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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Lin sozialpolitischer Rückblick

blick, ein sozialpolitischer Rückblick auf die Zeit vor zwanzig Jahren, die Zeit,
wo sich der bedeutsame Bruch mit der sogenannten liberalen Wirtschafts- und
Sozialpolitik vorbereitete und der Grund zu der Politik gelegt wurde, die man
heute als die der Bismarckschen Ära, des "alten" Kurses im besondern Sinne
zu bezeichnen pflegt.

Zu solch einem Rückblick bietet ein kleines Buch -- im Jahre 1877 ge¬
schrieben, fast ganz vergessen und im Buchhandel vergriffen --, das uns damals
lebhaft angeregt hat und uns heute angesichts des bevorstehenden Parteikampfs
lebhaft ins Gedächtnis gekommen ist, eine wertvolle Grundlage. Es ist das
AdolfHelds Schrift "Sozialismus, Sozialdemokratie und Sozialpolitik," unsers
Wissens eine der letzten Arbeiten, mit denen dieser talentvolle, viel versprechende,
durch einen frühen Tod seiner fruchtbaren Wirksamkeit entrissene National-
vkonom die deutsche volkswirtschaftliche Litteratur bereichert hat. Gerade für
jetzt und für die nächste Zukunft scheint uns, trotz mancher Irrtümer, trotz
vieler uicht eingetroffner Voraussagungen dieses kleine Heldsche Werkchen des
beherzigenswerten und lehrreichen so viel zu enthalten, daß wir dem gegen¬
wärtigen Geschlecht der Grenzbotenleser wenigstens einen kurzen Blick in diese
nach modernen Begriffen freilich schon sehr alten Blätter vermitteln wollen.

Wir gehen dabei am besten aus von folgender Antwort, die Held auf
die Frage: Was will und lehrt nun die Sozialdemokratie? giebt.

"Die Sozialdemokratie geht von den Menschenrechten aus und stellt sie
über das Recht des Staates. Der Staat hat dem Menschenrecht, daß jeder
die Frucht seiner Arbeit genießen könne, zu dienen und muß schonungslos so
umgestaltet werden, daß er diesen Zweck der Individuen erreichen kann."

"Der Staat ist nur eine Summe von Einzelnen. Die Gesellschaft ist die
Summe aller ihrer Glieder, sie ist nicht selbst ein Organismus, eine Person
mit eignen Zwecken, die über den Einzelzwecken stehen."

"Die Eiuzelzwecke, welchen der Staat zu dienen hat, sind ausschließlich Be¬
friedigung materieller Bedürfnisse der Einzelnen -- die Politik ist eine "Magen¬
frage," wie schon der Chartismus sagte."

"Die Sozialdemokratie erklärt die Religion zur Privatsache, d. h. sie ist
offiziell ganz indifferent gegen jede Religion, faktisch predigt sie den vollsten
Atheismus und bekämpft jede Religion als ein Mittel zur Knechtschaft. Sie
leugnet aber auch jedes ideale Sittlichkeitsprinzip, sittlich ist ihr nur, was nach
rationeller Kritik den materiellen Einzelinteressen der Mehrzahl nützlich ist."

"Sie ist prinzipiell kosmopolitisch und hält Stärkung der nationalen
Staaten als selbständiger Glieder der Menschheit nicht für notwendig. Der
nationale Staat ist ihr vielmehr eine lästige Fessel der individuellen Freiheit
und zugleich ein Hemmnis allgemeiner Menschenverbrüderung."



Leipzig 1878. Duret" und Humblot,
Lin sozialpolitischer Rückblick

blick, ein sozialpolitischer Rückblick auf die Zeit vor zwanzig Jahren, die Zeit,
wo sich der bedeutsame Bruch mit der sogenannten liberalen Wirtschafts- und
Sozialpolitik vorbereitete und der Grund zu der Politik gelegt wurde, die man
heute als die der Bismarckschen Ära, des „alten" Kurses im besondern Sinne
zu bezeichnen pflegt.

Zu solch einem Rückblick bietet ein kleines Buch — im Jahre 1877 ge¬
schrieben, fast ganz vergessen und im Buchhandel vergriffen —, das uns damals
lebhaft angeregt hat und uns heute angesichts des bevorstehenden Parteikampfs
lebhaft ins Gedächtnis gekommen ist, eine wertvolle Grundlage. Es ist das
AdolfHelds Schrift „Sozialismus, Sozialdemokratie und Sozialpolitik," unsers
Wissens eine der letzten Arbeiten, mit denen dieser talentvolle, viel versprechende,
durch einen frühen Tod seiner fruchtbaren Wirksamkeit entrissene National-
vkonom die deutsche volkswirtschaftliche Litteratur bereichert hat. Gerade für
jetzt und für die nächste Zukunft scheint uns, trotz mancher Irrtümer, trotz
vieler uicht eingetroffner Voraussagungen dieses kleine Heldsche Werkchen des
beherzigenswerten und lehrreichen so viel zu enthalten, daß wir dem gegen¬
wärtigen Geschlecht der Grenzbotenleser wenigstens einen kurzen Blick in diese
nach modernen Begriffen freilich schon sehr alten Blätter vermitteln wollen.

Wir gehen dabei am besten aus von folgender Antwort, die Held auf
die Frage: Was will und lehrt nun die Sozialdemokratie? giebt.

„Die Sozialdemokratie geht von den Menschenrechten aus und stellt sie
über das Recht des Staates. Der Staat hat dem Menschenrecht, daß jeder
die Frucht seiner Arbeit genießen könne, zu dienen und muß schonungslos so
umgestaltet werden, daß er diesen Zweck der Individuen erreichen kann."

„Der Staat ist nur eine Summe von Einzelnen. Die Gesellschaft ist die
Summe aller ihrer Glieder, sie ist nicht selbst ein Organismus, eine Person
mit eignen Zwecken, die über den Einzelzwecken stehen."

„Die Eiuzelzwecke, welchen der Staat zu dienen hat, sind ausschließlich Be¬
friedigung materieller Bedürfnisse der Einzelnen — die Politik ist eine »Magen¬
frage,« wie schon der Chartismus sagte."

„Die Sozialdemokratie erklärt die Religion zur Privatsache, d. h. sie ist
offiziell ganz indifferent gegen jede Religion, faktisch predigt sie den vollsten
Atheismus und bekämpft jede Religion als ein Mittel zur Knechtschaft. Sie
leugnet aber auch jedes ideale Sittlichkeitsprinzip, sittlich ist ihr nur, was nach
rationeller Kritik den materiellen Einzelinteressen der Mehrzahl nützlich ist."

„Sie ist prinzipiell kosmopolitisch und hält Stärkung der nationalen
Staaten als selbständiger Glieder der Menschheit nicht für notwendig. Der
nationale Staat ist ihr vielmehr eine lästige Fessel der individuellen Freiheit
und zugleich ein Hemmnis allgemeiner Menschenverbrüderung."



Leipzig 1878. Duret« und Humblot,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/300>, abgerufen am 22.05.2024.