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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kritik des Marxismus

sind sie auch bankerott" (und bestätigt dadurch meine Ansicht, daß sich in
einem Lande von alter Kultur und teueren Boden kein Bauernstand schaffen
und ein etwa vorhandncr sich nicht wesentlich vermehren läßt). Daß diese
Krisis des landwirtschaftlichen Grundbesitzes, die irreführend Not der Land¬
wirtschaft genannt wird, nur ein Teil der allgemeinen Krisis ist, daß die Land¬
wirtschaft niemals an sich, sondern nur, soweit sie kapitalistisch betrieben wird,
in eine Krisis geraten kann, ist in den Grenzboten oft genug dargelegt worden.
Ebenso behaupten die Handwerker und die Krümer, daß es um sie geschehen
sei, wenn der Staat zu ihrer Rettung nicht außerordentliche Mittel anwende,
und solche Mittel Hütte der Staat, dem an der Erhaltung dieser Stunde sehr
viel gelegen ist, doch gewiß lüngst angewandt, wenn er welche wüßte. Die
Großindustriellen aber pflegen die höhern Lohnforderungen der Arbeiter mit
der Klage abzuweisen, daß sie selbst nichts verdienten, daß sich kaum ihr Be¬
triebskapital verzinse, daß viele von ihnen mit Verlust arbeitete", nur um ihre
Leute zu beschüftigen. Die Ur. 2 der Korrespondenz des Bundes der Land¬
wirte schreibt in einer ihrer Anklagen gegen den neuen Kurs (vom natürlichen
Zusammenhange der wirtschaftlichen Dinge haben diese Leute ja keinen Begriff,
und darum klagen sie Minister an): "Ja, wenn unsre Industrie wirklich noch
florirte und zeigte, daß sie die Nation ernühren kann! Dabei aber schwellen in
den Großstädten die Zahlen der Arbeitslosen unheimlich an, überall wirtschaft¬
liche Depression, Klagen und Seufzer; die mit so ungeheuerm Tamtam an¬
gekündigte Berliner GeWerbeausstellung hat ein schweres Fiasko gemacht, und
der Nest ist -- Ptene." In alledem mag ja sehr viel Übertreibung aus
Privatinteresse und Parteitaktik sein; aber soll man denn glauben, daß alles
geradezu erlogen sei, und daß die Angehörigen der staatserhaltenden Stunde
logen, so oft sie den Mund aufthun? Dazu kann ich mich denn doch vor¬
läufig noch nicht entschließen. Was unter der Überschrift "Englische Zustünde"
vor ein paar Monaten über die Krisis in England gesagt worden ist, hat
mittlerweile eine zum Studium der auswärtigen Industrie entsandte technische
Kommission mit ihrem Bericht ergänzt, der es für zweifellos erklärt, daß
einige Fächer der britischen Industrie durch die industriellen Fortschritte Deutsch¬
lands ernstlich gefährdet seien. Engels hatte in einem Vorwort zu einer neuen
Ausgabe von Marxens "Elend der Philosophie" geschrieben, an die Stelle des
Wechsels von Aufschwung und Krisis, der bisher die kapitalistische Wirtschaft
charcikterisirt habe, scheine jetzt die chronische Stagnation treten zu wollen.
Dazu bemerkt Wenckstern: "Aus dem Zusammenbruch ist ^also^ eine chronische
Stagnation geworden. Mit diesem Zugeständnis von Engels kapitulirt der
Marxismus und bleibt nur noch auf einen Abzug mit Gepäck und Waffen
bedacht, welchen man ihm gern zugestehen kann." In einer Beziehung freilich
hat der Marxismus kapitulirt: der vorausgesagte allgemeine Zusammenbruch
ist nicht eingetreten und wird wahrscheinlich auch im zwanzigsten Jahrhundert


Zur Kritik des Marxismus

sind sie auch bankerott" (und bestätigt dadurch meine Ansicht, daß sich in
einem Lande von alter Kultur und teueren Boden kein Bauernstand schaffen
und ein etwa vorhandncr sich nicht wesentlich vermehren läßt). Daß diese
Krisis des landwirtschaftlichen Grundbesitzes, die irreführend Not der Land¬
wirtschaft genannt wird, nur ein Teil der allgemeinen Krisis ist, daß die Land¬
wirtschaft niemals an sich, sondern nur, soweit sie kapitalistisch betrieben wird,
in eine Krisis geraten kann, ist in den Grenzboten oft genug dargelegt worden.
Ebenso behaupten die Handwerker und die Krümer, daß es um sie geschehen
sei, wenn der Staat zu ihrer Rettung nicht außerordentliche Mittel anwende,
und solche Mittel Hütte der Staat, dem an der Erhaltung dieser Stunde sehr
viel gelegen ist, doch gewiß lüngst angewandt, wenn er welche wüßte. Die
Großindustriellen aber pflegen die höhern Lohnforderungen der Arbeiter mit
der Klage abzuweisen, daß sie selbst nichts verdienten, daß sich kaum ihr Be¬
triebskapital verzinse, daß viele von ihnen mit Verlust arbeitete», nur um ihre
Leute zu beschüftigen. Die Ur. 2 der Korrespondenz des Bundes der Land¬
wirte schreibt in einer ihrer Anklagen gegen den neuen Kurs (vom natürlichen
Zusammenhange der wirtschaftlichen Dinge haben diese Leute ja keinen Begriff,
und darum klagen sie Minister an): „Ja, wenn unsre Industrie wirklich noch
florirte und zeigte, daß sie die Nation ernühren kann! Dabei aber schwellen in
den Großstädten die Zahlen der Arbeitslosen unheimlich an, überall wirtschaft¬
liche Depression, Klagen und Seufzer; die mit so ungeheuerm Tamtam an¬
gekündigte Berliner GeWerbeausstellung hat ein schweres Fiasko gemacht, und
der Nest ist — Ptene." In alledem mag ja sehr viel Übertreibung aus
Privatinteresse und Parteitaktik sein; aber soll man denn glauben, daß alles
geradezu erlogen sei, und daß die Angehörigen der staatserhaltenden Stunde
logen, so oft sie den Mund aufthun? Dazu kann ich mich denn doch vor¬
läufig noch nicht entschließen. Was unter der Überschrift „Englische Zustünde"
vor ein paar Monaten über die Krisis in England gesagt worden ist, hat
mittlerweile eine zum Studium der auswärtigen Industrie entsandte technische
Kommission mit ihrem Bericht ergänzt, der es für zweifellos erklärt, daß
einige Fächer der britischen Industrie durch die industriellen Fortschritte Deutsch¬
lands ernstlich gefährdet seien. Engels hatte in einem Vorwort zu einer neuen
Ausgabe von Marxens „Elend der Philosophie" geschrieben, an die Stelle des
Wechsels von Aufschwung und Krisis, der bisher die kapitalistische Wirtschaft
charcikterisirt habe, scheine jetzt die chronische Stagnation treten zu wollen.
Dazu bemerkt Wenckstern: „Aus dem Zusammenbruch ist ^also^ eine chronische
Stagnation geworden. Mit diesem Zugeständnis von Engels kapitulirt der
Marxismus und bleibt nur noch auf einen Abzug mit Gepäck und Waffen
bedacht, welchen man ihm gern zugestehen kann." In einer Beziehung freilich
hat der Marxismus kapitulirt: der vorausgesagte allgemeine Zusammenbruch
ist nicht eingetreten und wird wahrscheinlich auch im zwanzigsten Jahrhundert


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[0298] Zur Kritik des Marxismus sind sie auch bankerott" (und bestätigt dadurch meine Ansicht, daß sich in einem Lande von alter Kultur und teueren Boden kein Bauernstand schaffen und ein etwa vorhandncr sich nicht wesentlich vermehren läßt). Daß diese Krisis des landwirtschaftlichen Grundbesitzes, die irreführend Not der Land¬ wirtschaft genannt wird, nur ein Teil der allgemeinen Krisis ist, daß die Land¬ wirtschaft niemals an sich, sondern nur, soweit sie kapitalistisch betrieben wird, in eine Krisis geraten kann, ist in den Grenzboten oft genug dargelegt worden. Ebenso behaupten die Handwerker und die Krümer, daß es um sie geschehen sei, wenn der Staat zu ihrer Rettung nicht außerordentliche Mittel anwende, und solche Mittel Hütte der Staat, dem an der Erhaltung dieser Stunde sehr viel gelegen ist, doch gewiß lüngst angewandt, wenn er welche wüßte. Die Großindustriellen aber pflegen die höhern Lohnforderungen der Arbeiter mit der Klage abzuweisen, daß sie selbst nichts verdienten, daß sich kaum ihr Be¬ triebskapital verzinse, daß viele von ihnen mit Verlust arbeitete», nur um ihre Leute zu beschüftigen. Die Ur. 2 der Korrespondenz des Bundes der Land¬ wirte schreibt in einer ihrer Anklagen gegen den neuen Kurs (vom natürlichen Zusammenhange der wirtschaftlichen Dinge haben diese Leute ja keinen Begriff, und darum klagen sie Minister an): „Ja, wenn unsre Industrie wirklich noch florirte und zeigte, daß sie die Nation ernühren kann! Dabei aber schwellen in den Großstädten die Zahlen der Arbeitslosen unheimlich an, überall wirtschaft¬ liche Depression, Klagen und Seufzer; die mit so ungeheuerm Tamtam an¬ gekündigte Berliner GeWerbeausstellung hat ein schweres Fiasko gemacht, und der Nest ist — Ptene." In alledem mag ja sehr viel Übertreibung aus Privatinteresse und Parteitaktik sein; aber soll man denn glauben, daß alles geradezu erlogen sei, und daß die Angehörigen der staatserhaltenden Stunde logen, so oft sie den Mund aufthun? Dazu kann ich mich denn doch vor¬ läufig noch nicht entschließen. Was unter der Überschrift „Englische Zustünde" vor ein paar Monaten über die Krisis in England gesagt worden ist, hat mittlerweile eine zum Studium der auswärtigen Industrie entsandte technische Kommission mit ihrem Bericht ergänzt, der es für zweifellos erklärt, daß einige Fächer der britischen Industrie durch die industriellen Fortschritte Deutsch¬ lands ernstlich gefährdet seien. Engels hatte in einem Vorwort zu einer neuen Ausgabe von Marxens „Elend der Philosophie" geschrieben, an die Stelle des Wechsels von Aufschwung und Krisis, der bisher die kapitalistische Wirtschaft charcikterisirt habe, scheine jetzt die chronische Stagnation treten zu wollen. Dazu bemerkt Wenckstern: „Aus dem Zusammenbruch ist ^also^ eine chronische Stagnation geworden. Mit diesem Zugeständnis von Engels kapitulirt der Marxismus und bleibt nur noch auf einen Abzug mit Gepäck und Waffen bedacht, welchen man ihm gern zugestehen kann." In einer Beziehung freilich hat der Marxismus kapitulirt: der vorausgesagte allgemeine Zusammenbruch ist nicht eingetreten und wird wahrscheinlich auch im zwanzigsten Jahrhundert

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/298>, abgerufen am 21.05.2024.