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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Zur Litteraturgeschichte

schwollene Summe auch der englischen, französischen und italienischen Studien,
Abhandlungen und Aufsätze zur Geschichte und Erkenntnis der deutschen Lit¬
teratur berücksichtigt wird.

Da der Hauptinhalt umfassender Werke hier in gedrängter Inhaltsüber¬
sicht und möglichst knapper Charakteristik angegeben, ebenso aber auch die
Quintessenz jedes litterargeschichtlichen. ein litterargeschichtlichcs Thema auch
nur streifenden Aufsatzes verzeichnet werden soll und muß, so ergiebt sich erstens,
bis zu welchem Überreichtum die meisten litterargeschichtlichen Studien bei uns
gediehen find, und sodann, welch eine Unzahl überflüssiger Wiederholungen,
unwesentlicher und kleinlicher Erörterungen unter dem Deckmantel dieser Studien
jahraus jahrein in die Welt geschickt werden. Den "Jahresberichten" gereicht
die Sorgfalt, die Genauigkeit und sachliche Zuverlässigkeit, mit der sie bei der
Sammlung, Gruppirung und Einordnung des ungeheuern Materials verfahren,
zum höchsten und wohlverdienten Lobe, und wo sich in ihren Einzelbeiträgeu
mit der Gewissenhaftigkeit und Klarheit der Übersicht auch Einsicht und ge¬
schmackvolles Urteil verbinden, da erheben sich diese Berichte zu kritisch-wert-
vollen Arbeiten über Wesen, Stand und Richtung der litterargeschichtlichen
Forschung und Darstellung.

Minder rühmlich als das Bemühen um genaue und vollständige Samm-
lung und Ordnung der ganzen einschlägigen Litteratur erscheint im Spiegel
dieser Berichte ein großer Teil der behandelten Litteratur selbst. Alexandrinische,
geiht- und zusammenhangslose Materialanhäufuug, höchst unerquickliche Mehrung
toten Notizenkrams und wiederum so flache als unermüdliche Ausbreitung
längst dumpfig gewordnen Heus scheint noch immer sür zahlreiche Literar¬
historiker und der Litteraturgeschichte beflissene als wissenschaftliche Leistung
zu gelten. Wenn die "Jahresberichte" hier etwas entschlossener zur kritischen
Sichtung "verfahrenen" könnten, würden sie sich ein ebenso großes, ja ein
noch größeres Verdienst erwerben als durch ihre Vollständigkeit. Freilich mag
es in vielen Füllen über die Kräfte auch des einsichtigsten und willigsten Be¬
richterstatters hinausgehen, das jedesmalige Verhältnis einer einzelnen Arbeit
zu ihren Vorgängern zu untersuchen, und nachzuweisen, wie oft es sich bei
angeblich neuen Leistungen um leichtfertige oder gar, was schlimmer ist, um
anmaßliche Wiederholung früherer, besserer Arbeiten handelt. Die "Jahres¬
berichte" sollen zunächst nicht dem größern Publikum, sondern den Fachgenossen
dienen, und diese werden ja in dein betreffenden Falle oft genug selbst sehen,
daß das Prinzip der Vollständigkeit seine Schranken und seine Bedenken hat.

Um die Sichtung, die Sonderung des Wesentlichen vom Untergeordneten
und Nichtigen auch nur bis auf den Punkt führen zu können, den die "Jahres¬
berichte" erreicht haben, ist die Vereinigung einer Reihe hervorragender älterer
und jüngerer Kräfte nötig gewesen, und sie wird sich auch weiterhin um so
mehr nötig machen, als nur eine kleinere Gruppe der Mitarbeiter über eine


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schwollene Summe auch der englischen, französischen und italienischen Studien,
Abhandlungen und Aufsätze zur Geschichte und Erkenntnis der deutschen Lit¬
teratur berücksichtigt wird.

Da der Hauptinhalt umfassender Werke hier in gedrängter Inhaltsüber¬
sicht und möglichst knapper Charakteristik angegeben, ebenso aber auch die
Quintessenz jedes litterargeschichtlichen. ein litterargeschichtlichcs Thema auch
nur streifenden Aufsatzes verzeichnet werden soll und muß, so ergiebt sich erstens,
bis zu welchem Überreichtum die meisten litterargeschichtlichen Studien bei uns
gediehen find, und sodann, welch eine Unzahl überflüssiger Wiederholungen,
unwesentlicher und kleinlicher Erörterungen unter dem Deckmantel dieser Studien
jahraus jahrein in die Welt geschickt werden. Den „Jahresberichten" gereicht
die Sorgfalt, die Genauigkeit und sachliche Zuverlässigkeit, mit der sie bei der
Sammlung, Gruppirung und Einordnung des ungeheuern Materials verfahren,
zum höchsten und wohlverdienten Lobe, und wo sich in ihren Einzelbeiträgeu
mit der Gewissenhaftigkeit und Klarheit der Übersicht auch Einsicht und ge¬
schmackvolles Urteil verbinden, da erheben sich diese Berichte zu kritisch-wert-
vollen Arbeiten über Wesen, Stand und Richtung der litterargeschichtlichen
Forschung und Darstellung.

Minder rühmlich als das Bemühen um genaue und vollständige Samm-
lung und Ordnung der ganzen einschlägigen Litteratur erscheint im Spiegel
dieser Berichte ein großer Teil der behandelten Litteratur selbst. Alexandrinische,
geiht- und zusammenhangslose Materialanhäufuug, höchst unerquickliche Mehrung
toten Notizenkrams und wiederum so flache als unermüdliche Ausbreitung
längst dumpfig gewordnen Heus scheint noch immer sür zahlreiche Literar¬
historiker und der Litteraturgeschichte beflissene als wissenschaftliche Leistung
zu gelten. Wenn die „Jahresberichte" hier etwas entschlossener zur kritischen
Sichtung „verfahrenen" könnten, würden sie sich ein ebenso großes, ja ein
noch größeres Verdienst erwerben als durch ihre Vollständigkeit. Freilich mag
es in vielen Füllen über die Kräfte auch des einsichtigsten und willigsten Be¬
richterstatters hinausgehen, das jedesmalige Verhältnis einer einzelnen Arbeit
zu ihren Vorgängern zu untersuchen, und nachzuweisen, wie oft es sich bei
angeblich neuen Leistungen um leichtfertige oder gar, was schlimmer ist, um
anmaßliche Wiederholung früherer, besserer Arbeiten handelt. Die „Jahres¬
berichte" sollen zunächst nicht dem größern Publikum, sondern den Fachgenossen
dienen, und diese werden ja in dein betreffenden Falle oft genug selbst sehen,
daß das Prinzip der Vollständigkeit seine Schranken und seine Bedenken hat.

Um die Sichtung, die Sonderung des Wesentlichen vom Untergeordneten
und Nichtigen auch nur bis auf den Punkt führen zu können, den die „Jahres¬
berichte" erreicht haben, ist die Vereinigung einer Reihe hervorragender älterer
und jüngerer Kräfte nötig gewesen, und sie wird sich auch weiterhin um so
mehr nötig machen, als nur eine kleinere Gruppe der Mitarbeiter über eine


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[0615] Zur Litteraturgeschichte schwollene Summe auch der englischen, französischen und italienischen Studien, Abhandlungen und Aufsätze zur Geschichte und Erkenntnis der deutschen Lit¬ teratur berücksichtigt wird. Da der Hauptinhalt umfassender Werke hier in gedrängter Inhaltsüber¬ sicht und möglichst knapper Charakteristik angegeben, ebenso aber auch die Quintessenz jedes litterargeschichtlichen. ein litterargeschichtlichcs Thema auch nur streifenden Aufsatzes verzeichnet werden soll und muß, so ergiebt sich erstens, bis zu welchem Überreichtum die meisten litterargeschichtlichen Studien bei uns gediehen find, und sodann, welch eine Unzahl überflüssiger Wiederholungen, unwesentlicher und kleinlicher Erörterungen unter dem Deckmantel dieser Studien jahraus jahrein in die Welt geschickt werden. Den „Jahresberichten" gereicht die Sorgfalt, die Genauigkeit und sachliche Zuverlässigkeit, mit der sie bei der Sammlung, Gruppirung und Einordnung des ungeheuern Materials verfahren, zum höchsten und wohlverdienten Lobe, und wo sich in ihren Einzelbeiträgeu mit der Gewissenhaftigkeit und Klarheit der Übersicht auch Einsicht und ge¬ schmackvolles Urteil verbinden, da erheben sich diese Berichte zu kritisch-wert- vollen Arbeiten über Wesen, Stand und Richtung der litterargeschichtlichen Forschung und Darstellung. Minder rühmlich als das Bemühen um genaue und vollständige Samm- lung und Ordnung der ganzen einschlägigen Litteratur erscheint im Spiegel dieser Berichte ein großer Teil der behandelten Litteratur selbst. Alexandrinische, geiht- und zusammenhangslose Materialanhäufuug, höchst unerquickliche Mehrung toten Notizenkrams und wiederum so flache als unermüdliche Ausbreitung längst dumpfig gewordnen Heus scheint noch immer sür zahlreiche Literar¬ historiker und der Litteraturgeschichte beflissene als wissenschaftliche Leistung zu gelten. Wenn die „Jahresberichte" hier etwas entschlossener zur kritischen Sichtung „verfahrenen" könnten, würden sie sich ein ebenso großes, ja ein noch größeres Verdienst erwerben als durch ihre Vollständigkeit. Freilich mag es in vielen Füllen über die Kräfte auch des einsichtigsten und willigsten Be¬ richterstatters hinausgehen, das jedesmalige Verhältnis einer einzelnen Arbeit zu ihren Vorgängern zu untersuchen, und nachzuweisen, wie oft es sich bei angeblich neuen Leistungen um leichtfertige oder gar, was schlimmer ist, um anmaßliche Wiederholung früherer, besserer Arbeiten handelt. Die „Jahres¬ berichte" sollen zunächst nicht dem größern Publikum, sondern den Fachgenossen dienen, und diese werden ja in dein betreffenden Falle oft genug selbst sehen, daß das Prinzip der Vollständigkeit seine Schranken und seine Bedenken hat. Um die Sichtung, die Sonderung des Wesentlichen vom Untergeordneten und Nichtigen auch nur bis auf den Punkt führen zu können, den die „Jahres¬ berichte" erreicht haben, ist die Vereinigung einer Reihe hervorragender älterer und jüngerer Kräfte nötig gewesen, und sie wird sich auch weiterhin um so mehr nötig machen, als nur eine kleinere Gruppe der Mitarbeiter über eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/615>, abgerufen am 09.05.2024.