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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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metjew ergeben, und drei Viertel des Gebiets des alten livländischen Bundes
waren fortan russisch. Beim dritten Male gelang also der Stoß zur Ostsee,
und als er gelang, ward Rußland eine europäische Großmacht.

Diese welterschütternde Thatsache ist aber nicht erst durch die Übergabe
Rigas oder die Schlacht bei Poltawa und die Flucht Karls Xll. entschieden
worden, sondern schon damals, als es klar wurde, daß Deutschland nicht im¬
stande war, die Kolonie von sich aus zu halten, sondern sie an Polen und
Schweden fallen ließ, zwei Mächte, die vermöge ihrer Rivalität und ihrer
innern wie äußern Lage Moskau auf die Dauer den Besitz Livlands nicht
streitig machen konnten. Mit Recht geißelt Seraphim zwar die heillos ver¬
rotteten Zustände in Livland selbst, als sich die Nusseuuot näherte; trotzdem
bleibt es ein Zeichen verderblicher Kurzsichtigkeit, neun niemand von den Reichs-
ständen -- nicht einmal die Hansestädte! -- etwas von einer Hilfeleistung an
die Livländer wissen wollte, wenn der Kaiser nicht über "tragikomische Ver¬
mittlungsversuche" mit Moskau hinauskam. Mit Livland ging dem Deutsch¬
tum das vierhundertjührige Übergewicht im europäischen Norden verloren, ver¬
loren an die Zukunft Rußlands.

Dies scheint uus das leitende Motiv für die allgemein geschichtliche Auf¬
fassung der Geschichte Livlands zu sein. Seraphim hat es aber auch ver¬
standen, durch seine Schreibweise sein Werk anziehend zu machen. Es ist
kein wissenschaftliches Buch im strengen Sinne, sondern wie schon der Titel
sagt "eine populäre Darstellung," mit zahlreichen wörtlich aufgenommnen
Stellen ans andern Bearbeitungen des Stoffs und den Originalqnellen selbst.
Alle Einzelheiten der beiden stattlichen Bände werden freilich wohl nur bei
den engern Landsleuten des Verfassers Interesse finden. Besonders gilt das
von der zweiten Abteilung des zweiten Bandes, der Geschichte des Herzogtums
Kurland, das beim Untergänge der staatlichen Selbständigkeit Livlands aus
dein südlichen Stück desselben als ein polnischer Lehnsstaat gebildet wurde.
Bei dieser Gelegenheit erinnern wir uns übrigens einer Bemerkung, die vor
mehreren Jahren in einem Aufsatz der Grenzboten -- über Livland -- gemacht
war. Der Verfasser hielt sich darüber auf, daß die "Ballen" für ihr Land
keinen Gesamtncunen haben, sondern, wenn sie es als Ganzes bezeichnen wollen,
die drei Namen "Livland," "Estland," "Kurland" neben einander stellen. Diese
Beobachtung findet sich in dem Titel des Sernphimschen Werkes bestätigt.
Man weiß in der That nicht, warum der Verfasser nicht einfach "Geschichte
Livlands" gesagt hat. Denn gerade in seiner Darstellung wird die in jenem
erwähnten Aufsatze ausgesprochne Meinung gerechtfertigt, daß "Livland" der
geschichtliche Gesamtname für alle drei Ostseeprovinzen des russischen Reiches
ist. Wenn er die Dreiteilung des Landes im Titel wirklich vornehmen mußte,
so wäre das ein sehr kurioser Partikularismus "im Wasserglasse."

Eine wertvolle Beigabe ist die historische Karte, die -- von Löwis of


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metjew ergeben, und drei Viertel des Gebiets des alten livländischen Bundes
waren fortan russisch. Beim dritten Male gelang also der Stoß zur Ostsee,
und als er gelang, ward Rußland eine europäische Großmacht.

Diese welterschütternde Thatsache ist aber nicht erst durch die Übergabe
Rigas oder die Schlacht bei Poltawa und die Flucht Karls Xll. entschieden
worden, sondern schon damals, als es klar wurde, daß Deutschland nicht im¬
stande war, die Kolonie von sich aus zu halten, sondern sie an Polen und
Schweden fallen ließ, zwei Mächte, die vermöge ihrer Rivalität und ihrer
innern wie äußern Lage Moskau auf die Dauer den Besitz Livlands nicht
streitig machen konnten. Mit Recht geißelt Seraphim zwar die heillos ver¬
rotteten Zustände in Livland selbst, als sich die Nusseuuot näherte; trotzdem
bleibt es ein Zeichen verderblicher Kurzsichtigkeit, neun niemand von den Reichs-
ständen — nicht einmal die Hansestädte! — etwas von einer Hilfeleistung an
die Livländer wissen wollte, wenn der Kaiser nicht über „tragikomische Ver¬
mittlungsversuche" mit Moskau hinauskam. Mit Livland ging dem Deutsch¬
tum das vierhundertjührige Übergewicht im europäischen Norden verloren, ver¬
loren an die Zukunft Rußlands.

Dies scheint uus das leitende Motiv für die allgemein geschichtliche Auf¬
fassung der Geschichte Livlands zu sein. Seraphim hat es aber auch ver¬
standen, durch seine Schreibweise sein Werk anziehend zu machen. Es ist
kein wissenschaftliches Buch im strengen Sinne, sondern wie schon der Titel
sagt „eine populäre Darstellung," mit zahlreichen wörtlich aufgenommnen
Stellen ans andern Bearbeitungen des Stoffs und den Originalqnellen selbst.
Alle Einzelheiten der beiden stattlichen Bände werden freilich wohl nur bei
den engern Landsleuten des Verfassers Interesse finden. Besonders gilt das
von der zweiten Abteilung des zweiten Bandes, der Geschichte des Herzogtums
Kurland, das beim Untergänge der staatlichen Selbständigkeit Livlands aus
dein südlichen Stück desselben als ein polnischer Lehnsstaat gebildet wurde.
Bei dieser Gelegenheit erinnern wir uns übrigens einer Bemerkung, die vor
mehreren Jahren in einem Aufsatz der Grenzboten — über Livland — gemacht
war. Der Verfasser hielt sich darüber auf, daß die „Ballen" für ihr Land
keinen Gesamtncunen haben, sondern, wenn sie es als Ganzes bezeichnen wollen,
die drei Namen „Livland," „Estland," „Kurland" neben einander stellen. Diese
Beobachtung findet sich in dem Titel des Sernphimschen Werkes bestätigt.
Man weiß in der That nicht, warum der Verfasser nicht einfach „Geschichte
Livlands" gesagt hat. Denn gerade in seiner Darstellung wird die in jenem
erwähnten Aufsatze ausgesprochne Meinung gerechtfertigt, daß „Livland" der
geschichtliche Gesamtname für alle drei Ostseeprovinzen des russischen Reiches
ist. Wenn er die Dreiteilung des Landes im Titel wirklich vornehmen mußte,
so wäre das ein sehr kurioser Partikularismus „im Wasserglasse."

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[0076] Line Geschichte Livlands metjew ergeben, und drei Viertel des Gebiets des alten livländischen Bundes waren fortan russisch. Beim dritten Male gelang also der Stoß zur Ostsee, und als er gelang, ward Rußland eine europäische Großmacht. Diese welterschütternde Thatsache ist aber nicht erst durch die Übergabe Rigas oder die Schlacht bei Poltawa und die Flucht Karls Xll. entschieden worden, sondern schon damals, als es klar wurde, daß Deutschland nicht im¬ stande war, die Kolonie von sich aus zu halten, sondern sie an Polen und Schweden fallen ließ, zwei Mächte, die vermöge ihrer Rivalität und ihrer innern wie äußern Lage Moskau auf die Dauer den Besitz Livlands nicht streitig machen konnten. Mit Recht geißelt Seraphim zwar die heillos ver¬ rotteten Zustände in Livland selbst, als sich die Nusseuuot näherte; trotzdem bleibt es ein Zeichen verderblicher Kurzsichtigkeit, neun niemand von den Reichs- ständen — nicht einmal die Hansestädte! — etwas von einer Hilfeleistung an die Livländer wissen wollte, wenn der Kaiser nicht über „tragikomische Ver¬ mittlungsversuche" mit Moskau hinauskam. Mit Livland ging dem Deutsch¬ tum das vierhundertjührige Übergewicht im europäischen Norden verloren, ver¬ loren an die Zukunft Rußlands. Dies scheint uus das leitende Motiv für die allgemein geschichtliche Auf¬ fassung der Geschichte Livlands zu sein. Seraphim hat es aber auch ver¬ standen, durch seine Schreibweise sein Werk anziehend zu machen. Es ist kein wissenschaftliches Buch im strengen Sinne, sondern wie schon der Titel sagt „eine populäre Darstellung," mit zahlreichen wörtlich aufgenommnen Stellen ans andern Bearbeitungen des Stoffs und den Originalqnellen selbst. Alle Einzelheiten der beiden stattlichen Bände werden freilich wohl nur bei den engern Landsleuten des Verfassers Interesse finden. Besonders gilt das von der zweiten Abteilung des zweiten Bandes, der Geschichte des Herzogtums Kurland, das beim Untergänge der staatlichen Selbständigkeit Livlands aus dein südlichen Stück desselben als ein polnischer Lehnsstaat gebildet wurde. Bei dieser Gelegenheit erinnern wir uns übrigens einer Bemerkung, die vor mehreren Jahren in einem Aufsatz der Grenzboten — über Livland — gemacht war. Der Verfasser hielt sich darüber auf, daß die „Ballen" für ihr Land keinen Gesamtncunen haben, sondern, wenn sie es als Ganzes bezeichnen wollen, die drei Namen „Livland," „Estland," „Kurland" neben einander stellen. Diese Beobachtung findet sich in dem Titel des Sernphimschen Werkes bestätigt. Man weiß in der That nicht, warum der Verfasser nicht einfach „Geschichte Livlands" gesagt hat. Denn gerade in seiner Darstellung wird die in jenem erwähnten Aufsatze ausgesprochne Meinung gerechtfertigt, daß „Livland" der geschichtliche Gesamtname für alle drei Ostseeprovinzen des russischen Reiches ist. Wenn er die Dreiteilung des Landes im Titel wirklich vornehmen mußte, so wäre das ein sehr kurioser Partikularismus „im Wasserglasse." Eine wertvolle Beigabe ist die historische Karte, die — von Löwis of

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/76>, abgerufen am 11.05.2024.