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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die Pflicht der Einzelnen

möglich zu befriedigen. Beide widerstreitenden Antriebe vermitteln nun eben
das Eigeninteresse, die berechtigte Selbstsorge, die Liebe, die ein jeder für sein
eignes Ich hat. Es stellt sich uns dar als das stetige Verlangen und Streben
jedes Menschen, seine Bedürfnisse in immer vollkommneren Grade und mit
immer leichterer Mühe zu befriedigen. Prüfe sich nur jeder selbst, darauf
läuft doch sein ganzes Trachten auf wirtschaftlichem Gebiete hinaus: so viel
als möglich zu haben und so wenig wie möglich dafür zu thun." Und an
einer andern Stelle sagte er: "Darum erst die Pflicht der Selbstsorge für sich
und die Seinen erfüllt auf wirtschaftlichem Gebiete und den übernommnen
Verpflichtungen gegen seine Mitbürger und den Staat, den bürgerlichen Ge¬
setzen genug gethan -- dann erst, habe ich dann noch Kraft, Zeit und Mittel
übrig, und ich trete damit ein für eine humane Idee, zur Linderung von Not
und Elend, dann beginnt die rechte Brüderlichkeit. Sie beginnt da, wo das
Wirtschaftsleben und der Staat aufhört; nicht der Erwerb, nicht Recht und
Pflicht sind ihr Reich, nicht der Zwang ist ihre Macht, sondern die freie Liebe."
Nicht was Schulze, an dessen Gemeinsinn nicht gezweifelt werden soll, mit
solchen Lehren sagen wollte, sondern was diese Lehren thatsächlich bewirkt haben,
hat für uns Interesse, und wer die Blütezeit dieser praktisch manchesterlichen
Propaganda schon mit reifem Verständnis durchlebt hat -- übrigens eine Zeit,
in der die Mauchesterlehre in der nationalökonomischen Wissenschaft durch die
neue Schule in Deutschland schon ihrer Allmacht beraubt war --, der hat
wahrnehmen können, daß sich seit den sechziger Jahren in der sozialen Lebens¬
und Pflichtenauffassung der obern und mittlern Volksschichten ein ganz ge¬
waltiger Umschwung zu Gunsten der Manchestermoral vollzog. Die Lehre ge¬
staltete sich in Herz und Kopf der Leute etwa so: Auf wirtschaftlichem Gebiete
gilt der Grundsatz: "So viel als möglich zu haben, und so wenig als möglich
dafür zu thun." Erst wenn der Pflicht der "Selbstsorge" genügt ist, erst dann
hat man das Recht, auf Not und Elend andrer Rücksicht zu nehmen. Die
Grenze zu bestimmen liegt allein im Ermessen des Einzelnen. Praktisch führte
diese Lehre natürlich zur rücksichtslosesten Ausbeutung, zur lieblosesten Habsucht
in allen Lebenslagen, nicht nur im Geschüft und in der Wirtschaft. Wo ist
denn das Verhältnis, in dem die Habsucht nicht ein "wirtschaftliches" Inter¬
esse herauszufinden vermöchte? Etwa nicht in der Wahl des Ehegatten, der
Freunde, des Umgangs? Etwa nicht in dem , Streben des Beamten, des
Offiziers, des Gelehrten, des Künstlers? Gewinnsucht und Strebertum in
diesen Verhältnissen zum Vorwurf zu machen, ja nur für unschön zu halten,
das verdient doch, wenigstens seit 1870/71 und bis heute, nur ein mitleidiges
Lächeln. Und daß diese Lehre, wenn sie im Herzen des Volkes zur Herrschaft
gelangte, zwar den Volksreichtum um Milliarden und aber Milliarden in früher
unerhörter Schnelligkeit vermehren konnte, daß sie aber die sozialen Zustände
ebenso schnell von Grund aus. verderben mußte , davon haben wir uns seit


Die Pflicht der Einzelnen

möglich zu befriedigen. Beide widerstreitenden Antriebe vermitteln nun eben
das Eigeninteresse, die berechtigte Selbstsorge, die Liebe, die ein jeder für sein
eignes Ich hat. Es stellt sich uns dar als das stetige Verlangen und Streben
jedes Menschen, seine Bedürfnisse in immer vollkommneren Grade und mit
immer leichterer Mühe zu befriedigen. Prüfe sich nur jeder selbst, darauf
läuft doch sein ganzes Trachten auf wirtschaftlichem Gebiete hinaus: so viel
als möglich zu haben und so wenig wie möglich dafür zu thun." Und an
einer andern Stelle sagte er: „Darum erst die Pflicht der Selbstsorge für sich
und die Seinen erfüllt auf wirtschaftlichem Gebiete und den übernommnen
Verpflichtungen gegen seine Mitbürger und den Staat, den bürgerlichen Ge¬
setzen genug gethan — dann erst, habe ich dann noch Kraft, Zeit und Mittel
übrig, und ich trete damit ein für eine humane Idee, zur Linderung von Not
und Elend, dann beginnt die rechte Brüderlichkeit. Sie beginnt da, wo das
Wirtschaftsleben und der Staat aufhört; nicht der Erwerb, nicht Recht und
Pflicht sind ihr Reich, nicht der Zwang ist ihre Macht, sondern die freie Liebe."
Nicht was Schulze, an dessen Gemeinsinn nicht gezweifelt werden soll, mit
solchen Lehren sagen wollte, sondern was diese Lehren thatsächlich bewirkt haben,
hat für uns Interesse, und wer die Blütezeit dieser praktisch manchesterlichen
Propaganda schon mit reifem Verständnis durchlebt hat — übrigens eine Zeit,
in der die Mauchesterlehre in der nationalökonomischen Wissenschaft durch die
neue Schule in Deutschland schon ihrer Allmacht beraubt war —, der hat
wahrnehmen können, daß sich seit den sechziger Jahren in der sozialen Lebens¬
und Pflichtenauffassung der obern und mittlern Volksschichten ein ganz ge¬
waltiger Umschwung zu Gunsten der Manchestermoral vollzog. Die Lehre ge¬
staltete sich in Herz und Kopf der Leute etwa so: Auf wirtschaftlichem Gebiete
gilt der Grundsatz: „So viel als möglich zu haben, und so wenig als möglich
dafür zu thun." Erst wenn der Pflicht der „Selbstsorge" genügt ist, erst dann
hat man das Recht, auf Not und Elend andrer Rücksicht zu nehmen. Die
Grenze zu bestimmen liegt allein im Ermessen des Einzelnen. Praktisch führte
diese Lehre natürlich zur rücksichtslosesten Ausbeutung, zur lieblosesten Habsucht
in allen Lebenslagen, nicht nur im Geschüft und in der Wirtschaft. Wo ist
denn das Verhältnis, in dem die Habsucht nicht ein „wirtschaftliches" Inter¬
esse herauszufinden vermöchte? Etwa nicht in der Wahl des Ehegatten, der
Freunde, des Umgangs? Etwa nicht in dem , Streben des Beamten, des
Offiziers, des Gelehrten, des Künstlers? Gewinnsucht und Strebertum in
diesen Verhältnissen zum Vorwurf zu machen, ja nur für unschön zu halten,
das verdient doch, wenigstens seit 1870/71 und bis heute, nur ein mitleidiges
Lächeln. Und daß diese Lehre, wenn sie im Herzen des Volkes zur Herrschaft
gelangte, zwar den Volksreichtum um Milliarden und aber Milliarden in früher
unerhörter Schnelligkeit vermehren konnte, daß sie aber die sozialen Zustände
ebenso schnell von Grund aus. verderben mußte , davon haben wir uns seit


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[0194] Die Pflicht der Einzelnen möglich zu befriedigen. Beide widerstreitenden Antriebe vermitteln nun eben das Eigeninteresse, die berechtigte Selbstsorge, die Liebe, die ein jeder für sein eignes Ich hat. Es stellt sich uns dar als das stetige Verlangen und Streben jedes Menschen, seine Bedürfnisse in immer vollkommneren Grade und mit immer leichterer Mühe zu befriedigen. Prüfe sich nur jeder selbst, darauf läuft doch sein ganzes Trachten auf wirtschaftlichem Gebiete hinaus: so viel als möglich zu haben und so wenig wie möglich dafür zu thun." Und an einer andern Stelle sagte er: „Darum erst die Pflicht der Selbstsorge für sich und die Seinen erfüllt auf wirtschaftlichem Gebiete und den übernommnen Verpflichtungen gegen seine Mitbürger und den Staat, den bürgerlichen Ge¬ setzen genug gethan — dann erst, habe ich dann noch Kraft, Zeit und Mittel übrig, und ich trete damit ein für eine humane Idee, zur Linderung von Not und Elend, dann beginnt die rechte Brüderlichkeit. Sie beginnt da, wo das Wirtschaftsleben und der Staat aufhört; nicht der Erwerb, nicht Recht und Pflicht sind ihr Reich, nicht der Zwang ist ihre Macht, sondern die freie Liebe." Nicht was Schulze, an dessen Gemeinsinn nicht gezweifelt werden soll, mit solchen Lehren sagen wollte, sondern was diese Lehren thatsächlich bewirkt haben, hat für uns Interesse, und wer die Blütezeit dieser praktisch manchesterlichen Propaganda schon mit reifem Verständnis durchlebt hat — übrigens eine Zeit, in der die Mauchesterlehre in der nationalökonomischen Wissenschaft durch die neue Schule in Deutschland schon ihrer Allmacht beraubt war —, der hat wahrnehmen können, daß sich seit den sechziger Jahren in der sozialen Lebens¬ und Pflichtenauffassung der obern und mittlern Volksschichten ein ganz ge¬ waltiger Umschwung zu Gunsten der Manchestermoral vollzog. Die Lehre ge¬ staltete sich in Herz und Kopf der Leute etwa so: Auf wirtschaftlichem Gebiete gilt der Grundsatz: „So viel als möglich zu haben, und so wenig als möglich dafür zu thun." Erst wenn der Pflicht der „Selbstsorge" genügt ist, erst dann hat man das Recht, auf Not und Elend andrer Rücksicht zu nehmen. Die Grenze zu bestimmen liegt allein im Ermessen des Einzelnen. Praktisch führte diese Lehre natürlich zur rücksichtslosesten Ausbeutung, zur lieblosesten Habsucht in allen Lebenslagen, nicht nur im Geschüft und in der Wirtschaft. Wo ist denn das Verhältnis, in dem die Habsucht nicht ein „wirtschaftliches" Inter¬ esse herauszufinden vermöchte? Etwa nicht in der Wahl des Ehegatten, der Freunde, des Umgangs? Etwa nicht in dem , Streben des Beamten, des Offiziers, des Gelehrten, des Künstlers? Gewinnsucht und Strebertum in diesen Verhältnissen zum Vorwurf zu machen, ja nur für unschön zu halten, das verdient doch, wenigstens seit 1870/71 und bis heute, nur ein mitleidiges Lächeln. Und daß diese Lehre, wenn sie im Herzen des Volkes zur Herrschaft gelangte, zwar den Volksreichtum um Milliarden und aber Milliarden in früher unerhörter Schnelligkeit vermehren konnte, daß sie aber die sozialen Zustände ebenso schnell von Grund aus. verderben mußte , davon haben wir uns seit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/194>, abgerufen am 15.06.2024.