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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kritik des Marxismus

Was nun werden wird, weiß Lorenz nicht. Sicher ist seiner Ansicht nach nur,
"daß heute der individualistische liberale Gedanke daran ist, vom sozialen Ge¬
danken abgelöst zu werden, in ihm als in einer höhern Einheit aufzugehen.
Für die Politik der bevorstehenden Zukunft kommt zweifellos nur. wer Sozialist
ist, in Betracht. Es wäre ein Sozialismus erforderlich, der auch bietet, was
dem rechten Flügel der Sozialdemokratie zu eigen ist, und der außerdem noch
enthält, was jenem abgeht, nämlich Elemente, die geeignet wären, zu einer
unsrer Zeit entsprechenden Weltanschauung zu führen." Diese Ansicht teile
ich nicht. Daß ich sür meine Person nicht Sozialist, sondern Individualist bin,
kommt natürlich für den Gang der Weltgeschichte nicht in Betracht, wohl aber,
daß der Individualismus zu deu unentbehrlichen Bestandteilen des Kultur¬
lebens gehört und den Sozialismus zwar als Gegenpol fordert, aber niemals
in ihm ausgehen darf. Daß im Verlaufe der Weltgeschichte Individualismus
und Sozialismus, gerade so wie die Glieder andrer polarer Jdeenpaare, ein¬
ander in der Führung ablösen, ist richtig, aber aufgehen darf das eine Glied
im andern nicht, wenn die Kulturentwicklung nicht still stehen soll; und über¬
dies herrscht der Sozialismus jetzt schon in einem solchen Grade vor, daß
man im Gegensatz zu Lorenz berechtigt ist, zu wünschen, es möchte der liberale
Individualismus wieder einmal an die Reihe kommen, der bisher immer bloß
auf kurze Zeit und in einzelnen Gebieten, wie in der Litteratur, im Handel,
in der Industrie, Macht erlaugt hat. Individualistisch ist das Zeitalter der
Renaissance und der Reformation gewesen; unsre Zeit ist die Zeit der zu gleich¬
artigem Denken, Fühlen und Handeln gedrillten Massen. Lorenz gebraucht
zudem in dem angeführten Satze die Worte sozial und sozialistisch als gleich¬
bedeutend, und das ist nun grundfalsch. Sozial heißt doch weiter nichts als
gesellschaftlich oder sich auf die Gesellschaft beziehend. Das Organ der National-
sozialen, die Zeit, schrieb in Ur. 14, die Grenzboten würden von manchen
Leuten "sür die vornehmste sozial gerichtete Wochenschrift Deutschlands" ge¬
halten. Darin hat sie insofern Recht, als die Grenzboten den Gesellschafts¬
zuständen, die ja den eigentlichen Inhalt der Politik ausmachen, und der Ge¬
sellschaftswissenschaft die gebührende Aufmerksamkeit widmen. Aber wenn meine
Beiträge sozialistisch genannt würden, so wäre das ein wunderlicher Irrtum;
die der andern Mitarbeiter sind es ebensowenig. Wir haben schon mehr als
übrig genug Sozialismus, das heißt erzwungne Unterordnung der Einzelnen
unter die wirklichen und die eingebildeten Bedürfnisse der Gesellschaft. Jeder
Staat ist eine sozialistische Einrichtung, und die Staatsgewalt greift heute
meiner Überzeugung nach viel zu tief ins Privatleben ein. Daher würde ich
es als ein großes Unglück beklagen, wenn aus dem heutige,: Staate der rein
sozialistische Staat, d. h. der Staat, der die noch übrigen Neste freier Erwerbs¬
thätigkeit vollends verschlänge, hervorwachsen sollte. Die Möglichkeit einer
solchen Entwicklung muß natürlich zugegeben werden, denn kein Mensch kann


Zur Kritik des Marxismus

Was nun werden wird, weiß Lorenz nicht. Sicher ist seiner Ansicht nach nur,
„daß heute der individualistische liberale Gedanke daran ist, vom sozialen Ge¬
danken abgelöst zu werden, in ihm als in einer höhern Einheit aufzugehen.
Für die Politik der bevorstehenden Zukunft kommt zweifellos nur. wer Sozialist
ist, in Betracht. Es wäre ein Sozialismus erforderlich, der auch bietet, was
dem rechten Flügel der Sozialdemokratie zu eigen ist, und der außerdem noch
enthält, was jenem abgeht, nämlich Elemente, die geeignet wären, zu einer
unsrer Zeit entsprechenden Weltanschauung zu führen." Diese Ansicht teile
ich nicht. Daß ich sür meine Person nicht Sozialist, sondern Individualist bin,
kommt natürlich für den Gang der Weltgeschichte nicht in Betracht, wohl aber,
daß der Individualismus zu deu unentbehrlichen Bestandteilen des Kultur¬
lebens gehört und den Sozialismus zwar als Gegenpol fordert, aber niemals
in ihm ausgehen darf. Daß im Verlaufe der Weltgeschichte Individualismus
und Sozialismus, gerade so wie die Glieder andrer polarer Jdeenpaare, ein¬
ander in der Führung ablösen, ist richtig, aber aufgehen darf das eine Glied
im andern nicht, wenn die Kulturentwicklung nicht still stehen soll; und über¬
dies herrscht der Sozialismus jetzt schon in einem solchen Grade vor, daß
man im Gegensatz zu Lorenz berechtigt ist, zu wünschen, es möchte der liberale
Individualismus wieder einmal an die Reihe kommen, der bisher immer bloß
auf kurze Zeit und in einzelnen Gebieten, wie in der Litteratur, im Handel,
in der Industrie, Macht erlaugt hat. Individualistisch ist das Zeitalter der
Renaissance und der Reformation gewesen; unsre Zeit ist die Zeit der zu gleich¬
artigem Denken, Fühlen und Handeln gedrillten Massen. Lorenz gebraucht
zudem in dem angeführten Satze die Worte sozial und sozialistisch als gleich¬
bedeutend, und das ist nun grundfalsch. Sozial heißt doch weiter nichts als
gesellschaftlich oder sich auf die Gesellschaft beziehend. Das Organ der National-
sozialen, die Zeit, schrieb in Ur. 14, die Grenzboten würden von manchen
Leuten „sür die vornehmste sozial gerichtete Wochenschrift Deutschlands" ge¬
halten. Darin hat sie insofern Recht, als die Grenzboten den Gesellschafts¬
zuständen, die ja den eigentlichen Inhalt der Politik ausmachen, und der Ge¬
sellschaftswissenschaft die gebührende Aufmerksamkeit widmen. Aber wenn meine
Beiträge sozialistisch genannt würden, so wäre das ein wunderlicher Irrtum;
die der andern Mitarbeiter sind es ebensowenig. Wir haben schon mehr als
übrig genug Sozialismus, das heißt erzwungne Unterordnung der Einzelnen
unter die wirklichen und die eingebildeten Bedürfnisse der Gesellschaft. Jeder
Staat ist eine sozialistische Einrichtung, und die Staatsgewalt greift heute
meiner Überzeugung nach viel zu tief ins Privatleben ein. Daher würde ich
es als ein großes Unglück beklagen, wenn aus dem heutige,: Staate der rein
sozialistische Staat, d. h. der Staat, der die noch übrigen Neste freier Erwerbs¬
thätigkeit vollends verschlänge, hervorwachsen sollte. Die Möglichkeit einer
solchen Entwicklung muß natürlich zugegeben werden, denn kein Mensch kann


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[0344] Zur Kritik des Marxismus Was nun werden wird, weiß Lorenz nicht. Sicher ist seiner Ansicht nach nur, „daß heute der individualistische liberale Gedanke daran ist, vom sozialen Ge¬ danken abgelöst zu werden, in ihm als in einer höhern Einheit aufzugehen. Für die Politik der bevorstehenden Zukunft kommt zweifellos nur. wer Sozialist ist, in Betracht. Es wäre ein Sozialismus erforderlich, der auch bietet, was dem rechten Flügel der Sozialdemokratie zu eigen ist, und der außerdem noch enthält, was jenem abgeht, nämlich Elemente, die geeignet wären, zu einer unsrer Zeit entsprechenden Weltanschauung zu führen." Diese Ansicht teile ich nicht. Daß ich sür meine Person nicht Sozialist, sondern Individualist bin, kommt natürlich für den Gang der Weltgeschichte nicht in Betracht, wohl aber, daß der Individualismus zu deu unentbehrlichen Bestandteilen des Kultur¬ lebens gehört und den Sozialismus zwar als Gegenpol fordert, aber niemals in ihm ausgehen darf. Daß im Verlaufe der Weltgeschichte Individualismus und Sozialismus, gerade so wie die Glieder andrer polarer Jdeenpaare, ein¬ ander in der Führung ablösen, ist richtig, aber aufgehen darf das eine Glied im andern nicht, wenn die Kulturentwicklung nicht still stehen soll; und über¬ dies herrscht der Sozialismus jetzt schon in einem solchen Grade vor, daß man im Gegensatz zu Lorenz berechtigt ist, zu wünschen, es möchte der liberale Individualismus wieder einmal an die Reihe kommen, der bisher immer bloß auf kurze Zeit und in einzelnen Gebieten, wie in der Litteratur, im Handel, in der Industrie, Macht erlaugt hat. Individualistisch ist das Zeitalter der Renaissance und der Reformation gewesen; unsre Zeit ist die Zeit der zu gleich¬ artigem Denken, Fühlen und Handeln gedrillten Massen. Lorenz gebraucht zudem in dem angeführten Satze die Worte sozial und sozialistisch als gleich¬ bedeutend, und das ist nun grundfalsch. Sozial heißt doch weiter nichts als gesellschaftlich oder sich auf die Gesellschaft beziehend. Das Organ der National- sozialen, die Zeit, schrieb in Ur. 14, die Grenzboten würden von manchen Leuten „sür die vornehmste sozial gerichtete Wochenschrift Deutschlands" ge¬ halten. Darin hat sie insofern Recht, als die Grenzboten den Gesellschafts¬ zuständen, die ja den eigentlichen Inhalt der Politik ausmachen, und der Ge¬ sellschaftswissenschaft die gebührende Aufmerksamkeit widmen. Aber wenn meine Beiträge sozialistisch genannt würden, so wäre das ein wunderlicher Irrtum; die der andern Mitarbeiter sind es ebensowenig. Wir haben schon mehr als übrig genug Sozialismus, das heißt erzwungne Unterordnung der Einzelnen unter die wirklichen und die eingebildeten Bedürfnisse der Gesellschaft. Jeder Staat ist eine sozialistische Einrichtung, und die Staatsgewalt greift heute meiner Überzeugung nach viel zu tief ins Privatleben ein. Daher würde ich es als ein großes Unglück beklagen, wenn aus dem heutige,: Staate der rein sozialistische Staat, d. h. der Staat, der die noch übrigen Neste freier Erwerbs¬ thätigkeit vollends verschlänge, hervorwachsen sollte. Die Möglichkeit einer solchen Entwicklung muß natürlich zugegeben werden, denn kein Mensch kann

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/344>, abgerufen am 15.05.2024.