Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Kunstgenuß des Laien

sie dem Gegenstände und der Auffassung des betreffenden Kunstwerks nur selten
in einer für das Publikum, d. h. für den Durchschnitt der knnstfreundlichen
Laien, maßgebenden Weise gerecht. Die Probe ist leicht gemacht: man befrage
zwei scheinbar unbefangne, bedeutende Künstler um ihre Meinung über das
Werk eines dritten, und es ist zu wetten, daß sie in der Schätzung des Tech¬
nischen so ziemlich übereinstimmen, im übrigen jedoch einander heftig
widersprechen werden. Was ferner die offiziellen Kritiker angeht, unter denen
die Rezensenten der Tagesblätter und Zeitschriften, sowie, in gewissem Sinne,
die Vorsteher öffentlicher Kunstinstitute zu verstehen sind, so setzt man ja bei
ihnen leider oft mit Unrecht voraus, daß sie ohne^Schmähsucht und Partei¬
tendenz und dasttr auf Grund geordneter, aufrichtiger Überzeugung tadeln, wenn
etwas zu tadeln ist. Trotzdem müssen wir grundsätzlich annehmen, daß der
richtige Kritiker von Einzelwerken nur die verurteilt, die hinter der offenbaren
Absicht ihres Schöpfers an ästhetischer Durchbildung und technischer Vollendung
zurückbleiben, daß er nur den Künstler als einen irrenden hinstellt, der sich
innerhalb der von ihm zum Anschluß gewählten Gruppe willkürlich, verworren,
widerspruchsvoll zeigt, und daß er bei der Besprechung der ganzen Künstler-
grnppen oder Kunstrichtungen keine einzige schlechthin verdammt, da eine jede
ihre natürliche und also notwendige Herkunft hat, sondern sie klar definirt, ihre
Motive und ihre Ziele darlegt, ihre Berechtigung hervorhebt und nur ihre Über¬
treibungen, Unklarheiten und Velleitäten brandmarkt. Die Grundlage, auf der
er alle diese Eiuzelurteile und das Gesamturteil fällt, hat er sich durch genaue
Kenntnis des künstlerischen Schaffens, durch umfassende Orientirung über
.Kunstwerke und Künstler, dnrch Bildung einer ästhetischen Überzeugung er¬
worben; und er wird diese Überzeugung, seinen Maßstab, nicht sowohl ans theo¬
retischen Abstraktionen und aprioristischen Forderungen aufgebaut haben, als
vielmehr sie eiuer gewisse" Erfahrung verdanken, einer Erfahrung, die ihrerseits
auf der beobachteten durchschnittlichen Aufnahmefähigkeit des normalen knnst-
freundlicheu Menschen fußt. Natürlich wird dabei diese Norm eher zu hoch als zu
niedrig angesetzt, um Publikum wie Künstler, gleichsam pädagogisch, anzustrengen
und anzuspornen.

Da nun der nichtoffiziclle Kritiker, der freiwillig kritisirende Laie, durch¬
aus nicht ungebildeter und ungeübter zu sein braucht als der offizielle, so gilt
das soeben von diesem gesagte auch für ihn. Wir würden jedem Laien, und
dem leidenschaftlichsten am dringlichsten, zur besonnenen Objektivität raten.

Das wird den Enthusiasten nicht gefallen und ebensowenig den flott Sub¬
jektiven, die unsre jugendseligen Tage auf allen Gebieten des Ethischen und
des Ästhetischen so besonders zahlreich hervorbringen. Sie werfen ein, daß das
Streben nach Objektivität ihnen den harmlosen Genuß beeinträchtige und das
Recht des unmittelbaren Urteils verkürze. Wohl ihnen, wenn ihr Ich, das
ihnen bei solcher Gesinnung überall wie aus Spiegeln entgegenbringen wird,


Grenzbowi I 18!>7 51
Der Kunstgenuß des Laien

sie dem Gegenstände und der Auffassung des betreffenden Kunstwerks nur selten
in einer für das Publikum, d. h. für den Durchschnitt der knnstfreundlichen
Laien, maßgebenden Weise gerecht. Die Probe ist leicht gemacht: man befrage
zwei scheinbar unbefangne, bedeutende Künstler um ihre Meinung über das
Werk eines dritten, und es ist zu wetten, daß sie in der Schätzung des Tech¬
nischen so ziemlich übereinstimmen, im übrigen jedoch einander heftig
widersprechen werden. Was ferner die offiziellen Kritiker angeht, unter denen
die Rezensenten der Tagesblätter und Zeitschriften, sowie, in gewissem Sinne,
die Vorsteher öffentlicher Kunstinstitute zu verstehen sind, so setzt man ja bei
ihnen leider oft mit Unrecht voraus, daß sie ohne^Schmähsucht und Partei¬
tendenz und dasttr auf Grund geordneter, aufrichtiger Überzeugung tadeln, wenn
etwas zu tadeln ist. Trotzdem müssen wir grundsätzlich annehmen, daß der
richtige Kritiker von Einzelwerken nur die verurteilt, die hinter der offenbaren
Absicht ihres Schöpfers an ästhetischer Durchbildung und technischer Vollendung
zurückbleiben, daß er nur den Künstler als einen irrenden hinstellt, der sich
innerhalb der von ihm zum Anschluß gewählten Gruppe willkürlich, verworren,
widerspruchsvoll zeigt, und daß er bei der Besprechung der ganzen Künstler-
grnppen oder Kunstrichtungen keine einzige schlechthin verdammt, da eine jede
ihre natürliche und also notwendige Herkunft hat, sondern sie klar definirt, ihre
Motive und ihre Ziele darlegt, ihre Berechtigung hervorhebt und nur ihre Über¬
treibungen, Unklarheiten und Velleitäten brandmarkt. Die Grundlage, auf der
er alle diese Eiuzelurteile und das Gesamturteil fällt, hat er sich durch genaue
Kenntnis des künstlerischen Schaffens, durch umfassende Orientirung über
.Kunstwerke und Künstler, dnrch Bildung einer ästhetischen Überzeugung er¬
worben; und er wird diese Überzeugung, seinen Maßstab, nicht sowohl ans theo¬
retischen Abstraktionen und aprioristischen Forderungen aufgebaut haben, als
vielmehr sie eiuer gewisse» Erfahrung verdanken, einer Erfahrung, die ihrerseits
auf der beobachteten durchschnittlichen Aufnahmefähigkeit des normalen knnst-
freundlicheu Menschen fußt. Natürlich wird dabei diese Norm eher zu hoch als zu
niedrig angesetzt, um Publikum wie Künstler, gleichsam pädagogisch, anzustrengen
und anzuspornen.

Da nun der nichtoffiziclle Kritiker, der freiwillig kritisirende Laie, durch¬
aus nicht ungebildeter und ungeübter zu sein braucht als der offizielle, so gilt
das soeben von diesem gesagte auch für ihn. Wir würden jedem Laien, und
dem leidenschaftlichsten am dringlichsten, zur besonnenen Objektivität raten.

Das wird den Enthusiasten nicht gefallen und ebensowenig den flott Sub¬
jektiven, die unsre jugendseligen Tage auf allen Gebieten des Ethischen und
des Ästhetischen so besonders zahlreich hervorbringen. Sie werfen ein, daß das
Streben nach Objektivität ihnen den harmlosen Genuß beeinträchtige und das
Recht des unmittelbaren Urteils verkürze. Wohl ihnen, wenn ihr Ich, das
ihnen bei solcher Gesinnung überall wie aus Spiegeln entgegenbringen wird,


Grenzbowi I 18!>7 51
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0409" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224655"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Kunstgenuß des Laien</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1198" prev="#ID_1197"> sie dem Gegenstände und der Auffassung des betreffenden Kunstwerks nur selten<lb/>
in einer für das Publikum, d. h. für den Durchschnitt der knnstfreundlichen<lb/>
Laien, maßgebenden Weise gerecht. Die Probe ist leicht gemacht: man befrage<lb/>
zwei scheinbar unbefangne, bedeutende Künstler um ihre Meinung über das<lb/>
Werk eines dritten, und es ist zu wetten, daß sie in der Schätzung des Tech¬<lb/>
nischen so ziemlich übereinstimmen, im übrigen jedoch einander heftig<lb/>
widersprechen werden. Was ferner die offiziellen Kritiker angeht, unter denen<lb/>
die Rezensenten der Tagesblätter und Zeitschriften, sowie, in gewissem Sinne,<lb/>
die Vorsteher öffentlicher Kunstinstitute zu verstehen sind, so setzt man ja bei<lb/>
ihnen leider oft mit Unrecht voraus, daß sie ohne^Schmähsucht und Partei¬<lb/>
tendenz und dasttr auf Grund geordneter, aufrichtiger Überzeugung tadeln, wenn<lb/>
etwas zu tadeln ist. Trotzdem müssen wir grundsätzlich annehmen, daß der<lb/>
richtige Kritiker von Einzelwerken nur die verurteilt, die hinter der offenbaren<lb/>
Absicht ihres Schöpfers an ästhetischer Durchbildung und technischer Vollendung<lb/>
zurückbleiben, daß er nur den Künstler als einen irrenden hinstellt, der sich<lb/>
innerhalb der von ihm zum Anschluß gewählten Gruppe willkürlich, verworren,<lb/>
widerspruchsvoll zeigt, und daß er bei der Besprechung der ganzen Künstler-<lb/>
grnppen oder Kunstrichtungen keine einzige schlechthin verdammt, da eine jede<lb/>
ihre natürliche und also notwendige Herkunft hat, sondern sie klar definirt, ihre<lb/>
Motive und ihre Ziele darlegt, ihre Berechtigung hervorhebt und nur ihre Über¬<lb/>
treibungen, Unklarheiten und Velleitäten brandmarkt. Die Grundlage, auf der<lb/>
er alle diese Eiuzelurteile und das Gesamturteil fällt, hat er sich durch genaue<lb/>
Kenntnis des künstlerischen Schaffens, durch umfassende Orientirung über<lb/>
.Kunstwerke und Künstler, dnrch Bildung einer ästhetischen Überzeugung er¬<lb/>
worben; und er wird diese Überzeugung, seinen Maßstab, nicht sowohl ans theo¬<lb/>
retischen Abstraktionen und aprioristischen Forderungen aufgebaut haben, als<lb/>
vielmehr sie eiuer gewisse» Erfahrung verdanken, einer Erfahrung, die ihrerseits<lb/>
auf der beobachteten durchschnittlichen Aufnahmefähigkeit des normalen knnst-<lb/>
freundlicheu Menschen fußt. Natürlich wird dabei diese Norm eher zu hoch als zu<lb/>
niedrig angesetzt, um Publikum wie Künstler, gleichsam pädagogisch, anzustrengen<lb/>
und anzuspornen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1199"> Da nun der nichtoffiziclle Kritiker, der freiwillig kritisirende Laie, durch¬<lb/>
aus nicht ungebildeter und ungeübter zu sein braucht als der offizielle, so gilt<lb/>
das soeben von diesem gesagte auch für ihn. Wir würden jedem Laien, und<lb/>
dem leidenschaftlichsten am dringlichsten, zur besonnenen Objektivität raten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1200" next="#ID_1201"> Das wird den Enthusiasten nicht gefallen und ebensowenig den flott Sub¬<lb/>
jektiven, die unsre jugendseligen Tage auf allen Gebieten des Ethischen und<lb/>
des Ästhetischen so besonders zahlreich hervorbringen. Sie werfen ein, daß das<lb/>
Streben nach Objektivität ihnen den harmlosen Genuß beeinträchtige und das<lb/>
Recht des unmittelbaren Urteils verkürze. Wohl ihnen, wenn ihr Ich, das<lb/>
ihnen bei solcher Gesinnung überall wie aus Spiegeln entgegenbringen wird,</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzbowi I 18!&gt;7 51</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0409] Der Kunstgenuß des Laien sie dem Gegenstände und der Auffassung des betreffenden Kunstwerks nur selten in einer für das Publikum, d. h. für den Durchschnitt der knnstfreundlichen Laien, maßgebenden Weise gerecht. Die Probe ist leicht gemacht: man befrage zwei scheinbar unbefangne, bedeutende Künstler um ihre Meinung über das Werk eines dritten, und es ist zu wetten, daß sie in der Schätzung des Tech¬ nischen so ziemlich übereinstimmen, im übrigen jedoch einander heftig widersprechen werden. Was ferner die offiziellen Kritiker angeht, unter denen die Rezensenten der Tagesblätter und Zeitschriften, sowie, in gewissem Sinne, die Vorsteher öffentlicher Kunstinstitute zu verstehen sind, so setzt man ja bei ihnen leider oft mit Unrecht voraus, daß sie ohne^Schmähsucht und Partei¬ tendenz und dasttr auf Grund geordneter, aufrichtiger Überzeugung tadeln, wenn etwas zu tadeln ist. Trotzdem müssen wir grundsätzlich annehmen, daß der richtige Kritiker von Einzelwerken nur die verurteilt, die hinter der offenbaren Absicht ihres Schöpfers an ästhetischer Durchbildung und technischer Vollendung zurückbleiben, daß er nur den Künstler als einen irrenden hinstellt, der sich innerhalb der von ihm zum Anschluß gewählten Gruppe willkürlich, verworren, widerspruchsvoll zeigt, und daß er bei der Besprechung der ganzen Künstler- grnppen oder Kunstrichtungen keine einzige schlechthin verdammt, da eine jede ihre natürliche und also notwendige Herkunft hat, sondern sie klar definirt, ihre Motive und ihre Ziele darlegt, ihre Berechtigung hervorhebt und nur ihre Über¬ treibungen, Unklarheiten und Velleitäten brandmarkt. Die Grundlage, auf der er alle diese Eiuzelurteile und das Gesamturteil fällt, hat er sich durch genaue Kenntnis des künstlerischen Schaffens, durch umfassende Orientirung über .Kunstwerke und Künstler, dnrch Bildung einer ästhetischen Überzeugung er¬ worben; und er wird diese Überzeugung, seinen Maßstab, nicht sowohl ans theo¬ retischen Abstraktionen und aprioristischen Forderungen aufgebaut haben, als vielmehr sie eiuer gewisse» Erfahrung verdanken, einer Erfahrung, die ihrerseits auf der beobachteten durchschnittlichen Aufnahmefähigkeit des normalen knnst- freundlicheu Menschen fußt. Natürlich wird dabei diese Norm eher zu hoch als zu niedrig angesetzt, um Publikum wie Künstler, gleichsam pädagogisch, anzustrengen und anzuspornen. Da nun der nichtoffiziclle Kritiker, der freiwillig kritisirende Laie, durch¬ aus nicht ungebildeter und ungeübter zu sein braucht als der offizielle, so gilt das soeben von diesem gesagte auch für ihn. Wir würden jedem Laien, und dem leidenschaftlichsten am dringlichsten, zur besonnenen Objektivität raten. Das wird den Enthusiasten nicht gefallen und ebensowenig den flott Sub¬ jektiven, die unsre jugendseligen Tage auf allen Gebieten des Ethischen und des Ästhetischen so besonders zahlreich hervorbringen. Sie werfen ein, daß das Streben nach Objektivität ihnen den harmlosen Genuß beeinträchtige und das Recht des unmittelbaren Urteils verkürze. Wohl ihnen, wenn ihr Ich, das ihnen bei solcher Gesinnung überall wie aus Spiegeln entgegenbringen wird, Grenzbowi I 18!>7 51

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/409
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/409>, abgerufen am 21.05.2024.