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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die sterbende Dichtkunst

kämpfen. Auch die angeführten Meinungen des Engländers über das Ver¬
hältnis von Kultur und Poesie sind denn doch stark rationalistisch, obgleich er
wohl imstande ist, die ursprüngliche, volkstümliche Poesie von der abgeleiteten
Kultur-, oder sagen wir gleich von der akademischen Poesie zu unterscheiden.
Das verrät sich vor allem darin, daß er sür das praktische Schaffen, ja selbst
den Genuß der Poesie eine krankhafte Gemütsstimmung vorauszusetzen für
nötig hält. Er geht freilich nicht so weit, Genie einfach für Wahnsinn zu er¬
klären -- das war unsrer Zeit vorbehalten, vielleicht darf man sagen unserm
Radikalismus. Denn dieser Erbe des Nationalismus steht mit der Poesie im
allgemeinen auf noch schlechteren Fuße als sein Vorgänger. Aber als eine
Art Vorläufer Lombrosos und der Seinen kann man Macaulay immerhin be¬
trachten. Ich will seine Behauptungen jedoch der Reihe nach vornehmen; so
wird es vielleicht möglich werden, über die meisten der hier einschlagenden
Fragen Klarheit zu erlangen. Die Beziehung auf die Gegenwart wird sich
dabei ohne weiteres ergeben.

Maeaulays erste Behauptung lautet, daß die sogenannten "dunkeln"
Zeiten deshalb der Poesie günstiger seien, weil sich die Sprache, das Instru¬
ment des Dichters, in ihrem ursprünglichen Zustande am besten für seine
Zwecke eigne. Richtig ist es auf alle Fälle, die Entwicklung der Sprache und
der Poesie in enge Verbindung zu bringen; auch die im Laufe der Kultur¬
entwicklung eintretende Rationalisirung der Sprache läßt sich unmöglich leugnen.
Aber es ist doch zu viel gesagt, wenn der ursprünglichste Zustand der Sprache
als für die Poesie am meisten geeignet hingestellt wird. Sicherlich giebt es
einen Zustand der Sprache, wo sie sich noch nicht für die Poesie eignet, mag
immerhin der Bildcharakter der Sprache in ihren Anfängen am ausgeprägtesten
sein; sie muß eine bestimmte Ausbildung sowohl nach der Seite der Formen
als nach der des Reichtums der in ihr niedergelegten Vorstellungen erhalten
haben, ehe sie der Dichter benutzen kann. Und diese Ausbildung hat wieder
verschiedne Stufen: eine Sprache, die für die epische Dichtung geeignet ist, ist
es damit noch nicht für die lyrische und erst recht nicht für die dramatische.
Kurz, Maeaulays Behauptung, daß der ursprünglichste Zustand der Sprache
für deu Dichter am geeignetsten sei, ist viel zu allgemein und unterliegt den
mannichfachsten Einschränkungen. Nun ist man heute allerdings geneigt, die
ältesten Reste der Poesie auch für die poetisch wertvollsten zu halten, man hat
entdeckt, daß gerade die ältesten uns bekannten Gesänge aller Völker den echt
epischen Charakter, den Charakter der "Thatsächlichkeit und Sinnfälligkeit"
tragen, und findet "in der starren Zuspitzung, der einsilbigen Kargheit des
Ausdrucks," die sie auszeichnet, die wahrhaft dichterische Große. Darnach er¬
scheinen die homerischen Epen und unser Nibelungenlied schon als abgeleitete
Dichtungen. Einer der neuern Litteraturgeschichtsforscher spricht es ganz offen
aus: "Vom geschichtlichen Standpunkt müssen wir uns hüten, das Nibelungen-


Die sterbende Dichtkunst

kämpfen. Auch die angeführten Meinungen des Engländers über das Ver¬
hältnis von Kultur und Poesie sind denn doch stark rationalistisch, obgleich er
wohl imstande ist, die ursprüngliche, volkstümliche Poesie von der abgeleiteten
Kultur-, oder sagen wir gleich von der akademischen Poesie zu unterscheiden.
Das verrät sich vor allem darin, daß er sür das praktische Schaffen, ja selbst
den Genuß der Poesie eine krankhafte Gemütsstimmung vorauszusetzen für
nötig hält. Er geht freilich nicht so weit, Genie einfach für Wahnsinn zu er¬
klären — das war unsrer Zeit vorbehalten, vielleicht darf man sagen unserm
Radikalismus. Denn dieser Erbe des Nationalismus steht mit der Poesie im
allgemeinen auf noch schlechteren Fuße als sein Vorgänger. Aber als eine
Art Vorläufer Lombrosos und der Seinen kann man Macaulay immerhin be¬
trachten. Ich will seine Behauptungen jedoch der Reihe nach vornehmen; so
wird es vielleicht möglich werden, über die meisten der hier einschlagenden
Fragen Klarheit zu erlangen. Die Beziehung auf die Gegenwart wird sich
dabei ohne weiteres ergeben.

Maeaulays erste Behauptung lautet, daß die sogenannten „dunkeln"
Zeiten deshalb der Poesie günstiger seien, weil sich die Sprache, das Instru¬
ment des Dichters, in ihrem ursprünglichen Zustande am besten für seine
Zwecke eigne. Richtig ist es auf alle Fälle, die Entwicklung der Sprache und
der Poesie in enge Verbindung zu bringen; auch die im Laufe der Kultur¬
entwicklung eintretende Rationalisirung der Sprache läßt sich unmöglich leugnen.
Aber es ist doch zu viel gesagt, wenn der ursprünglichste Zustand der Sprache
als für die Poesie am meisten geeignet hingestellt wird. Sicherlich giebt es
einen Zustand der Sprache, wo sie sich noch nicht für die Poesie eignet, mag
immerhin der Bildcharakter der Sprache in ihren Anfängen am ausgeprägtesten
sein; sie muß eine bestimmte Ausbildung sowohl nach der Seite der Formen
als nach der des Reichtums der in ihr niedergelegten Vorstellungen erhalten
haben, ehe sie der Dichter benutzen kann. Und diese Ausbildung hat wieder
verschiedne Stufen: eine Sprache, die für die epische Dichtung geeignet ist, ist
es damit noch nicht für die lyrische und erst recht nicht für die dramatische.
Kurz, Maeaulays Behauptung, daß der ursprünglichste Zustand der Sprache
für deu Dichter am geeignetsten sei, ist viel zu allgemein und unterliegt den
mannichfachsten Einschränkungen. Nun ist man heute allerdings geneigt, die
ältesten Reste der Poesie auch für die poetisch wertvollsten zu halten, man hat
entdeckt, daß gerade die ältesten uns bekannten Gesänge aller Völker den echt
epischen Charakter, den Charakter der „Thatsächlichkeit und Sinnfälligkeit"
tragen, und findet „in der starren Zuspitzung, der einsilbigen Kargheit des
Ausdrucks," die sie auszeichnet, die wahrhaft dichterische Große. Darnach er¬
scheinen die homerischen Epen und unser Nibelungenlied schon als abgeleitete
Dichtungen. Einer der neuern Litteraturgeschichtsforscher spricht es ganz offen
aus: „Vom geschichtlichen Standpunkt müssen wir uns hüten, das Nibelungen-


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[0184] Die sterbende Dichtkunst kämpfen. Auch die angeführten Meinungen des Engländers über das Ver¬ hältnis von Kultur und Poesie sind denn doch stark rationalistisch, obgleich er wohl imstande ist, die ursprüngliche, volkstümliche Poesie von der abgeleiteten Kultur-, oder sagen wir gleich von der akademischen Poesie zu unterscheiden. Das verrät sich vor allem darin, daß er sür das praktische Schaffen, ja selbst den Genuß der Poesie eine krankhafte Gemütsstimmung vorauszusetzen für nötig hält. Er geht freilich nicht so weit, Genie einfach für Wahnsinn zu er¬ klären — das war unsrer Zeit vorbehalten, vielleicht darf man sagen unserm Radikalismus. Denn dieser Erbe des Nationalismus steht mit der Poesie im allgemeinen auf noch schlechteren Fuße als sein Vorgänger. Aber als eine Art Vorläufer Lombrosos und der Seinen kann man Macaulay immerhin be¬ trachten. Ich will seine Behauptungen jedoch der Reihe nach vornehmen; so wird es vielleicht möglich werden, über die meisten der hier einschlagenden Fragen Klarheit zu erlangen. Die Beziehung auf die Gegenwart wird sich dabei ohne weiteres ergeben. Maeaulays erste Behauptung lautet, daß die sogenannten „dunkeln" Zeiten deshalb der Poesie günstiger seien, weil sich die Sprache, das Instru¬ ment des Dichters, in ihrem ursprünglichen Zustande am besten für seine Zwecke eigne. Richtig ist es auf alle Fälle, die Entwicklung der Sprache und der Poesie in enge Verbindung zu bringen; auch die im Laufe der Kultur¬ entwicklung eintretende Rationalisirung der Sprache läßt sich unmöglich leugnen. Aber es ist doch zu viel gesagt, wenn der ursprünglichste Zustand der Sprache als für die Poesie am meisten geeignet hingestellt wird. Sicherlich giebt es einen Zustand der Sprache, wo sie sich noch nicht für die Poesie eignet, mag immerhin der Bildcharakter der Sprache in ihren Anfängen am ausgeprägtesten sein; sie muß eine bestimmte Ausbildung sowohl nach der Seite der Formen als nach der des Reichtums der in ihr niedergelegten Vorstellungen erhalten haben, ehe sie der Dichter benutzen kann. Und diese Ausbildung hat wieder verschiedne Stufen: eine Sprache, die für die epische Dichtung geeignet ist, ist es damit noch nicht für die lyrische und erst recht nicht für die dramatische. Kurz, Maeaulays Behauptung, daß der ursprünglichste Zustand der Sprache für deu Dichter am geeignetsten sei, ist viel zu allgemein und unterliegt den mannichfachsten Einschränkungen. Nun ist man heute allerdings geneigt, die ältesten Reste der Poesie auch für die poetisch wertvollsten zu halten, man hat entdeckt, daß gerade die ältesten uns bekannten Gesänge aller Völker den echt epischen Charakter, den Charakter der „Thatsächlichkeit und Sinnfälligkeit" tragen, und findet „in der starren Zuspitzung, der einsilbigen Kargheit des Ausdrucks," die sie auszeichnet, die wahrhaft dichterische Große. Darnach er¬ scheinen die homerischen Epen und unser Nibelungenlied schon als abgeleitete Dichtungen. Einer der neuern Litteraturgeschichtsforscher spricht es ganz offen aus: „Vom geschichtlichen Standpunkt müssen wir uns hüten, das Nibelungen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/184>, abgerufen am 14.06.2024.