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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Antiker und moderner Militarismus

heutigen Deutschen? Man kann ganz ruhig an Stelle von Saneballat sagen:
granäs nation oder einen unsrer andern Nachbarn, an Stelle des Wortes
Juden: Deutsche, und es ergiebt sich daraus, in welcher Weise auch wir unsern
Staat weiter und fertig zu bauen und zu schützen haben. Was helfen Klagen
und Vergleiche! wir haben mit der Thatsache zu rechnen, daß unsre Wehrver¬
fassung den geographischen und historischen, den politischen und sozialen Ver¬
hältnissen unsers Volkes angepaßt sein muß, daß in diesen die Grundlagen
gegeben sind, von denen wir nicht loskommen. Alles Exemplifiziren auf andre
Nationen -- alte und moderne -- hilft nichts, sie haben nach ihren Be¬
dingungen gelebt und ihre Lebensbedingungen im Kampf ums Dasein zu er¬
halten getrachtet, und wir müssen es auf unsre Weise thun. Waren früher
die Kultnrverhältnisse einfacher, lebten die Völker unter einseitiger" Bedingungen,
so konnten auch ihre Wehrverhültnisse einfacher, einseitiger sein. Ebenso wenig
aber, wie man die Verwicklung der heutigen lontinentalcuropäischen Kulturen
als einen Übelstand ansehen kann, so wenig kann eine richtig darauf aufgebaute
Wehrverfassung ein Übelstand sein, weil sie nicht diesem oder jenem einfachen
Typus entspricht.

Sehen wir einmal nach der Grundlage unsrer Wehrverfassung; vielleicht
zeigt sich dabei, ob sie unsern Lebensbedingungen entspricht, oder in welchen
Punkten in absehbarer Zeit eine erwünschte Änderung, d. h eine Erleichte¬
rung eintreten kann. Ohne einen kurzeu geschichtlichen Rückblick geht es dabei
nicht ab.

Das alte deutsche Kaisertum ist nach mehrfachen Versuchen, seine Macht
im Sinne des römischen Imperiums geltend zu machen, zu Grunde gegangen;
auf dem deutschen Boden hat die staatliche Zentralgewalt zu Gunsten der
Territorien abgedankt, während die Nachbarvölker in ihrem Zusammenschluß
zu Nationalstaaten uns weit vorausgeeilt sind. Natürlich sind diese Nachbarn
dadurch lange Zeiträume hindurch viel stärker als wir. Unsre Nachbarn sind
zwar keine bösartigen Leute, aber wie das bei Nachbarn zu sein pflegt: ihre
Scheuer ist ihnen lieber als unser Haus, und so sehen sie bei Interessen-
konflikten zunächst nach dem Ihren. Da wir leider nicht mit gleicher Kraft
unsre Interessen wahrnehmen können, so geht es weiter bergab mit uns, und
im siebzehnten Jahrhundert, nachdem die volle Souveränität der Territorien
verfassungsmäßig anerkannt ist, da ist Deutschland so eine Art Dispositions¬
gebiet geworden, aus dem sich jeder Nachbar eine "Entschädigung," einen ihm
gefallenden Fetzen herausreißt. Schon viel früher hat wenig gefehlt, daß ein
Großburgund, ein Großböhmen oder Großungarn eine Art von Teilung Deutsch¬
lands bewirkt, aber noch zu Beginn des vorigen Jahrhunderts -- das sind
jetzt zweihundert Jahre, ein kleiner Zeitraum vom geschichtlichen Standpunkt
ans -- steht es so, daß Vorpommern, Bremen und Werden schwedisch. Schles¬
wig-Holstein dünisch, Westpreußen polnisch ist, daß Hannover mit England in


Antiker und moderner Militarismus

heutigen Deutschen? Man kann ganz ruhig an Stelle von Saneballat sagen:
granäs nation oder einen unsrer andern Nachbarn, an Stelle des Wortes
Juden: Deutsche, und es ergiebt sich daraus, in welcher Weise auch wir unsern
Staat weiter und fertig zu bauen und zu schützen haben. Was helfen Klagen
und Vergleiche! wir haben mit der Thatsache zu rechnen, daß unsre Wehrver¬
fassung den geographischen und historischen, den politischen und sozialen Ver¬
hältnissen unsers Volkes angepaßt sein muß, daß in diesen die Grundlagen
gegeben sind, von denen wir nicht loskommen. Alles Exemplifiziren auf andre
Nationen — alte und moderne — hilft nichts, sie haben nach ihren Be¬
dingungen gelebt und ihre Lebensbedingungen im Kampf ums Dasein zu er¬
halten getrachtet, und wir müssen es auf unsre Weise thun. Waren früher
die Kultnrverhältnisse einfacher, lebten die Völker unter einseitiger» Bedingungen,
so konnten auch ihre Wehrverhültnisse einfacher, einseitiger sein. Ebenso wenig
aber, wie man die Verwicklung der heutigen lontinentalcuropäischen Kulturen
als einen Übelstand ansehen kann, so wenig kann eine richtig darauf aufgebaute
Wehrverfassung ein Übelstand sein, weil sie nicht diesem oder jenem einfachen
Typus entspricht.

Sehen wir einmal nach der Grundlage unsrer Wehrverfassung; vielleicht
zeigt sich dabei, ob sie unsern Lebensbedingungen entspricht, oder in welchen
Punkten in absehbarer Zeit eine erwünschte Änderung, d. h eine Erleichte¬
rung eintreten kann. Ohne einen kurzeu geschichtlichen Rückblick geht es dabei
nicht ab.

Das alte deutsche Kaisertum ist nach mehrfachen Versuchen, seine Macht
im Sinne des römischen Imperiums geltend zu machen, zu Grunde gegangen;
auf dem deutschen Boden hat die staatliche Zentralgewalt zu Gunsten der
Territorien abgedankt, während die Nachbarvölker in ihrem Zusammenschluß
zu Nationalstaaten uns weit vorausgeeilt sind. Natürlich sind diese Nachbarn
dadurch lange Zeiträume hindurch viel stärker als wir. Unsre Nachbarn sind
zwar keine bösartigen Leute, aber wie das bei Nachbarn zu sein pflegt: ihre
Scheuer ist ihnen lieber als unser Haus, und so sehen sie bei Interessen-
konflikten zunächst nach dem Ihren. Da wir leider nicht mit gleicher Kraft
unsre Interessen wahrnehmen können, so geht es weiter bergab mit uns, und
im siebzehnten Jahrhundert, nachdem die volle Souveränität der Territorien
verfassungsmäßig anerkannt ist, da ist Deutschland so eine Art Dispositions¬
gebiet geworden, aus dem sich jeder Nachbar eine „Entschädigung," einen ihm
gefallenden Fetzen herausreißt. Schon viel früher hat wenig gefehlt, daß ein
Großburgund, ein Großböhmen oder Großungarn eine Art von Teilung Deutsch¬
lands bewirkt, aber noch zu Beginn des vorigen Jahrhunderts — das sind
jetzt zweihundert Jahre, ein kleiner Zeitraum vom geschichtlichen Standpunkt
ans — steht es so, daß Vorpommern, Bremen und Werden schwedisch. Schles¬
wig-Holstein dünisch, Westpreußen polnisch ist, daß Hannover mit England in


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[0329] Antiker und moderner Militarismus heutigen Deutschen? Man kann ganz ruhig an Stelle von Saneballat sagen: granäs nation oder einen unsrer andern Nachbarn, an Stelle des Wortes Juden: Deutsche, und es ergiebt sich daraus, in welcher Weise auch wir unsern Staat weiter und fertig zu bauen und zu schützen haben. Was helfen Klagen und Vergleiche! wir haben mit der Thatsache zu rechnen, daß unsre Wehrver¬ fassung den geographischen und historischen, den politischen und sozialen Ver¬ hältnissen unsers Volkes angepaßt sein muß, daß in diesen die Grundlagen gegeben sind, von denen wir nicht loskommen. Alles Exemplifiziren auf andre Nationen — alte und moderne — hilft nichts, sie haben nach ihren Be¬ dingungen gelebt und ihre Lebensbedingungen im Kampf ums Dasein zu er¬ halten getrachtet, und wir müssen es auf unsre Weise thun. Waren früher die Kultnrverhältnisse einfacher, lebten die Völker unter einseitiger» Bedingungen, so konnten auch ihre Wehrverhültnisse einfacher, einseitiger sein. Ebenso wenig aber, wie man die Verwicklung der heutigen lontinentalcuropäischen Kulturen als einen Übelstand ansehen kann, so wenig kann eine richtig darauf aufgebaute Wehrverfassung ein Übelstand sein, weil sie nicht diesem oder jenem einfachen Typus entspricht. Sehen wir einmal nach der Grundlage unsrer Wehrverfassung; vielleicht zeigt sich dabei, ob sie unsern Lebensbedingungen entspricht, oder in welchen Punkten in absehbarer Zeit eine erwünschte Änderung, d. h eine Erleichte¬ rung eintreten kann. Ohne einen kurzeu geschichtlichen Rückblick geht es dabei nicht ab. Das alte deutsche Kaisertum ist nach mehrfachen Versuchen, seine Macht im Sinne des römischen Imperiums geltend zu machen, zu Grunde gegangen; auf dem deutschen Boden hat die staatliche Zentralgewalt zu Gunsten der Territorien abgedankt, während die Nachbarvölker in ihrem Zusammenschluß zu Nationalstaaten uns weit vorausgeeilt sind. Natürlich sind diese Nachbarn dadurch lange Zeiträume hindurch viel stärker als wir. Unsre Nachbarn sind zwar keine bösartigen Leute, aber wie das bei Nachbarn zu sein pflegt: ihre Scheuer ist ihnen lieber als unser Haus, und so sehen sie bei Interessen- konflikten zunächst nach dem Ihren. Da wir leider nicht mit gleicher Kraft unsre Interessen wahrnehmen können, so geht es weiter bergab mit uns, und im siebzehnten Jahrhundert, nachdem die volle Souveränität der Territorien verfassungsmäßig anerkannt ist, da ist Deutschland so eine Art Dispositions¬ gebiet geworden, aus dem sich jeder Nachbar eine „Entschädigung," einen ihm gefallenden Fetzen herausreißt. Schon viel früher hat wenig gefehlt, daß ein Großburgund, ein Großböhmen oder Großungarn eine Art von Teilung Deutsch¬ lands bewirkt, aber noch zu Beginn des vorigen Jahrhunderts — das sind jetzt zweihundert Jahre, ein kleiner Zeitraum vom geschichtlichen Standpunkt ans — steht es so, daß Vorpommern, Bremen und Werden schwedisch. Schles¬ wig-Holstein dünisch, Westpreußen polnisch ist, daß Hannover mit England in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/329>, abgerufen am 21.05.2024.