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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Der juristische Zopf

Verstandesschärfung gewährt, so hoch an. daß er ihn als ausreichenden Ersatz
für den Mangel an Fachkenntnis ansieht. Aber im Publikum schätzt man die
Verstandesschärfe der Juristen schon seit langer Zeit weit niedriger. Es sind
in neuerer Zeit zu viel Urteile und Urteilsbegründungen der wunderbarsten
Art, selbst bei höhern Gerichtshöfen, vorgekommen, die das Vertrauen zu der
Schürfe des juristischen Denkens mächtig erschüttert haben.

Und ist es denn in der That so, daß der Stoff, an dem der Jurist seine
Denkkraft übt, alle andern Stoffe durch den Zwang zu scharfer Auffassung so
wesentlich übertreffe? Bieten nicht die Naturwissenschaften dafür einen ebenso
guten, ja in vieler Hinsicht bessern Anlaß? In Wahrheit muß man sagen,
daß nirgends höhere Anforderungen an die Klarheit und Schärfe des Denkens
gestellt werden, als in der gegenwärtigen Naturforschung, insbesondre in ihren
exakten Zweigen.

Man stelle also getrost an die Spitze des Patentamts überhaupt, wie an
die Spitze der einzelnen Abteilungen geeignete Vertreter der Naturwissenschaft,
Männer, die durch ihre Ausbildung mit den Grundlagen der Technik genügend
vertraut und durch die ganze Art ihres Studiums vor der fachtechnischen Ein¬
seitigkeit genügend geschützt sind, um bei den einzelnen vom Patentamt zu er¬
ledigenden Fragen im Streite der Techniker eine wirklich sachgemäße Entschei¬
dung fällen zu können. Die formelle Gewandtheit in der äußerlichen Erledigung
der Geschäfte werden sich solche Männer ebenso gut aneignen können wie die
Juristen; besteht doch die Anforderung zur Entfaltung solcher Gewandtheit
auch außerhalb der juristischen Kreise in sehr viel Beamten- wie bürgerlichen
Stellungen, und lehrt doch die Erfahrung, daß dieser Anforderung fast immer
entsprochen wird. Für die Erledigung der rein rechtlichen Fragen, die beim
Patentamt neben der eigentlichen Berufsthätigkeit etwa noch auftauchen könnten,
mögen ein oder zwei Syndici sorgen.

Als zweites Beispiel haben wir die Eisenbahnverwaltung gewählt, wo der
"Assessorismus" besonders üppige Blüten treibt. Nach der gegenwärtigen
Organisation des preußischem Staatseisenbahnbetriebcs giebt es zwanzig Eisen¬
bahndirektionen. Von den zwanzig Präsidenten dieser Direktionen sind siebzehn
Juristen, drei Techniker; der dem Ressort vorgesetzte "Minister der öffentlichen
Arbeiten" ist selbst Jurist. In jeder Eiscnbnhndirektion wirken unter dem
Präsidenten ein technischer Oberbaurat und ein juristischer Oberregierungsrat,
das weitere Personal an höhern Beamten besteht aus technischen Bau- und
Maschineninspektoren, sowie aus juristischen Negierungsräten und Regierungs¬
assessoren.

Während in der Besetzung der Präsidentenstellen die Bevorzugung der
Juristen schon in der Zahl schlagend hervortritt, findet sie in den untern Stellen
dadurch ihren Ausdruck, daß die Juristen weit früher in den Rang des Regie¬
rungsrath einrücken als die Techniker, die Bau- und Maschineninspektoren; diese


Der juristische Zopf

Verstandesschärfung gewährt, so hoch an. daß er ihn als ausreichenden Ersatz
für den Mangel an Fachkenntnis ansieht. Aber im Publikum schätzt man die
Verstandesschärfe der Juristen schon seit langer Zeit weit niedriger. Es sind
in neuerer Zeit zu viel Urteile und Urteilsbegründungen der wunderbarsten
Art, selbst bei höhern Gerichtshöfen, vorgekommen, die das Vertrauen zu der
Schürfe des juristischen Denkens mächtig erschüttert haben.

Und ist es denn in der That so, daß der Stoff, an dem der Jurist seine
Denkkraft übt, alle andern Stoffe durch den Zwang zu scharfer Auffassung so
wesentlich übertreffe? Bieten nicht die Naturwissenschaften dafür einen ebenso
guten, ja in vieler Hinsicht bessern Anlaß? In Wahrheit muß man sagen,
daß nirgends höhere Anforderungen an die Klarheit und Schärfe des Denkens
gestellt werden, als in der gegenwärtigen Naturforschung, insbesondre in ihren
exakten Zweigen.

Man stelle also getrost an die Spitze des Patentamts überhaupt, wie an
die Spitze der einzelnen Abteilungen geeignete Vertreter der Naturwissenschaft,
Männer, die durch ihre Ausbildung mit den Grundlagen der Technik genügend
vertraut und durch die ganze Art ihres Studiums vor der fachtechnischen Ein¬
seitigkeit genügend geschützt sind, um bei den einzelnen vom Patentamt zu er¬
ledigenden Fragen im Streite der Techniker eine wirklich sachgemäße Entschei¬
dung fällen zu können. Die formelle Gewandtheit in der äußerlichen Erledigung
der Geschäfte werden sich solche Männer ebenso gut aneignen können wie die
Juristen; besteht doch die Anforderung zur Entfaltung solcher Gewandtheit
auch außerhalb der juristischen Kreise in sehr viel Beamten- wie bürgerlichen
Stellungen, und lehrt doch die Erfahrung, daß dieser Anforderung fast immer
entsprochen wird. Für die Erledigung der rein rechtlichen Fragen, die beim
Patentamt neben der eigentlichen Berufsthätigkeit etwa noch auftauchen könnten,
mögen ein oder zwei Syndici sorgen.

Als zweites Beispiel haben wir die Eisenbahnverwaltung gewählt, wo der
„Assessorismus" besonders üppige Blüten treibt. Nach der gegenwärtigen
Organisation des preußischem Staatseisenbahnbetriebcs giebt es zwanzig Eisen¬
bahndirektionen. Von den zwanzig Präsidenten dieser Direktionen sind siebzehn
Juristen, drei Techniker; der dem Ressort vorgesetzte „Minister der öffentlichen
Arbeiten" ist selbst Jurist. In jeder Eiscnbnhndirektion wirken unter dem
Präsidenten ein technischer Oberbaurat und ein juristischer Oberregierungsrat,
das weitere Personal an höhern Beamten besteht aus technischen Bau- und
Maschineninspektoren, sowie aus juristischen Negierungsräten und Regierungs¬
assessoren.

Während in der Besetzung der Präsidentenstellen die Bevorzugung der
Juristen schon in der Zahl schlagend hervortritt, findet sie in den untern Stellen
dadurch ihren Ausdruck, daß die Juristen weit früher in den Rang des Regie¬
rungsrath einrücken als die Techniker, die Bau- und Maschineninspektoren; diese


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[0021] Der juristische Zopf Verstandesschärfung gewährt, so hoch an. daß er ihn als ausreichenden Ersatz für den Mangel an Fachkenntnis ansieht. Aber im Publikum schätzt man die Verstandesschärfe der Juristen schon seit langer Zeit weit niedriger. Es sind in neuerer Zeit zu viel Urteile und Urteilsbegründungen der wunderbarsten Art, selbst bei höhern Gerichtshöfen, vorgekommen, die das Vertrauen zu der Schürfe des juristischen Denkens mächtig erschüttert haben. Und ist es denn in der That so, daß der Stoff, an dem der Jurist seine Denkkraft übt, alle andern Stoffe durch den Zwang zu scharfer Auffassung so wesentlich übertreffe? Bieten nicht die Naturwissenschaften dafür einen ebenso guten, ja in vieler Hinsicht bessern Anlaß? In Wahrheit muß man sagen, daß nirgends höhere Anforderungen an die Klarheit und Schärfe des Denkens gestellt werden, als in der gegenwärtigen Naturforschung, insbesondre in ihren exakten Zweigen. Man stelle also getrost an die Spitze des Patentamts überhaupt, wie an die Spitze der einzelnen Abteilungen geeignete Vertreter der Naturwissenschaft, Männer, die durch ihre Ausbildung mit den Grundlagen der Technik genügend vertraut und durch die ganze Art ihres Studiums vor der fachtechnischen Ein¬ seitigkeit genügend geschützt sind, um bei den einzelnen vom Patentamt zu er¬ ledigenden Fragen im Streite der Techniker eine wirklich sachgemäße Entschei¬ dung fällen zu können. Die formelle Gewandtheit in der äußerlichen Erledigung der Geschäfte werden sich solche Männer ebenso gut aneignen können wie die Juristen; besteht doch die Anforderung zur Entfaltung solcher Gewandtheit auch außerhalb der juristischen Kreise in sehr viel Beamten- wie bürgerlichen Stellungen, und lehrt doch die Erfahrung, daß dieser Anforderung fast immer entsprochen wird. Für die Erledigung der rein rechtlichen Fragen, die beim Patentamt neben der eigentlichen Berufsthätigkeit etwa noch auftauchen könnten, mögen ein oder zwei Syndici sorgen. Als zweites Beispiel haben wir die Eisenbahnverwaltung gewählt, wo der „Assessorismus" besonders üppige Blüten treibt. Nach der gegenwärtigen Organisation des preußischem Staatseisenbahnbetriebcs giebt es zwanzig Eisen¬ bahndirektionen. Von den zwanzig Präsidenten dieser Direktionen sind siebzehn Juristen, drei Techniker; der dem Ressort vorgesetzte „Minister der öffentlichen Arbeiten" ist selbst Jurist. In jeder Eiscnbnhndirektion wirken unter dem Präsidenten ein technischer Oberbaurat und ein juristischer Oberregierungsrat, das weitere Personal an höhern Beamten besteht aus technischen Bau- und Maschineninspektoren, sowie aus juristischen Negierungsräten und Regierungs¬ assessoren. Während in der Besetzung der Präsidentenstellen die Bevorzugung der Juristen schon in der Zahl schlagend hervortritt, findet sie in den untern Stellen dadurch ihren Ausdruck, daß die Juristen weit früher in den Rang des Regie¬ rungsrath einrücken als die Techniker, die Bau- und Maschineninspektoren; diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/21>, abgerufen am 21.05.2024.