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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

neben seiner Volkstümlichkeit auch seine sittliche Berechtigung. Es ist recht
übel, wenn durch die Gelehrtensprache mit ihren verallgemeinernden und dem
Uneingeweihten unverständlichen Gesetzesausdruck das Wesen der Sache so wenig
getroffen wird, daß gemeingefährliche Thaten straflos ausgehen müssen, aber
noch viel schlimmer ist es, wenn sich Thaten, die der Uneingeweihte für ganz
harmlos halten muß, als große Vergehungen gegen das Strafgesetz heraus¬
stellen. Unkenntnis des Strafgesetzes schützt nicht vor Strafe; soll sich aber
der Uneingeweihte etwa dadurch vor Strafe schützen, daß er auf Schritt und
Tritt einen Rechtsanwalt mit sich herumführt? Selbst das würde ihm nicht
immer nützen, denn wir sind mit Strafgesetzen so gesegnet, daß auch der Rechts-
anwalt häufig erst in seinen Büchern nachsehen muß, ob eine Handlung als
"Strafthat" gebrandmarkt ist, und daß auch der Rechtsanwalt mitunter eine
Strafvorschrift übersieht oder nicht richtig auslegt. Die braven Bürger, die
meinen, der ordentliche, anstündige Mann brauche nur seiner Gesinnung treu
zu handeln, um frei und unbelästigt seines Weges gehen zu können, sind sehr
im Irrtum, denn unser Strafrecht hat oft seine eignen Wege, die man kennen
muß, um sich zurecht zu finden.

Wer z. B. eine Anklageschrift zugeschickt bekommt und sich im Geiste wegen
der ihm zur Last gelegten That an den Pranger gestellt sieht, der wird wohl
kaum auf den Gedanken kommen, wenn er nicht zufällig die einschlägigen ge¬
setzlichen Bestimmungen kennt, daß ihm gewissermaßen ein Amtsgeheimnis an¬
vertraut ist. Ohne besondre Belehrung kann es ihm nicht in den Sinn kommen,
daß er durch Veröffentlichung der Anklage in einer Zeitschrift vor Ablauf der
öffentlichen Verhandlung oder vor Schluß des Verfahrens nach §8 17 und 13
des Preßgesetzes einer Gefängnisstrafe bis zu sechs Monaten ausgesetzt ist, und
wenn er zur Veröffentlichung mehrere Zeitschriften oder Zeitungen wählt, die
Strafe auch noch höher ausfallen kann.

Wer von seinem Lehrling bestohlen worden ist, denkt sich gewiß nichts
böses dabei, wenn er Gnade für Recht ergehen lassen will, falls ihm der Vater
des Lehrlings seinen Schaden wenigstens teilweise ersetzt. Der Vater des Lehr¬
lings ist vielleicht reicher als er, der Vater hat doch auch nach allen Natur¬
gesetzen für den Jungen, der durch eine schwache Erziehung zum Spitzbuben
wurde und das gestohlne Gut verpraßte, eher einzustehen als der Lehrherr;
fällt doch auch durch eine gerichtliche Strafe des Jungen nur auf den Vater,
nicht auf den Lehrherrn die Empfindung der Schande. Der Lehrherr ent¬
schließt sich zu dem Vorschlage, daß ihm der Vater die Hälfte des gestohlnen
Gutes ersetzen solle, und erklärt sich für diesen Fall bereit, von einer Anzeige
Abstand zu nehmen. Auf Grund dieses Vorschlags kommt eine Einigung zu
stände. In den Augen der Welt hat der Lehrherr gewiß anständig gehandelt,
anständiger als der Vater, dessen Ehrenpflicht es gewesen wäre, den vollen
Schaden zu ersetzen. Nach dem Buchstaben des Strafgesetzes und der üblichen


Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

neben seiner Volkstümlichkeit auch seine sittliche Berechtigung. Es ist recht
übel, wenn durch die Gelehrtensprache mit ihren verallgemeinernden und dem
Uneingeweihten unverständlichen Gesetzesausdruck das Wesen der Sache so wenig
getroffen wird, daß gemeingefährliche Thaten straflos ausgehen müssen, aber
noch viel schlimmer ist es, wenn sich Thaten, die der Uneingeweihte für ganz
harmlos halten muß, als große Vergehungen gegen das Strafgesetz heraus¬
stellen. Unkenntnis des Strafgesetzes schützt nicht vor Strafe; soll sich aber
der Uneingeweihte etwa dadurch vor Strafe schützen, daß er auf Schritt und
Tritt einen Rechtsanwalt mit sich herumführt? Selbst das würde ihm nicht
immer nützen, denn wir sind mit Strafgesetzen so gesegnet, daß auch der Rechts-
anwalt häufig erst in seinen Büchern nachsehen muß, ob eine Handlung als
„Strafthat" gebrandmarkt ist, und daß auch der Rechtsanwalt mitunter eine
Strafvorschrift übersieht oder nicht richtig auslegt. Die braven Bürger, die
meinen, der ordentliche, anstündige Mann brauche nur seiner Gesinnung treu
zu handeln, um frei und unbelästigt seines Weges gehen zu können, sind sehr
im Irrtum, denn unser Strafrecht hat oft seine eignen Wege, die man kennen
muß, um sich zurecht zu finden.

Wer z. B. eine Anklageschrift zugeschickt bekommt und sich im Geiste wegen
der ihm zur Last gelegten That an den Pranger gestellt sieht, der wird wohl
kaum auf den Gedanken kommen, wenn er nicht zufällig die einschlägigen ge¬
setzlichen Bestimmungen kennt, daß ihm gewissermaßen ein Amtsgeheimnis an¬
vertraut ist. Ohne besondre Belehrung kann es ihm nicht in den Sinn kommen,
daß er durch Veröffentlichung der Anklage in einer Zeitschrift vor Ablauf der
öffentlichen Verhandlung oder vor Schluß des Verfahrens nach §8 17 und 13
des Preßgesetzes einer Gefängnisstrafe bis zu sechs Monaten ausgesetzt ist, und
wenn er zur Veröffentlichung mehrere Zeitschriften oder Zeitungen wählt, die
Strafe auch noch höher ausfallen kann.

Wer von seinem Lehrling bestohlen worden ist, denkt sich gewiß nichts
böses dabei, wenn er Gnade für Recht ergehen lassen will, falls ihm der Vater
des Lehrlings seinen Schaden wenigstens teilweise ersetzt. Der Vater des Lehr¬
lings ist vielleicht reicher als er, der Vater hat doch auch nach allen Natur¬
gesetzen für den Jungen, der durch eine schwache Erziehung zum Spitzbuben
wurde und das gestohlne Gut verpraßte, eher einzustehen als der Lehrherr;
fällt doch auch durch eine gerichtliche Strafe des Jungen nur auf den Vater,
nicht auf den Lehrherrn die Empfindung der Schande. Der Lehrherr ent¬
schließt sich zu dem Vorschlage, daß ihm der Vater die Hälfte des gestohlnen
Gutes ersetzen solle, und erklärt sich für diesen Fall bereit, von einer Anzeige
Abstand zu nehmen. Auf Grund dieses Vorschlags kommt eine Einigung zu
stände. In den Augen der Welt hat der Lehrherr gewiß anständig gehandelt,
anständiger als der Vater, dessen Ehrenpflicht es gewesen wäre, den vollen
Schaden zu ersetzen. Nach dem Buchstaben des Strafgesetzes und der üblichen


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[0128] Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg neben seiner Volkstümlichkeit auch seine sittliche Berechtigung. Es ist recht übel, wenn durch die Gelehrtensprache mit ihren verallgemeinernden und dem Uneingeweihten unverständlichen Gesetzesausdruck das Wesen der Sache so wenig getroffen wird, daß gemeingefährliche Thaten straflos ausgehen müssen, aber noch viel schlimmer ist es, wenn sich Thaten, die der Uneingeweihte für ganz harmlos halten muß, als große Vergehungen gegen das Strafgesetz heraus¬ stellen. Unkenntnis des Strafgesetzes schützt nicht vor Strafe; soll sich aber der Uneingeweihte etwa dadurch vor Strafe schützen, daß er auf Schritt und Tritt einen Rechtsanwalt mit sich herumführt? Selbst das würde ihm nicht immer nützen, denn wir sind mit Strafgesetzen so gesegnet, daß auch der Rechts- anwalt häufig erst in seinen Büchern nachsehen muß, ob eine Handlung als „Strafthat" gebrandmarkt ist, und daß auch der Rechtsanwalt mitunter eine Strafvorschrift übersieht oder nicht richtig auslegt. Die braven Bürger, die meinen, der ordentliche, anstündige Mann brauche nur seiner Gesinnung treu zu handeln, um frei und unbelästigt seines Weges gehen zu können, sind sehr im Irrtum, denn unser Strafrecht hat oft seine eignen Wege, die man kennen muß, um sich zurecht zu finden. Wer z. B. eine Anklageschrift zugeschickt bekommt und sich im Geiste wegen der ihm zur Last gelegten That an den Pranger gestellt sieht, der wird wohl kaum auf den Gedanken kommen, wenn er nicht zufällig die einschlägigen ge¬ setzlichen Bestimmungen kennt, daß ihm gewissermaßen ein Amtsgeheimnis an¬ vertraut ist. Ohne besondre Belehrung kann es ihm nicht in den Sinn kommen, daß er durch Veröffentlichung der Anklage in einer Zeitschrift vor Ablauf der öffentlichen Verhandlung oder vor Schluß des Verfahrens nach §8 17 und 13 des Preßgesetzes einer Gefängnisstrafe bis zu sechs Monaten ausgesetzt ist, und wenn er zur Veröffentlichung mehrere Zeitschriften oder Zeitungen wählt, die Strafe auch noch höher ausfallen kann. Wer von seinem Lehrling bestohlen worden ist, denkt sich gewiß nichts böses dabei, wenn er Gnade für Recht ergehen lassen will, falls ihm der Vater des Lehrlings seinen Schaden wenigstens teilweise ersetzt. Der Vater des Lehr¬ lings ist vielleicht reicher als er, der Vater hat doch auch nach allen Natur¬ gesetzen für den Jungen, der durch eine schwache Erziehung zum Spitzbuben wurde und das gestohlne Gut verpraßte, eher einzustehen als der Lehrherr; fällt doch auch durch eine gerichtliche Strafe des Jungen nur auf den Vater, nicht auf den Lehrherrn die Empfindung der Schande. Der Lehrherr ent¬ schließt sich zu dem Vorschlage, daß ihm der Vater die Hälfte des gestohlnen Gutes ersetzen solle, und erklärt sich für diesen Fall bereit, von einer Anzeige Abstand zu nehmen. Auf Grund dieses Vorschlags kommt eine Einigung zu stände. In den Augen der Welt hat der Lehrherr gewiß anständig gehandelt, anständiger als der Vater, dessen Ehrenpflicht es gewesen wäre, den vollen Schaden zu ersetzen. Nach dem Buchstaben des Strafgesetzes und der üblichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/128>, abgerufen am 21.05.2024.