte. Das Bewußtsein, daß das geplante Weltbild einen groß angelegten, klassisch objekti- virten Roman fordere, und der Widerspruch leidenschaftlicher Empfindungen und überreizter Reflexionen mit der gewählten überlieferten Form, macht das Buch zu einer merkwürdig ungleichen Produktion, in der die Bedeutung des Einzelnen die Mißverhältnisse des Ganzen nicht zu beseitigen, das Feuer des eignen Erlebnisses, wirklich poetischer Anschauung die spröden Massen der geistigen Vielseitigkeit, der bloß gelesenen und ersonnenen Dinge nicht zu durch¬ glühen und in Fluß zu bringen vermochte. Vvllgiltigere Zeugnisse seines Talents und seiner künstlerischen Fähigkeit, das Geschaute und Erdachte warm zu beleben, gaben noch in den sechziger und ersten siebziger Jahren, also in der ersten Periode des Dichters, die beiden Bände seiner „Novellen" (1869) und „Neuen Novellen" (1870), die kleinen und größern Lustspiele. Und auch da läßt sich genau erkennen, daß noch zwei geistige Strömungen in seiner Natur und Phantasie nebeneinander herliefen. Die Einwirkungen einer an Tieck und andern Klassikern der Novelle geschulten Kunst, das Wohlgefallen am absonderlichen Problem, ohne daß der Dichter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/29>, abgerufen am 13.05.2024.