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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Line Geschichte Livlands

Hunderts war mit dem normannischen Germanentum der Waräger das staaten¬
bildende Element unter die Masse der russischen Slawen gekommen; damit war
zugleich der lebhaft aggressive Charakter der neu entstandnen russischen Fürsten¬
tümer gegeben. Mehr als einmal hat Byzanz vor ihren Heerscharen gezittert,
aber ebenso gut wie nach Süden ging die russische Angriffsbewegung auch
nach Osten, Norden und Westen. In jenen ersten Jahrhunderten nach der Be¬
gründung der Normanuenherrschaft auf der Linie vom Ladogasee zum Unter¬
laufe des Dujepr hat ein wenig bekannter, aber doch weltgeschichtlich wichtiger
Vorgang stattgefunden, die Eroberung des Nordens und Nordostens der euro¬
päischen Ebene für die neue russische Nationalität, die ursprünglich nur auf
das Dreieck: Jlmensee--Okamündung--Kijew beschränkt war. Ihr Verhängnis
war es von Anbeginn, daß sie nirgends das Meer berührte. Nach Süden
trennte ein breiter Steppengürtel bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein die
Russen vom Schwarzen Meer; bis auf die Zeit Peters des Großen hinaus
sind sie nicht imstande gewesen, dieses Gebiet den asiatischen Völkern, die es
nach einander besetzten, zu entreißen.

Seit dem Beginn des elften Jahrhunderts nun beginnt der Kampf der
Russen anch um das baltische Küstenland. Seraphim giebt eine Übersicht über
die zahlreichen Versuche russischer Fürsten, hier Fuß zu fcisseu, die Eingebornen
zinsbar zu machen. In Nordlivland hatten sie im großen und ganzen nach
vielen Wechselfällen mit einem starken Mißerfolge gegenüber dem kriegerischen
und kräftigen Volke der Ehlen geendet, dagegen war im Süden längs der Dura
das russische Machtgebiet im Vordringen, und bereits in Kokenhusen, nicht
weiter vom Ausfluß des Stromes als Hamburg von der Elbmündnng, saß
ein Statthalter des Fürsten von Polozk. Es ist daher nicht unwahrscheinlich,
daß, wenn in diesen Verhältnissen keine Störung eingetreten wäre, die russische
Macht auf diesem Wege bereits im dreizehnten Jahrhundert das Baltische
Meer erreicht hätte, also fünfhundert Jahre früher, als es ihr thatsächlich
gelungen ist. Es ist leicht ersichtlich, von welchen Folgen dieses Ereignis
Hütte werden müssen. Wenn das westliche Rußland gerade um die Zeit, wo
die mittlern und südlichen Teile des Landes dem Machtbereich der Mongolen
anheimfielen, den unmittelbaren Anschluß an das Abendland erreichte, so be¬
deutete das seine endgiltige Trennung von dem der Barbarei anheimgefallenen
stammverwandten Gebiet und seine Einbeziehung in den abendländischen Stcmten-
und Völkerkreis. Bis zu einem gewissen Grade ist das selbst unter den that¬
sächlich eingetretenen Umständen der Fall gewesen; Nordwestrußland hat, in
die Staaten Nowgorod und Pskow, zwei demokratische Handelsrepubliken,
geteilt, ein von den Mongolen so gut wie unabhängiges Dasein gehabt; aber
es war zu schwach, den deutschen Eroberern gegenüber die russische Stellung
im baltischen Küstengebiete zu behaupten. Die Eroberung von Livlcind durch
die deutsche Ordensmacht und die bewaffneten Pilgerscharen, die in der ersten


Line Geschichte Livlands

Hunderts war mit dem normannischen Germanentum der Waräger das staaten¬
bildende Element unter die Masse der russischen Slawen gekommen; damit war
zugleich der lebhaft aggressive Charakter der neu entstandnen russischen Fürsten¬
tümer gegeben. Mehr als einmal hat Byzanz vor ihren Heerscharen gezittert,
aber ebenso gut wie nach Süden ging die russische Angriffsbewegung auch
nach Osten, Norden und Westen. In jenen ersten Jahrhunderten nach der Be¬
gründung der Normanuenherrschaft auf der Linie vom Ladogasee zum Unter¬
laufe des Dujepr hat ein wenig bekannter, aber doch weltgeschichtlich wichtiger
Vorgang stattgefunden, die Eroberung des Nordens und Nordostens der euro¬
päischen Ebene für die neue russische Nationalität, die ursprünglich nur auf
das Dreieck: Jlmensee—Okamündung—Kijew beschränkt war. Ihr Verhängnis
war es von Anbeginn, daß sie nirgends das Meer berührte. Nach Süden
trennte ein breiter Steppengürtel bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein die
Russen vom Schwarzen Meer; bis auf die Zeit Peters des Großen hinaus
sind sie nicht imstande gewesen, dieses Gebiet den asiatischen Völkern, die es
nach einander besetzten, zu entreißen.

Seit dem Beginn des elften Jahrhunderts nun beginnt der Kampf der
Russen anch um das baltische Küstenland. Seraphim giebt eine Übersicht über
die zahlreichen Versuche russischer Fürsten, hier Fuß zu fcisseu, die Eingebornen
zinsbar zu machen. In Nordlivland hatten sie im großen und ganzen nach
vielen Wechselfällen mit einem starken Mißerfolge gegenüber dem kriegerischen
und kräftigen Volke der Ehlen geendet, dagegen war im Süden längs der Dura
das russische Machtgebiet im Vordringen, und bereits in Kokenhusen, nicht
weiter vom Ausfluß des Stromes als Hamburg von der Elbmündnng, saß
ein Statthalter des Fürsten von Polozk. Es ist daher nicht unwahrscheinlich,
daß, wenn in diesen Verhältnissen keine Störung eingetreten wäre, die russische
Macht auf diesem Wege bereits im dreizehnten Jahrhundert das Baltische
Meer erreicht hätte, also fünfhundert Jahre früher, als es ihr thatsächlich
gelungen ist. Es ist leicht ersichtlich, von welchen Folgen dieses Ereignis
Hütte werden müssen. Wenn das westliche Rußland gerade um die Zeit, wo
die mittlern und südlichen Teile des Landes dem Machtbereich der Mongolen
anheimfielen, den unmittelbaren Anschluß an das Abendland erreichte, so be¬
deutete das seine endgiltige Trennung von dem der Barbarei anheimgefallenen
stammverwandten Gebiet und seine Einbeziehung in den abendländischen Stcmten-
und Völkerkreis. Bis zu einem gewissen Grade ist das selbst unter den that¬
sächlich eingetretenen Umständen der Fall gewesen; Nordwestrußland hat, in
die Staaten Nowgorod und Pskow, zwei demokratische Handelsrepubliken,
geteilt, ein von den Mongolen so gut wie unabhängiges Dasein gehabt; aber
es war zu schwach, den deutschen Eroberern gegenüber die russische Stellung
im baltischen Küstengebiete zu behaupten. Die Eroberung von Livlcind durch
die deutsche Ordensmacht und die bewaffneten Pilgerscharen, die in der ersten


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[0074] Line Geschichte Livlands Hunderts war mit dem normannischen Germanentum der Waräger das staaten¬ bildende Element unter die Masse der russischen Slawen gekommen; damit war zugleich der lebhaft aggressive Charakter der neu entstandnen russischen Fürsten¬ tümer gegeben. Mehr als einmal hat Byzanz vor ihren Heerscharen gezittert, aber ebenso gut wie nach Süden ging die russische Angriffsbewegung auch nach Osten, Norden und Westen. In jenen ersten Jahrhunderten nach der Be¬ gründung der Normanuenherrschaft auf der Linie vom Ladogasee zum Unter¬ laufe des Dujepr hat ein wenig bekannter, aber doch weltgeschichtlich wichtiger Vorgang stattgefunden, die Eroberung des Nordens und Nordostens der euro¬ päischen Ebene für die neue russische Nationalität, die ursprünglich nur auf das Dreieck: Jlmensee—Okamündung—Kijew beschränkt war. Ihr Verhängnis war es von Anbeginn, daß sie nirgends das Meer berührte. Nach Süden trennte ein breiter Steppengürtel bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein die Russen vom Schwarzen Meer; bis auf die Zeit Peters des Großen hinaus sind sie nicht imstande gewesen, dieses Gebiet den asiatischen Völkern, die es nach einander besetzten, zu entreißen. Seit dem Beginn des elften Jahrhunderts nun beginnt der Kampf der Russen anch um das baltische Küstenland. Seraphim giebt eine Übersicht über die zahlreichen Versuche russischer Fürsten, hier Fuß zu fcisseu, die Eingebornen zinsbar zu machen. In Nordlivland hatten sie im großen und ganzen nach vielen Wechselfällen mit einem starken Mißerfolge gegenüber dem kriegerischen und kräftigen Volke der Ehlen geendet, dagegen war im Süden längs der Dura das russische Machtgebiet im Vordringen, und bereits in Kokenhusen, nicht weiter vom Ausfluß des Stromes als Hamburg von der Elbmündnng, saß ein Statthalter des Fürsten von Polozk. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, daß, wenn in diesen Verhältnissen keine Störung eingetreten wäre, die russische Macht auf diesem Wege bereits im dreizehnten Jahrhundert das Baltische Meer erreicht hätte, also fünfhundert Jahre früher, als es ihr thatsächlich gelungen ist. Es ist leicht ersichtlich, von welchen Folgen dieses Ereignis Hütte werden müssen. Wenn das westliche Rußland gerade um die Zeit, wo die mittlern und südlichen Teile des Landes dem Machtbereich der Mongolen anheimfielen, den unmittelbaren Anschluß an das Abendland erreichte, so be¬ deutete das seine endgiltige Trennung von dem der Barbarei anheimgefallenen stammverwandten Gebiet und seine Einbeziehung in den abendländischen Stcmten- und Völkerkreis. Bis zu einem gewissen Grade ist das selbst unter den that¬ sächlich eingetretenen Umständen der Fall gewesen; Nordwestrußland hat, in die Staaten Nowgorod und Pskow, zwei demokratische Handelsrepubliken, geteilt, ein von den Mongolen so gut wie unabhängiges Dasein gehabt; aber es war zu schwach, den deutschen Eroberern gegenüber die russische Stellung im baltischen Küstengebiete zu behaupten. Die Eroberung von Livlcind durch die deutsche Ordensmacht und die bewaffneten Pilgerscharen, die in der ersten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/74>, abgerufen am 09.05.2024.