Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
von unten nach oben

dieses Lob von Harzen einstimmen kann, dem Pflegt es für seine Person noch
leidlich gut zu gehen.

Wir hören seit einer Reihe von Jahren besonders viel den Mittelstand
nennen. Man versteht aber darunter nicht immer dasselbe. Da, wo besonders
Wert auf äußern Besitz gelegt wird, z.B. in den Hansestädten, versteht der
gesellschaftliche Sprachgebrauch darunter die, die nicht soviel haben, um ordent¬
lich mitthun zu können, gleichviel, welcher Stellung und welches Berufs fie
find. In den sozialen Fragen unsrer Zeit gelten als Mittelstand die Handel-
und Gewerbetreibenden, und wenn mau dabei von der Erhaltung oder der
Hebung des Mittelstandes spricht, so hat man nicht die Lage der Einzelnen
im Auge, sondern die wirtschaftlichen Bedingungen des Gewerbes. Wir wollen
in diesen Betrachtungen den Begriff etwas anders und gesellschaftlich etwas
höher fassen und als Mittelstand alle die bezeichnen, die es an Bildung, Stel¬
lung oder Stand soweit gebracht haben, daß sie in den Niedrigerstehenden den
Wunsch erregen, zu ihnen empor zu steigen, so wie z. B. die Gesellschaft eines
Goethischen Romans eine Stufe höher zu stehen pflegt als die eines Jean
Paulschen. Also der Tieferstehende möchte in die Höhe, hinein in diesen
bessern Mittelstand!

Vor fünfundzwanzig Jahren führte mich ein Freund in die vitu ouvrivrs
des damals eben deutsch gewordnen Mülhausen. Im übrigen Deutschland, in
Sachsen oder in den rheinischen Fabrikstädten kannte man ja auch schon die
Arbeiter für sich wohnend und als abgeschlossene Klasse lebend. Aber so wie
dort trat das doch wohl in seiner Eigentümlichkeit nirgends hervor. Äußer¬
lich angesehen, schienen ja die Mülhänser Fabrikanten recht viel für ihre Ar¬
beiter gethan zu haben. Denn so frei und licht wohnt in den hohen Häusern
der großen deutschen Städte mancher besser gestellte Mann nicht wie der Ar¬
beiter in diesen zweistöckigen Vierfamilienhäusern mit etwas Hof oder Garten
davor. Aber die Einförmigkeit der Quartiere gab doch schon zugleich das
Bild der ganz bestimmt zugeschnittnen Existenz, aus der keiner empor konnte,
wie ich damals zuerst hörte. Was der Vater hatte, das reichte gerade soweit,
den Sohn zu dem zu bringen, was er selbst war, und wem, es weiter gereicht
hätte, so fehlte dein so aufwachsenden Geschlecht der Trieb und der Gesichts¬
kreis, es anders zu machen und es weiter zu bringen. "Wie soll unsereiner
weiter kommen?" sagte geradezu einer dieser Männer, mit dem ich mich in ein
Gespräch einließ. Dasselbe Wort hörte ich viel später wieder in einer mittel¬
deutschen Stadt, wo ich damals wohnte. Auf meinem Wege sah ich täglich
einen Eisenbahnbediensteten an einem ziemlich belebten Übergange, wo er die
Aufgabe hatte, eine Barriere hin- und herzuschieben. Nachdem ich ihn längere
Zeit hindurch immer dasselbe Geschäft in derselben einförmigen Weise hatte
ausführen sehen, redete ich ihn endlich einmal an, und dn erzählte er mir,
daß er nun schon lange, viel länger als ich ihn beobachtet hatte, dieselbe


von unten nach oben

dieses Lob von Harzen einstimmen kann, dem Pflegt es für seine Person noch
leidlich gut zu gehen.

Wir hören seit einer Reihe von Jahren besonders viel den Mittelstand
nennen. Man versteht aber darunter nicht immer dasselbe. Da, wo besonders
Wert auf äußern Besitz gelegt wird, z.B. in den Hansestädten, versteht der
gesellschaftliche Sprachgebrauch darunter die, die nicht soviel haben, um ordent¬
lich mitthun zu können, gleichviel, welcher Stellung und welches Berufs fie
find. In den sozialen Fragen unsrer Zeit gelten als Mittelstand die Handel-
und Gewerbetreibenden, und wenn mau dabei von der Erhaltung oder der
Hebung des Mittelstandes spricht, so hat man nicht die Lage der Einzelnen
im Auge, sondern die wirtschaftlichen Bedingungen des Gewerbes. Wir wollen
in diesen Betrachtungen den Begriff etwas anders und gesellschaftlich etwas
höher fassen und als Mittelstand alle die bezeichnen, die es an Bildung, Stel¬
lung oder Stand soweit gebracht haben, daß sie in den Niedrigerstehenden den
Wunsch erregen, zu ihnen empor zu steigen, so wie z. B. die Gesellschaft eines
Goethischen Romans eine Stufe höher zu stehen pflegt als die eines Jean
Paulschen. Also der Tieferstehende möchte in die Höhe, hinein in diesen
bessern Mittelstand!

Vor fünfundzwanzig Jahren führte mich ein Freund in die vitu ouvrivrs
des damals eben deutsch gewordnen Mülhausen. Im übrigen Deutschland, in
Sachsen oder in den rheinischen Fabrikstädten kannte man ja auch schon die
Arbeiter für sich wohnend und als abgeschlossene Klasse lebend. Aber so wie
dort trat das doch wohl in seiner Eigentümlichkeit nirgends hervor. Äußer¬
lich angesehen, schienen ja die Mülhänser Fabrikanten recht viel für ihre Ar¬
beiter gethan zu haben. Denn so frei und licht wohnt in den hohen Häusern
der großen deutschen Städte mancher besser gestellte Mann nicht wie der Ar¬
beiter in diesen zweistöckigen Vierfamilienhäusern mit etwas Hof oder Garten
davor. Aber die Einförmigkeit der Quartiere gab doch schon zugleich das
Bild der ganz bestimmt zugeschnittnen Existenz, aus der keiner empor konnte,
wie ich damals zuerst hörte. Was der Vater hatte, das reichte gerade soweit,
den Sohn zu dem zu bringen, was er selbst war, und wem, es weiter gereicht
hätte, so fehlte dein so aufwachsenden Geschlecht der Trieb und der Gesichts¬
kreis, es anders zu machen und es weiter zu bringen. „Wie soll unsereiner
weiter kommen?" sagte geradezu einer dieser Männer, mit dem ich mich in ein
Gespräch einließ. Dasselbe Wort hörte ich viel später wieder in einer mittel¬
deutschen Stadt, wo ich damals wohnte. Auf meinem Wege sah ich täglich
einen Eisenbahnbediensteten an einem ziemlich belebten Übergange, wo er die
Aufgabe hatte, eine Barriere hin- und herzuschieben. Nachdem ich ihn längere
Zeit hindurch immer dasselbe Geschäft in derselben einförmigen Weise hatte
ausführen sehen, redete ich ihn endlich einmal an, und dn erzählte er mir,
daß er nun schon lange, viel länger als ich ihn beobachtet hatte, dieselbe


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0507" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222811"/>
          <fw type="header" place="top"> von unten nach oben</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1451" prev="#ID_1450"> dieses Lob von Harzen einstimmen kann, dem Pflegt es für seine Person noch<lb/>
leidlich gut zu gehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1452"> Wir hören seit einer Reihe von Jahren besonders viel den Mittelstand<lb/>
nennen. Man versteht aber darunter nicht immer dasselbe. Da, wo besonders<lb/>
Wert auf äußern Besitz gelegt wird, z.B. in den Hansestädten, versteht der<lb/>
gesellschaftliche Sprachgebrauch darunter die, die nicht soviel haben, um ordent¬<lb/>
lich mitthun zu können, gleichviel, welcher Stellung und welches Berufs fie<lb/>
find. In den sozialen Fragen unsrer Zeit gelten als Mittelstand die Handel-<lb/>
und Gewerbetreibenden, und wenn mau dabei von der Erhaltung oder der<lb/>
Hebung des Mittelstandes spricht, so hat man nicht die Lage der Einzelnen<lb/>
im Auge, sondern die wirtschaftlichen Bedingungen des Gewerbes. Wir wollen<lb/>
in diesen Betrachtungen den Begriff etwas anders und gesellschaftlich etwas<lb/>
höher fassen und als Mittelstand alle die bezeichnen, die es an Bildung, Stel¬<lb/>
lung oder Stand soweit gebracht haben, daß sie in den Niedrigerstehenden den<lb/>
Wunsch erregen, zu ihnen empor zu steigen, so wie z. B. die Gesellschaft eines<lb/>
Goethischen Romans eine Stufe höher zu stehen pflegt als die eines Jean<lb/>
Paulschen. Also der Tieferstehende möchte in die Höhe, hinein in diesen<lb/>
bessern Mittelstand!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1453" next="#ID_1454"> Vor fünfundzwanzig Jahren führte mich ein Freund in die vitu ouvrivrs<lb/>
des damals eben deutsch gewordnen Mülhausen. Im übrigen Deutschland, in<lb/>
Sachsen oder in den rheinischen Fabrikstädten kannte man ja auch schon die<lb/>
Arbeiter für sich wohnend und als abgeschlossene Klasse lebend. Aber so wie<lb/>
dort trat das doch wohl in seiner Eigentümlichkeit nirgends hervor. Äußer¬<lb/>
lich angesehen, schienen ja die Mülhänser Fabrikanten recht viel für ihre Ar¬<lb/>
beiter gethan zu haben. Denn so frei und licht wohnt in den hohen Häusern<lb/>
der großen deutschen Städte mancher besser gestellte Mann nicht wie der Ar¬<lb/>
beiter in diesen zweistöckigen Vierfamilienhäusern mit etwas Hof oder Garten<lb/>
davor. Aber die Einförmigkeit der Quartiere gab doch schon zugleich das<lb/>
Bild der ganz bestimmt zugeschnittnen Existenz, aus der keiner empor konnte,<lb/>
wie ich damals zuerst hörte. Was der Vater hatte, das reichte gerade soweit,<lb/>
den Sohn zu dem zu bringen, was er selbst war, und wem, es weiter gereicht<lb/>
hätte, so fehlte dein so aufwachsenden Geschlecht der Trieb und der Gesichts¬<lb/>
kreis, es anders zu machen und es weiter zu bringen. &#x201E;Wie soll unsereiner<lb/>
weiter kommen?" sagte geradezu einer dieser Männer, mit dem ich mich in ein<lb/>
Gespräch einließ. Dasselbe Wort hörte ich viel später wieder in einer mittel¬<lb/>
deutschen Stadt, wo ich damals wohnte. Auf meinem Wege sah ich täglich<lb/>
einen Eisenbahnbediensteten an einem ziemlich belebten Übergange, wo er die<lb/>
Aufgabe hatte, eine Barriere hin- und herzuschieben. Nachdem ich ihn längere<lb/>
Zeit hindurch immer dasselbe Geschäft in derselben einförmigen Weise hatte<lb/>
ausführen sehen, redete ich ihn endlich einmal an, und dn erzählte er mir,<lb/>
daß er nun schon lange, viel länger als ich ihn beobachtet hatte, dieselbe</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0507] von unten nach oben dieses Lob von Harzen einstimmen kann, dem Pflegt es für seine Person noch leidlich gut zu gehen. Wir hören seit einer Reihe von Jahren besonders viel den Mittelstand nennen. Man versteht aber darunter nicht immer dasselbe. Da, wo besonders Wert auf äußern Besitz gelegt wird, z.B. in den Hansestädten, versteht der gesellschaftliche Sprachgebrauch darunter die, die nicht soviel haben, um ordent¬ lich mitthun zu können, gleichviel, welcher Stellung und welches Berufs fie find. In den sozialen Fragen unsrer Zeit gelten als Mittelstand die Handel- und Gewerbetreibenden, und wenn mau dabei von der Erhaltung oder der Hebung des Mittelstandes spricht, so hat man nicht die Lage der Einzelnen im Auge, sondern die wirtschaftlichen Bedingungen des Gewerbes. Wir wollen in diesen Betrachtungen den Begriff etwas anders und gesellschaftlich etwas höher fassen und als Mittelstand alle die bezeichnen, die es an Bildung, Stel¬ lung oder Stand soweit gebracht haben, daß sie in den Niedrigerstehenden den Wunsch erregen, zu ihnen empor zu steigen, so wie z. B. die Gesellschaft eines Goethischen Romans eine Stufe höher zu stehen pflegt als die eines Jean Paulschen. Also der Tieferstehende möchte in die Höhe, hinein in diesen bessern Mittelstand! Vor fünfundzwanzig Jahren führte mich ein Freund in die vitu ouvrivrs des damals eben deutsch gewordnen Mülhausen. Im übrigen Deutschland, in Sachsen oder in den rheinischen Fabrikstädten kannte man ja auch schon die Arbeiter für sich wohnend und als abgeschlossene Klasse lebend. Aber so wie dort trat das doch wohl in seiner Eigentümlichkeit nirgends hervor. Äußer¬ lich angesehen, schienen ja die Mülhänser Fabrikanten recht viel für ihre Ar¬ beiter gethan zu haben. Denn so frei und licht wohnt in den hohen Häusern der großen deutschen Städte mancher besser gestellte Mann nicht wie der Ar¬ beiter in diesen zweistöckigen Vierfamilienhäusern mit etwas Hof oder Garten davor. Aber die Einförmigkeit der Quartiere gab doch schon zugleich das Bild der ganz bestimmt zugeschnittnen Existenz, aus der keiner empor konnte, wie ich damals zuerst hörte. Was der Vater hatte, das reichte gerade soweit, den Sohn zu dem zu bringen, was er selbst war, und wem, es weiter gereicht hätte, so fehlte dein so aufwachsenden Geschlecht der Trieb und der Gesichts¬ kreis, es anders zu machen und es weiter zu bringen. „Wie soll unsereiner weiter kommen?" sagte geradezu einer dieser Männer, mit dem ich mich in ein Gespräch einließ. Dasselbe Wort hörte ich viel später wieder in einer mittel¬ deutschen Stadt, wo ich damals wohnte. Auf meinem Wege sah ich täglich einen Eisenbahnbediensteten an einem ziemlich belebten Übergange, wo er die Aufgabe hatte, eine Barriere hin- und herzuschieben. Nachdem ich ihn längere Zeit hindurch immer dasselbe Geschäft in derselben einförmigen Weise hatte ausführen sehen, redete ich ihn endlich einmal an, und dn erzählte er mir, daß er nun schon lange, viel länger als ich ihn beobachtet hatte, dieselbe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/507
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/507>, abgerufen am 16.06.2024.