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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Gin sozialpolitischer Rückblick

Ablegen seiner Verirrungen ist die einzige starke Waffe gegen die Sozial¬
demokratie. Erziehen wir uns selbst in wirtschaftlicher, sittlicher, religiöser und
politischer Hinsicht -- und wir werden die Arbeiter erziehen."

Und was haben vor allem die vereinigten "Freisinnigen" in dieser Selbst¬
zucht geleistet? Haben sie in der ganzen Zeit des "alten" und des "neuen"
Kurses dem entsprochen, was Held verlangt, wenn er hinzufügt: "Der Libe¬
ralismus muß den Schutz und die Hebung der Schwachen durch eine starke
Staatsgewalt zu seiner eigensten Aufgabe machen. Er muß anknüpfen an die
Traditionen Friedrichs des Großen, definitiv brechen mit dem manchesterlichen
Ideal von der schwachen Regierung und der wohlhabenden Bourgeoisie" ? Haben
sie uicht vielmehr die Neinknltur jenes extremen, verkehrten Liberalismus zu
ihrer besondern Aufgabe gemacht? Sind sie nicht nach wie vor die Vertreter des
orthodoxen Manchestertums, der Lehre vom "Nachtwächterstaat," der materiali¬
stischen Welt- und Lebensanschauung geblieben? Gilt ihnen nicht hente noch der
kürzlich in den Grenzboten gebührend beleuchtete Grundsatz Schutzes, "so viel als
möglich zu haben und so wenig als möglich dafür zu thun," als die höchste
Lebensweisheit des Bürgers und Menschen? Fürwahr, Bismarck hat Recht
gehabt, wenn er diesen Liberalismus als die Vorfrucht der Sozialdemokratie
bezeichnete. Aber ganz ebenso ist ans diesem Dünger das heutige Agraricrtum
ins Kraut geschossen. Auch für die Agrarier ist jener Schulische Grundsatz
die Parole, auch sie sind die extremsten Individualisten, nur daß sie anch
Getreidezölle und andre Staatshilfen für ihre Zwecke benutzen. Und uun will
der "Freisinn" nach zwei Fronten, gegen Sozialdemokraten und Agrarier,
Deutschlands Bürgertum zum Kampfe aufbieten? Liniilig. sirmlibus, sagt der
Homöopath, aber man kann anch in der Politik, und am wenigsten in der
Sozialpolitik, um die sich jetzt alles dreht, nicht den Teufel austreiben mit
dem obersten der Teufel, nicht die Selbstsucht durch "freisinnige" Rezepte. Erst
wenn sich das deutsche Volk in Stadt und Land, in Adel und Bürgertum wieder
bewußt wird, daß es Ideale im Herzen trägt, die hoch stehen über dem Wunsche,
materielle Bedürfnisse der Einzelnen zu befriedigen, erst dann wird es nach
links und rechts dem Feinde die Spitze bieten können, im Lande und jenseits
der Grenze.




Gin sozialpolitischer Rückblick

Ablegen seiner Verirrungen ist die einzige starke Waffe gegen die Sozial¬
demokratie. Erziehen wir uns selbst in wirtschaftlicher, sittlicher, religiöser und
politischer Hinsicht — und wir werden die Arbeiter erziehen."

Und was haben vor allem die vereinigten „Freisinnigen" in dieser Selbst¬
zucht geleistet? Haben sie in der ganzen Zeit des „alten" und des „neuen"
Kurses dem entsprochen, was Held verlangt, wenn er hinzufügt: „Der Libe¬
ralismus muß den Schutz und die Hebung der Schwachen durch eine starke
Staatsgewalt zu seiner eigensten Aufgabe machen. Er muß anknüpfen an die
Traditionen Friedrichs des Großen, definitiv brechen mit dem manchesterlichen
Ideal von der schwachen Regierung und der wohlhabenden Bourgeoisie" ? Haben
sie uicht vielmehr die Neinknltur jenes extremen, verkehrten Liberalismus zu
ihrer besondern Aufgabe gemacht? Sind sie nicht nach wie vor die Vertreter des
orthodoxen Manchestertums, der Lehre vom „Nachtwächterstaat," der materiali¬
stischen Welt- und Lebensanschauung geblieben? Gilt ihnen nicht hente noch der
kürzlich in den Grenzboten gebührend beleuchtete Grundsatz Schutzes, „so viel als
möglich zu haben und so wenig als möglich dafür zu thun," als die höchste
Lebensweisheit des Bürgers und Menschen? Fürwahr, Bismarck hat Recht
gehabt, wenn er diesen Liberalismus als die Vorfrucht der Sozialdemokratie
bezeichnete. Aber ganz ebenso ist ans diesem Dünger das heutige Agraricrtum
ins Kraut geschossen. Auch für die Agrarier ist jener Schulische Grundsatz
die Parole, auch sie sind die extremsten Individualisten, nur daß sie anch
Getreidezölle und andre Staatshilfen für ihre Zwecke benutzen. Und uun will
der „Freisinn" nach zwei Fronten, gegen Sozialdemokraten und Agrarier,
Deutschlands Bürgertum zum Kampfe aufbieten? Liniilig. sirmlibus, sagt der
Homöopath, aber man kann anch in der Politik, und am wenigsten in der
Sozialpolitik, um die sich jetzt alles dreht, nicht den Teufel austreiben mit
dem obersten der Teufel, nicht die Selbstsucht durch „freisinnige" Rezepte. Erst
wenn sich das deutsche Volk in Stadt und Land, in Adel und Bürgertum wieder
bewußt wird, daß es Ideale im Herzen trägt, die hoch stehen über dem Wunsche,
materielle Bedürfnisse der Einzelnen zu befriedigen, erst dann wird es nach
links und rechts dem Feinde die Spitze bieten können, im Lande und jenseits
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[0304] Gin sozialpolitischer Rückblick Ablegen seiner Verirrungen ist die einzige starke Waffe gegen die Sozial¬ demokratie. Erziehen wir uns selbst in wirtschaftlicher, sittlicher, religiöser und politischer Hinsicht — und wir werden die Arbeiter erziehen." Und was haben vor allem die vereinigten „Freisinnigen" in dieser Selbst¬ zucht geleistet? Haben sie in der ganzen Zeit des „alten" und des „neuen" Kurses dem entsprochen, was Held verlangt, wenn er hinzufügt: „Der Libe¬ ralismus muß den Schutz und die Hebung der Schwachen durch eine starke Staatsgewalt zu seiner eigensten Aufgabe machen. Er muß anknüpfen an die Traditionen Friedrichs des Großen, definitiv brechen mit dem manchesterlichen Ideal von der schwachen Regierung und der wohlhabenden Bourgeoisie" ? Haben sie uicht vielmehr die Neinknltur jenes extremen, verkehrten Liberalismus zu ihrer besondern Aufgabe gemacht? Sind sie nicht nach wie vor die Vertreter des orthodoxen Manchestertums, der Lehre vom „Nachtwächterstaat," der materiali¬ stischen Welt- und Lebensanschauung geblieben? Gilt ihnen nicht hente noch der kürzlich in den Grenzboten gebührend beleuchtete Grundsatz Schutzes, „so viel als möglich zu haben und so wenig als möglich dafür zu thun," als die höchste Lebensweisheit des Bürgers und Menschen? Fürwahr, Bismarck hat Recht gehabt, wenn er diesen Liberalismus als die Vorfrucht der Sozialdemokratie bezeichnete. Aber ganz ebenso ist ans diesem Dünger das heutige Agraricrtum ins Kraut geschossen. Auch für die Agrarier ist jener Schulische Grundsatz die Parole, auch sie sind die extremsten Individualisten, nur daß sie anch Getreidezölle und andre Staatshilfen für ihre Zwecke benutzen. Und uun will der „Freisinn" nach zwei Fronten, gegen Sozialdemokraten und Agrarier, Deutschlands Bürgertum zum Kampfe aufbieten? Liniilig. sirmlibus, sagt der Homöopath, aber man kann anch in der Politik, und am wenigsten in der Sozialpolitik, um die sich jetzt alles dreht, nicht den Teufel austreiben mit dem obersten der Teufel, nicht die Selbstsucht durch „freisinnige" Rezepte. Erst wenn sich das deutsche Volk in Stadt und Land, in Adel und Bürgertum wieder bewußt wird, daß es Ideale im Herzen trägt, die hoch stehen über dem Wunsche, materielle Bedürfnisse der Einzelnen zu befriedigen, erst dann wird es nach links und rechts dem Feinde die Spitze bieten können, im Lande und jenseits der Grenze.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/304>, abgerufen am 22.05.2024.