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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die sterbende Dichtkunst

Epos setzt eine bestimmte Kultur voraus, wie ja auch jedes eine solche spiegelt.
Und dann soll man das Volksepos nicht wörtlich als Produkt des ganzen Volkes
nehmen, wie man es früher allgemein gethan hat und noch jetzt vielfach thut.
"Die Volkspoesie, sagt ein moderner Ästhetiker, ist in dem Sinne, worin
man den Ausdruck gewöhnlich nimmt, ein Unding; denn immer haben nur
Einzelne gedichtet. Aber freilich hat es eine Zeit gegeben, wo das ganze Volk
den poetischen Stoff zusammentrug, indem vermöge des noch bestehenden
innigen Zusammenhangs des Menschen und der Natur jeder Einzelne be¬
obachtete und die tausendfach verstreuten Züge auflesen (und man kann hinzu¬
fügen sprachlich festhalten) half, aus denen das dichterische Gebilde hervor¬
gehen sollte. Jetzt beobachtet eigentlich nur der, der auch schaffen soll, und
ohne Zweifel bemerkt eine Million Augen mehr als ein Paar, wenn es auch
das schärfste wäre." Der "Volksepiker" bekam also den poetischen Stoff bis
in die Einzelheiten von seinem Volke, und er dichtete (hier paßt das deutsche
Wort vortrefflich) dann auch wieder für das ganze Volk, trat niemals als
Einzelpersönlichkeit in Gegensatz zu ihm, wie das nach der bei allen Völkern
allmählich eintretenden Lostreunung des Einzelnen aus der Gesamtheit ge¬
schehen konnte, ja mußte. Daher erklärt sich deun auch, daß das Volksepos,
ein objektives Epos im großen Stil heute nicht mehr möglich ist; ein Dichter,
der gleichsam der Vertreter seines ganzen Volkes wäre, ist jetzt undenkbar ge¬
worden. Auch für das Volkslied leistete das Volk, sowohl den Stoff wie die
Stimmungsatmosphäre gebend, noch hervorragendes, doch mußte sich das Lied
seiner Natur nach schon subjektiver, individueller gestalten. Das Drama end¬
lich wurde, sobald es sich über die Improvisation erhob, ganz persönlich. So
ungefähr stellt sich die Entwicklung der Dichtung im Großen bei allen Völkern
dar. Gewiß verliert die Poesie, wie Macaulay sagt, mit der Hebung der
Kultur etwas, nämlich ihren Allcharakter, und die Wissenschaft gewinnt, das
heißt, eigentlich stellt sich der Vorgang als die eintretende Trennung zwischen
Poesie und Wissenschaft dar, die sich auch sprachlich, durch die Schöpfung der
Prosa und einer besondern poetischen Sprache verrät; die Geschichte und die
Philosophie übernehmen einen Teil der Aufgaben, die die Poesie im Kindheits¬
alter der Menschheit mit erfüllte, nichts aber hindert, daß die Poesie auf
schärfer abgegrenzten Gebieten eine um so tiefere Entwicklung nimmt. Es ist
richtig, daß die Wissenschaft zu allgemeinen Begriffen strebt, die Poesie
individnnlisirt, aber das eine schließt das andre nicht aus; die vereinzelnde
Kraft der Phantasie ist dem Menschen ebenso angeboren wie die verallgemeinernde
des Verstands, und wenn auch die Kultur, einseitig als die Verkörperiu realer
Lebenswerte gesehen, vielleicht den Verstand des Menschen mehr entwickelt als
die Phantasie anregt, so kaun sie doch die Phantasie um und nimmermehr
unterdrücken, sie kann ihr höchstens andre Wege weisen und die schaffende
Thätigkeit auf einzelne, besouders begabte Menschen beschränken. Wie diese


Die sterbende Dichtkunst

Epos setzt eine bestimmte Kultur voraus, wie ja auch jedes eine solche spiegelt.
Und dann soll man das Volksepos nicht wörtlich als Produkt des ganzen Volkes
nehmen, wie man es früher allgemein gethan hat und noch jetzt vielfach thut.
„Die Volkspoesie, sagt ein moderner Ästhetiker, ist in dem Sinne, worin
man den Ausdruck gewöhnlich nimmt, ein Unding; denn immer haben nur
Einzelne gedichtet. Aber freilich hat es eine Zeit gegeben, wo das ganze Volk
den poetischen Stoff zusammentrug, indem vermöge des noch bestehenden
innigen Zusammenhangs des Menschen und der Natur jeder Einzelne be¬
obachtete und die tausendfach verstreuten Züge auflesen (und man kann hinzu¬
fügen sprachlich festhalten) half, aus denen das dichterische Gebilde hervor¬
gehen sollte. Jetzt beobachtet eigentlich nur der, der auch schaffen soll, und
ohne Zweifel bemerkt eine Million Augen mehr als ein Paar, wenn es auch
das schärfste wäre." Der „Volksepiker" bekam also den poetischen Stoff bis
in die Einzelheiten von seinem Volke, und er dichtete (hier paßt das deutsche
Wort vortrefflich) dann auch wieder für das ganze Volk, trat niemals als
Einzelpersönlichkeit in Gegensatz zu ihm, wie das nach der bei allen Völkern
allmählich eintretenden Lostreunung des Einzelnen aus der Gesamtheit ge¬
schehen konnte, ja mußte. Daher erklärt sich deun auch, daß das Volksepos,
ein objektives Epos im großen Stil heute nicht mehr möglich ist; ein Dichter,
der gleichsam der Vertreter seines ganzen Volkes wäre, ist jetzt undenkbar ge¬
worden. Auch für das Volkslied leistete das Volk, sowohl den Stoff wie die
Stimmungsatmosphäre gebend, noch hervorragendes, doch mußte sich das Lied
seiner Natur nach schon subjektiver, individueller gestalten. Das Drama end¬
lich wurde, sobald es sich über die Improvisation erhob, ganz persönlich. So
ungefähr stellt sich die Entwicklung der Dichtung im Großen bei allen Völkern
dar. Gewiß verliert die Poesie, wie Macaulay sagt, mit der Hebung der
Kultur etwas, nämlich ihren Allcharakter, und die Wissenschaft gewinnt, das
heißt, eigentlich stellt sich der Vorgang als die eintretende Trennung zwischen
Poesie und Wissenschaft dar, die sich auch sprachlich, durch die Schöpfung der
Prosa und einer besondern poetischen Sprache verrät; die Geschichte und die
Philosophie übernehmen einen Teil der Aufgaben, die die Poesie im Kindheits¬
alter der Menschheit mit erfüllte, nichts aber hindert, daß die Poesie auf
schärfer abgegrenzten Gebieten eine um so tiefere Entwicklung nimmt. Es ist
richtig, daß die Wissenschaft zu allgemeinen Begriffen strebt, die Poesie
individnnlisirt, aber das eine schließt das andre nicht aus; die vereinzelnde
Kraft der Phantasie ist dem Menschen ebenso angeboren wie die verallgemeinernde
des Verstands, und wenn auch die Kultur, einseitig als die Verkörperiu realer
Lebenswerte gesehen, vielleicht den Verstand des Menschen mehr entwickelt als
die Phantasie anregt, so kaun sie doch die Phantasie um und nimmermehr
unterdrücken, sie kann ihr höchstens andre Wege weisen und die schaffende
Thätigkeit auf einzelne, besouders begabte Menschen beschränken. Wie diese


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[0186] Die sterbende Dichtkunst Epos setzt eine bestimmte Kultur voraus, wie ja auch jedes eine solche spiegelt. Und dann soll man das Volksepos nicht wörtlich als Produkt des ganzen Volkes nehmen, wie man es früher allgemein gethan hat und noch jetzt vielfach thut. „Die Volkspoesie, sagt ein moderner Ästhetiker, ist in dem Sinne, worin man den Ausdruck gewöhnlich nimmt, ein Unding; denn immer haben nur Einzelne gedichtet. Aber freilich hat es eine Zeit gegeben, wo das ganze Volk den poetischen Stoff zusammentrug, indem vermöge des noch bestehenden innigen Zusammenhangs des Menschen und der Natur jeder Einzelne be¬ obachtete und die tausendfach verstreuten Züge auflesen (und man kann hinzu¬ fügen sprachlich festhalten) half, aus denen das dichterische Gebilde hervor¬ gehen sollte. Jetzt beobachtet eigentlich nur der, der auch schaffen soll, und ohne Zweifel bemerkt eine Million Augen mehr als ein Paar, wenn es auch das schärfste wäre." Der „Volksepiker" bekam also den poetischen Stoff bis in die Einzelheiten von seinem Volke, und er dichtete (hier paßt das deutsche Wort vortrefflich) dann auch wieder für das ganze Volk, trat niemals als Einzelpersönlichkeit in Gegensatz zu ihm, wie das nach der bei allen Völkern allmählich eintretenden Lostreunung des Einzelnen aus der Gesamtheit ge¬ schehen konnte, ja mußte. Daher erklärt sich deun auch, daß das Volksepos, ein objektives Epos im großen Stil heute nicht mehr möglich ist; ein Dichter, der gleichsam der Vertreter seines ganzen Volkes wäre, ist jetzt undenkbar ge¬ worden. Auch für das Volkslied leistete das Volk, sowohl den Stoff wie die Stimmungsatmosphäre gebend, noch hervorragendes, doch mußte sich das Lied seiner Natur nach schon subjektiver, individueller gestalten. Das Drama end¬ lich wurde, sobald es sich über die Improvisation erhob, ganz persönlich. So ungefähr stellt sich die Entwicklung der Dichtung im Großen bei allen Völkern dar. Gewiß verliert die Poesie, wie Macaulay sagt, mit der Hebung der Kultur etwas, nämlich ihren Allcharakter, und die Wissenschaft gewinnt, das heißt, eigentlich stellt sich der Vorgang als die eintretende Trennung zwischen Poesie und Wissenschaft dar, die sich auch sprachlich, durch die Schöpfung der Prosa und einer besondern poetischen Sprache verrät; die Geschichte und die Philosophie übernehmen einen Teil der Aufgaben, die die Poesie im Kindheits¬ alter der Menschheit mit erfüllte, nichts aber hindert, daß die Poesie auf schärfer abgegrenzten Gebieten eine um so tiefere Entwicklung nimmt. Es ist richtig, daß die Wissenschaft zu allgemeinen Begriffen strebt, die Poesie individnnlisirt, aber das eine schließt das andre nicht aus; die vereinzelnde Kraft der Phantasie ist dem Menschen ebenso angeboren wie die verallgemeinernde des Verstands, und wenn auch die Kultur, einseitig als die Verkörperiu realer Lebenswerte gesehen, vielleicht den Verstand des Menschen mehr entwickelt als die Phantasie anregt, so kaun sie doch die Phantasie um und nimmermehr unterdrücken, sie kann ihr höchstens andre Wege weisen und die schaffende Thätigkeit auf einzelne, besouders begabte Menschen beschränken. Wie diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/186>, abgerufen am 15.06.2024.