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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Naturforschung und Weltanschauung

Vergleich mit den riesigen Fortschritten, den wunderbaren Aufschlüssen der
großen naturwissenschaftlichen Hauptfächer, der Physik und der physikalischen
Chemie. Noch nie sind in der kurzen Spanne von etwa fünfzig Jahren unsre
Kenntnisse über das Wesen der Dinge so gründlich vertieft und erweitert worden
wie hier. Wir haben gelernt, daß Kraft und Stoff unveränderlich und ewig
sich selbst gleich bleiben, daß uns nur ein stetiger Wechsel der äußern Erschei¬
nungsform blendet. Alle verschiednen Kräfte sind eins, denn sie lassen sich ohne
Verlust und ohne Zuwachs nach bestündigen Gesetzen in einander überführen.

Die Chemiker neigen immer mehr der Ansicht zu, daß auch der immerhin
beschränkten Zahl der sogenannten Elemente nur eine kleine Anzahl, vielleicht
sogar nur ein einziger Stoff zu Grunde liege. Die Spektralanalyse hat uns
gelehrt, daß die fernen Weltkörper aus denselben Stoffen bestehen, wie die
von uns bewohnte Erde. Die Astrophysik zeigt, daß diese riesigen Weltkörper
in Millionen von Meilen Entfernung von denselben Kräften bewegt werden,
daß sie denselben Gesetzen folgen, wie die kleinsten Teile, die wir mit dem
stärksten Mikroskop erkennen. Also ein Stoff, eine Kraft, ein Gesetz -- überall,
wohin wir blicken, im Weltall! Der vergängliche Mensch steht hier an der
Schwelle des Ewigen, des Unvergänglichen, des Unendlichen. Er vermag
sogar die einzelnen Erscheinungen dieser erhabnen Vorgänge zu erkennen, zu
begreifen und mit Zahlen zu berechnen. Ein Wesen, dem die Kraft verliehen
ist, so Großes zu schauen, bis an die Grenzen des Unendlichen und Ewigen
vorzudringen, wird sich nur schwer mit dein Gedanken vertraut machen können,
daß es zu nichts anderen bestimmt sein soll, als ein flüchtiger, zufälliger,
thatenloser Zuschauer des Unendlichen zu sein und nach zwecklosem Dasein
zwecklos und spurlos im Nichts zu vergehen.

Auf der bewußten Anschauung und Kenntnis der ganzen uns erreich¬
baren Welt baut sich eine neue Naturanschauung auf, unendlich erhabner,
aber auch unendlich bescheidner als die der Materialisten, die, nachdem sie
einen winzigen Bruchteil der Erscheinungen erklärt haben, glauben, alles zu
wissen, alles zu können, alles zu sein. Diese Weltanschauung kann nicht mehr,
wie es die letzte Folgerung des Materialismus ist, deu Menschen als Mittel¬
punkt der Welt ansehen. Er ist nur der demütige Zuschauer, vielleicht ein
kleinster mitarbeitender Teil eines unendlichen Ganzen, dessen wunderbare
Größe und Gesetzmäßigkeit jeden Gedanken an Zufälligkeit ausschließt. Ge¬
würdigt zu sein, all dies Große bewußt zu schauen und zu erkennen, ist schon
Zweck, hoher Zweck genug.

Die Vertreter der großen naturwissenschaftlichen Fächer mögen ihre
Stellung zu den letzten Fragen nehmen, wie sie wollen. Als Vorspann für
eine materialistische Weltanschauung können diese Disziplinen nicht gebraucht
werden. Wohin diese Forschung, diese Bewegung sührt, wissen wir nicht.
Wir wissen nur, daß die Tage der materialistischen Weltanschauung gezählt sind.


Naturforschung und Weltanschauung

Vergleich mit den riesigen Fortschritten, den wunderbaren Aufschlüssen der
großen naturwissenschaftlichen Hauptfächer, der Physik und der physikalischen
Chemie. Noch nie sind in der kurzen Spanne von etwa fünfzig Jahren unsre
Kenntnisse über das Wesen der Dinge so gründlich vertieft und erweitert worden
wie hier. Wir haben gelernt, daß Kraft und Stoff unveränderlich und ewig
sich selbst gleich bleiben, daß uns nur ein stetiger Wechsel der äußern Erschei¬
nungsform blendet. Alle verschiednen Kräfte sind eins, denn sie lassen sich ohne
Verlust und ohne Zuwachs nach bestündigen Gesetzen in einander überführen.

Die Chemiker neigen immer mehr der Ansicht zu, daß auch der immerhin
beschränkten Zahl der sogenannten Elemente nur eine kleine Anzahl, vielleicht
sogar nur ein einziger Stoff zu Grunde liege. Die Spektralanalyse hat uns
gelehrt, daß die fernen Weltkörper aus denselben Stoffen bestehen, wie die
von uns bewohnte Erde. Die Astrophysik zeigt, daß diese riesigen Weltkörper
in Millionen von Meilen Entfernung von denselben Kräften bewegt werden,
daß sie denselben Gesetzen folgen, wie die kleinsten Teile, die wir mit dem
stärksten Mikroskop erkennen. Also ein Stoff, eine Kraft, ein Gesetz — überall,
wohin wir blicken, im Weltall! Der vergängliche Mensch steht hier an der
Schwelle des Ewigen, des Unvergänglichen, des Unendlichen. Er vermag
sogar die einzelnen Erscheinungen dieser erhabnen Vorgänge zu erkennen, zu
begreifen und mit Zahlen zu berechnen. Ein Wesen, dem die Kraft verliehen
ist, so Großes zu schauen, bis an die Grenzen des Unendlichen und Ewigen
vorzudringen, wird sich nur schwer mit dein Gedanken vertraut machen können,
daß es zu nichts anderen bestimmt sein soll, als ein flüchtiger, zufälliger,
thatenloser Zuschauer des Unendlichen zu sein und nach zwecklosem Dasein
zwecklos und spurlos im Nichts zu vergehen.

Auf der bewußten Anschauung und Kenntnis der ganzen uns erreich¬
baren Welt baut sich eine neue Naturanschauung auf, unendlich erhabner,
aber auch unendlich bescheidner als die der Materialisten, die, nachdem sie
einen winzigen Bruchteil der Erscheinungen erklärt haben, glauben, alles zu
wissen, alles zu können, alles zu sein. Diese Weltanschauung kann nicht mehr,
wie es die letzte Folgerung des Materialismus ist, deu Menschen als Mittel¬
punkt der Welt ansehen. Er ist nur der demütige Zuschauer, vielleicht ein
kleinster mitarbeitender Teil eines unendlichen Ganzen, dessen wunderbare
Größe und Gesetzmäßigkeit jeden Gedanken an Zufälligkeit ausschließt. Ge¬
würdigt zu sein, all dies Große bewußt zu schauen und zu erkennen, ist schon
Zweck, hoher Zweck genug.

Die Vertreter der großen naturwissenschaftlichen Fächer mögen ihre
Stellung zu den letzten Fragen nehmen, wie sie wollen. Als Vorspann für
eine materialistische Weltanschauung können diese Disziplinen nicht gebraucht
werden. Wohin diese Forschung, diese Bewegung sührt, wissen wir nicht.
Wir wissen nur, daß die Tage der materialistischen Weltanschauung gezählt sind.


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[0031] Naturforschung und Weltanschauung Vergleich mit den riesigen Fortschritten, den wunderbaren Aufschlüssen der großen naturwissenschaftlichen Hauptfächer, der Physik und der physikalischen Chemie. Noch nie sind in der kurzen Spanne von etwa fünfzig Jahren unsre Kenntnisse über das Wesen der Dinge so gründlich vertieft und erweitert worden wie hier. Wir haben gelernt, daß Kraft und Stoff unveränderlich und ewig sich selbst gleich bleiben, daß uns nur ein stetiger Wechsel der äußern Erschei¬ nungsform blendet. Alle verschiednen Kräfte sind eins, denn sie lassen sich ohne Verlust und ohne Zuwachs nach bestündigen Gesetzen in einander überführen. Die Chemiker neigen immer mehr der Ansicht zu, daß auch der immerhin beschränkten Zahl der sogenannten Elemente nur eine kleine Anzahl, vielleicht sogar nur ein einziger Stoff zu Grunde liege. Die Spektralanalyse hat uns gelehrt, daß die fernen Weltkörper aus denselben Stoffen bestehen, wie die von uns bewohnte Erde. Die Astrophysik zeigt, daß diese riesigen Weltkörper in Millionen von Meilen Entfernung von denselben Kräften bewegt werden, daß sie denselben Gesetzen folgen, wie die kleinsten Teile, die wir mit dem stärksten Mikroskop erkennen. Also ein Stoff, eine Kraft, ein Gesetz — überall, wohin wir blicken, im Weltall! Der vergängliche Mensch steht hier an der Schwelle des Ewigen, des Unvergänglichen, des Unendlichen. Er vermag sogar die einzelnen Erscheinungen dieser erhabnen Vorgänge zu erkennen, zu begreifen und mit Zahlen zu berechnen. Ein Wesen, dem die Kraft verliehen ist, so Großes zu schauen, bis an die Grenzen des Unendlichen und Ewigen vorzudringen, wird sich nur schwer mit dein Gedanken vertraut machen können, daß es zu nichts anderen bestimmt sein soll, als ein flüchtiger, zufälliger, thatenloser Zuschauer des Unendlichen zu sein und nach zwecklosem Dasein zwecklos und spurlos im Nichts zu vergehen. Auf der bewußten Anschauung und Kenntnis der ganzen uns erreich¬ baren Welt baut sich eine neue Naturanschauung auf, unendlich erhabner, aber auch unendlich bescheidner als die der Materialisten, die, nachdem sie einen winzigen Bruchteil der Erscheinungen erklärt haben, glauben, alles zu wissen, alles zu können, alles zu sein. Diese Weltanschauung kann nicht mehr, wie es die letzte Folgerung des Materialismus ist, deu Menschen als Mittel¬ punkt der Welt ansehen. Er ist nur der demütige Zuschauer, vielleicht ein kleinster mitarbeitender Teil eines unendlichen Ganzen, dessen wunderbare Größe und Gesetzmäßigkeit jeden Gedanken an Zufälligkeit ausschließt. Ge¬ würdigt zu sein, all dies Große bewußt zu schauen und zu erkennen, ist schon Zweck, hoher Zweck genug. Die Vertreter der großen naturwissenschaftlichen Fächer mögen ihre Stellung zu den letzten Fragen nehmen, wie sie wollen. Als Vorspann für eine materialistische Weltanschauung können diese Disziplinen nicht gebraucht werden. Wohin diese Forschung, diese Bewegung sührt, wissen wir nicht. Wir wissen nur, daß die Tage der materialistischen Weltanschauung gezählt sind.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/31>, abgerufen am 21.05.2024.