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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Schule und Politik

Soldaten um Sebastopol, sondern auch mit Fünften in der Klasse und mit
Schneebällen auf der Straße, aber als -- Türken und Russen! Keiner von
uns fragte: Wie steht deun unser Vaterland dazu? Denn wir hatten noch
keins, und wir konnten es auch von unsern Vätern nicht erfahre,:, deun sie
wußten es selber nicht. Was wir damals im Vergleich zu heute entbehrt
haben, das haben wir damals nicht gefühlt, wohl aber später ermessen.

Liebe Abiturienten! Sie haben dieses ganze große Erinnerungsjahr mit
uns gefeiert, mit reiferen Verständnis als andre, ein schöner Abschluß Ihrer
Laufbahn auf der Schule. Nehmen Sie diese Erinnerung als einen wertvollen
Besitz mit hinaus! Selbständiges Urteil sollen Sie sich nun bilden auch über
allgemeine Fragen, auch über politische Dinge. Sie mögen studiren, was Sie
wollen, Sie mögen einen Beruf ergreifen, welchen Sie wollen, das zu thun
ist Ihre Pflicht, und gerade darüber pflegen die Studienjahre, wenn sie recht
angewandt werden, zu entscheiden. Sie sollen nicht etwa Ihren romanischen
Kommilitonen nacheifern, die so gern ihre unreifen politischen Ansichten in kin¬
dischen Krawatten äußern; Sie werden auch dann gute Deutsche sein, wenn
Sie nicht bei Gelegenheit eine feindliche Fahne verbrennen. Sie werden in
manchen Dingen wahrscheinlich anders denken als wir. Sie werden neue
Ideale haben, denn unaufhaltsam scheint sich in unsrer gebildeten Jngend
der Übergang zum sozialen Ideal zu vollziehen. Vergessen Sie darüber das
nationale nicht, das uus in unsrer Jugend ergriff, begeisterte und erhob. Denn
nur in dem Rahmen und unter dem Schirme des nationalen Staates sollen
und dürfen sich neue Ideale verwirklichen. vt^i^g "^o'räh, "^occ^",,
?r"r^L, so rufen Ihnen die goldglünzeudcn Namen Ihrer 1370/71 ge-
fallnen Kameraden dort von der Marmortafel her zu. Ihnen gehört das
zwanzigste Jahrhundert! Sorgen Sie dafür, daß es nicht kleiner werde, als
dies trotz alledem so gewaltige neunzehnte, an dessen Ende wir stehen, und
daß das Vaterland nicht kleiner werde, sondern zunehme an innerer Wohlfahrt
und äußerer Macht, daß es seinen Platz einnehme nicht nur unter den Völkern
Europas, sondern unter den großen Nationen, denen die Herrschaft der Welt
gehört. Das walte Gott!




Schule und Politik

Soldaten um Sebastopol, sondern auch mit Fünften in der Klasse und mit
Schneebällen auf der Straße, aber als — Türken und Russen! Keiner von
uns fragte: Wie steht deun unser Vaterland dazu? Denn wir hatten noch
keins, und wir konnten es auch von unsern Vätern nicht erfahre,:, deun sie
wußten es selber nicht. Was wir damals im Vergleich zu heute entbehrt
haben, das haben wir damals nicht gefühlt, wohl aber später ermessen.

Liebe Abiturienten! Sie haben dieses ganze große Erinnerungsjahr mit
uns gefeiert, mit reiferen Verständnis als andre, ein schöner Abschluß Ihrer
Laufbahn auf der Schule. Nehmen Sie diese Erinnerung als einen wertvollen
Besitz mit hinaus! Selbständiges Urteil sollen Sie sich nun bilden auch über
allgemeine Fragen, auch über politische Dinge. Sie mögen studiren, was Sie
wollen, Sie mögen einen Beruf ergreifen, welchen Sie wollen, das zu thun
ist Ihre Pflicht, und gerade darüber pflegen die Studienjahre, wenn sie recht
angewandt werden, zu entscheiden. Sie sollen nicht etwa Ihren romanischen
Kommilitonen nacheifern, die so gern ihre unreifen politischen Ansichten in kin¬
dischen Krawatten äußern; Sie werden auch dann gute Deutsche sein, wenn
Sie nicht bei Gelegenheit eine feindliche Fahne verbrennen. Sie werden in
manchen Dingen wahrscheinlich anders denken als wir. Sie werden neue
Ideale haben, denn unaufhaltsam scheint sich in unsrer gebildeten Jngend
der Übergang zum sozialen Ideal zu vollziehen. Vergessen Sie darüber das
nationale nicht, das uus in unsrer Jugend ergriff, begeisterte und erhob. Denn
nur in dem Rahmen und unter dem Schirme des nationalen Staates sollen
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fallnen Kameraden dort von der Marmortafel her zu. Ihnen gehört das
zwanzigste Jahrhundert! Sorgen Sie dafür, daß es nicht kleiner werde, als
dies trotz alledem so gewaltige neunzehnte, an dessen Ende wir stehen, und
daß das Vaterland nicht kleiner werde, sondern zunehme an innerer Wohlfahrt
und äußerer Macht, daß es seinen Platz einnehme nicht nur unter den Völkern
Europas, sondern unter den großen Nationen, denen die Herrschaft der Welt
gehört. Das walte Gott!




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[0064] Schule und Politik Soldaten um Sebastopol, sondern auch mit Fünften in der Klasse und mit Schneebällen auf der Straße, aber als — Türken und Russen! Keiner von uns fragte: Wie steht deun unser Vaterland dazu? Denn wir hatten noch keins, und wir konnten es auch von unsern Vätern nicht erfahre,:, deun sie wußten es selber nicht. Was wir damals im Vergleich zu heute entbehrt haben, das haben wir damals nicht gefühlt, wohl aber später ermessen. Liebe Abiturienten! Sie haben dieses ganze große Erinnerungsjahr mit uns gefeiert, mit reiferen Verständnis als andre, ein schöner Abschluß Ihrer Laufbahn auf der Schule. Nehmen Sie diese Erinnerung als einen wertvollen Besitz mit hinaus! Selbständiges Urteil sollen Sie sich nun bilden auch über allgemeine Fragen, auch über politische Dinge. Sie mögen studiren, was Sie wollen, Sie mögen einen Beruf ergreifen, welchen Sie wollen, das zu thun ist Ihre Pflicht, und gerade darüber pflegen die Studienjahre, wenn sie recht angewandt werden, zu entscheiden. Sie sollen nicht etwa Ihren romanischen Kommilitonen nacheifern, die so gern ihre unreifen politischen Ansichten in kin¬ dischen Krawatten äußern; Sie werden auch dann gute Deutsche sein, wenn Sie nicht bei Gelegenheit eine feindliche Fahne verbrennen. Sie werden in manchen Dingen wahrscheinlich anders denken als wir. Sie werden neue Ideale haben, denn unaufhaltsam scheint sich in unsrer gebildeten Jngend der Übergang zum sozialen Ideal zu vollziehen. Vergessen Sie darüber das nationale nicht, das uus in unsrer Jugend ergriff, begeisterte und erhob. Denn nur in dem Rahmen und unter dem Schirme des nationalen Staates sollen und dürfen sich neue Ideale verwirklichen. vt^i^g «^o'räh, «^occ^«,, ?r«r^L, so rufen Ihnen die goldglünzeudcn Namen Ihrer 1370/71 ge- fallnen Kameraden dort von der Marmortafel her zu. Ihnen gehört das zwanzigste Jahrhundert! Sorgen Sie dafür, daß es nicht kleiner werde, als dies trotz alledem so gewaltige neunzehnte, an dessen Ende wir stehen, und daß das Vaterland nicht kleiner werde, sondern zunehme an innerer Wohlfahrt und äußerer Macht, daß es seinen Platz einnehme nicht nur unter den Völkern Europas, sondern unter den großen Nationen, denen die Herrschaft der Welt gehört. Das walte Gott!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/64>, abgerufen am 09.05.2024.