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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kritik des Marxismus

bisher unerforschten Zusammenhange hervor. Wie triumphirte man, als man
die Urstätte des organischen Lebens in der Zelle entdeckt hatte, und was für
ein unergründliches Geheimnis ist nun wieder die Zelle selbst! Und die Ge¬
sellschaft ist, als ein wesentlicher Teil der Wirklichkeit, so wenig zu ergründen
wie die gesamte Wirklichkeit, wie die Natur und der Geist. Nur was der
Verstand ohne Rest durchdringt, vermag der Wille planvoll zu leiten. Daher
wird es niemals möglich sein, die verwickelte Wirtschaft eines großen zivilisirten
Staates oder gar die Weltwirtschaft von einem Mittelpunkte aus planvoll zu
leiten. Systeme sind notwendig, weil wir, um uns einigermaßen zurecht zu
finden, einseitig verfahren, bald diesen, bald jenen Zusammenhang verfolgen
und gesondert betrachten müssen, aber jedes System mit seiner einseitigen
Wahrheit wird falsch, sobald es sich anmaßt, ein Bild des Weltganzen sein zu
wollen.

2. Wie immer es auch um die angenommne Einheit der jenseitigen Ursache
der Welt stehen mag, in der diesseitigen Wirklichkeit finden wir viele und
vielerlei zusammenwirkende Wesen und Kräfte, und jeder geht irre, der alle
Erscheinungen auf ein einziges "Prinzip" zurückführen will.'

3. Die Veränderungen der Welt vollziehen sich nicht in der Weise, daß
jedesmal an die Stelle eines absterbenden Wesens oder Zustandes etwas Neues
träte, und das Alte vor dem Neuen verschwände, sondern das Alte bleibt
-- nicht dem Individuum, sondern der Art nach -- neben dem Neuen bestehen.
Die niedern Pflanzen und Tiere sind nicht verschwunden, als die höhern ins
Dasein traten; nur einige Arten von Säugetieren, Reptilien und Mischwesen,
die keineswegs zu den niedrigsten Arten gehören, sind durch klimatische und
geologische Umwälzungen vernichtet worden. Gerade die niedersten Lebewesen
sind die widerstandsfähigsten (sogar unsterblich werden sie von neuern Forschern
genannt) und würden, wenn dereinst einmal das organische Leben auf unsrer
Erde durch Hitze oder Kälte vernichtet werden sollte, alles höhere Getier und
uns Menschen eine geraume Zeit überleben. So dauern auch die alten Staats¬
und Wirtschaftsformen neben den neuern fort.

4. Gerade dadurch, daß die alten Formen neben den neuen fortbestehen,
wird die Welt immer reicher und mannichfaltiger, während sie im andern Falle
immer gleich arm und eintönig bleiben würde. Und gerade in der Aufnahme
dieses wachsenden Reichtums in unsre Erkenntnis und in unsrer schöpferischen,
Mitwirkung an der Bereicherung des Daseins durch Hervorbringung neuer Gesell¬
schafts-, Staats- und Produktivnsformen, Kunstfertigkeiten und Einrichtungen
besteht der Fortschritt der Menschheit, von dem der technische Fortschritt der in
unsrer Zeit am meisten hervorstechende Teil ist. Dagegen ist der Fortschritt,
auf deu so viele Optimisten das größte Gewicht legen, nur in ihrer Ein¬
bildung vorhanden: die Menschen werden weder weiser, noch besser, noch
glücklicher.


Zur Kritik des Marxismus

bisher unerforschten Zusammenhange hervor. Wie triumphirte man, als man
die Urstätte des organischen Lebens in der Zelle entdeckt hatte, und was für
ein unergründliches Geheimnis ist nun wieder die Zelle selbst! Und die Ge¬
sellschaft ist, als ein wesentlicher Teil der Wirklichkeit, so wenig zu ergründen
wie die gesamte Wirklichkeit, wie die Natur und der Geist. Nur was der
Verstand ohne Rest durchdringt, vermag der Wille planvoll zu leiten. Daher
wird es niemals möglich sein, die verwickelte Wirtschaft eines großen zivilisirten
Staates oder gar die Weltwirtschaft von einem Mittelpunkte aus planvoll zu
leiten. Systeme sind notwendig, weil wir, um uns einigermaßen zurecht zu
finden, einseitig verfahren, bald diesen, bald jenen Zusammenhang verfolgen
und gesondert betrachten müssen, aber jedes System mit seiner einseitigen
Wahrheit wird falsch, sobald es sich anmaßt, ein Bild des Weltganzen sein zu
wollen.

2. Wie immer es auch um die angenommne Einheit der jenseitigen Ursache
der Welt stehen mag, in der diesseitigen Wirklichkeit finden wir viele und
vielerlei zusammenwirkende Wesen und Kräfte, und jeder geht irre, der alle
Erscheinungen auf ein einziges „Prinzip" zurückführen will.'

3. Die Veränderungen der Welt vollziehen sich nicht in der Weise, daß
jedesmal an die Stelle eines absterbenden Wesens oder Zustandes etwas Neues
träte, und das Alte vor dem Neuen verschwände, sondern das Alte bleibt
— nicht dem Individuum, sondern der Art nach — neben dem Neuen bestehen.
Die niedern Pflanzen und Tiere sind nicht verschwunden, als die höhern ins
Dasein traten; nur einige Arten von Säugetieren, Reptilien und Mischwesen,
die keineswegs zu den niedrigsten Arten gehören, sind durch klimatische und
geologische Umwälzungen vernichtet worden. Gerade die niedersten Lebewesen
sind die widerstandsfähigsten (sogar unsterblich werden sie von neuern Forschern
genannt) und würden, wenn dereinst einmal das organische Leben auf unsrer
Erde durch Hitze oder Kälte vernichtet werden sollte, alles höhere Getier und
uns Menschen eine geraume Zeit überleben. So dauern auch die alten Staats¬
und Wirtschaftsformen neben den neuern fort.

4. Gerade dadurch, daß die alten Formen neben den neuen fortbestehen,
wird die Welt immer reicher und mannichfaltiger, während sie im andern Falle
immer gleich arm und eintönig bleiben würde. Und gerade in der Aufnahme
dieses wachsenden Reichtums in unsre Erkenntnis und in unsrer schöpferischen,
Mitwirkung an der Bereicherung des Daseins durch Hervorbringung neuer Gesell¬
schafts-, Staats- und Produktivnsformen, Kunstfertigkeiten und Einrichtungen
besteht der Fortschritt der Menschheit, von dem der technische Fortschritt der in
unsrer Zeit am meisten hervorstechende Teil ist. Dagegen ist der Fortschritt,
auf deu so viele Optimisten das größte Gewicht legen, nur in ihrer Ein¬
bildung vorhanden: die Menschen werden weder weiser, noch besser, noch
glücklicher.


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[0290] Zur Kritik des Marxismus bisher unerforschten Zusammenhange hervor. Wie triumphirte man, als man die Urstätte des organischen Lebens in der Zelle entdeckt hatte, und was für ein unergründliches Geheimnis ist nun wieder die Zelle selbst! Und die Ge¬ sellschaft ist, als ein wesentlicher Teil der Wirklichkeit, so wenig zu ergründen wie die gesamte Wirklichkeit, wie die Natur und der Geist. Nur was der Verstand ohne Rest durchdringt, vermag der Wille planvoll zu leiten. Daher wird es niemals möglich sein, die verwickelte Wirtschaft eines großen zivilisirten Staates oder gar die Weltwirtschaft von einem Mittelpunkte aus planvoll zu leiten. Systeme sind notwendig, weil wir, um uns einigermaßen zurecht zu finden, einseitig verfahren, bald diesen, bald jenen Zusammenhang verfolgen und gesondert betrachten müssen, aber jedes System mit seiner einseitigen Wahrheit wird falsch, sobald es sich anmaßt, ein Bild des Weltganzen sein zu wollen. 2. Wie immer es auch um die angenommne Einheit der jenseitigen Ursache der Welt stehen mag, in der diesseitigen Wirklichkeit finden wir viele und vielerlei zusammenwirkende Wesen und Kräfte, und jeder geht irre, der alle Erscheinungen auf ein einziges „Prinzip" zurückführen will.' 3. Die Veränderungen der Welt vollziehen sich nicht in der Weise, daß jedesmal an die Stelle eines absterbenden Wesens oder Zustandes etwas Neues träte, und das Alte vor dem Neuen verschwände, sondern das Alte bleibt — nicht dem Individuum, sondern der Art nach — neben dem Neuen bestehen. Die niedern Pflanzen und Tiere sind nicht verschwunden, als die höhern ins Dasein traten; nur einige Arten von Säugetieren, Reptilien und Mischwesen, die keineswegs zu den niedrigsten Arten gehören, sind durch klimatische und geologische Umwälzungen vernichtet worden. Gerade die niedersten Lebewesen sind die widerstandsfähigsten (sogar unsterblich werden sie von neuern Forschern genannt) und würden, wenn dereinst einmal das organische Leben auf unsrer Erde durch Hitze oder Kälte vernichtet werden sollte, alles höhere Getier und uns Menschen eine geraume Zeit überleben. So dauern auch die alten Staats¬ und Wirtschaftsformen neben den neuern fort. 4. Gerade dadurch, daß die alten Formen neben den neuen fortbestehen, wird die Welt immer reicher und mannichfaltiger, während sie im andern Falle immer gleich arm und eintönig bleiben würde. Und gerade in der Aufnahme dieses wachsenden Reichtums in unsre Erkenntnis und in unsrer schöpferischen, Mitwirkung an der Bereicherung des Daseins durch Hervorbringung neuer Gesell¬ schafts-, Staats- und Produktivnsformen, Kunstfertigkeiten und Einrichtungen besteht der Fortschritt der Menschheit, von dem der technische Fortschritt der in unsrer Zeit am meisten hervorstechende Teil ist. Dagegen ist der Fortschritt, auf deu so viele Optimisten das größte Gewicht legen, nur in ihrer Ein¬ bildung vorhanden: die Menschen werden weder weiser, noch besser, noch glücklicher.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/290>, abgerufen am 21.05.2024.