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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Essays

Der Verfasser reiht nun eine scharfe und interessante Beobachtung an die
andre. Er verlangt von seinem Leser gewissermaßen das Zugeständnis, daß
er Recht habe. Wollten wir daraufhin sagen: ich begreife den Standpunkt
bei dem "Milieu" des Verfassers, so könnte sich das einem so bedeutenden
Manne gegenüber ausnehmen wie eine triviale Umgehung der Hauptsache, auf
die er das Wort anwenden könnte, das er für die Orthodoxen bereit hat: "Mit
dieser Entschuldigung lasse ich sie nicht Passiren." Wir wollen darum von
unsern persönlichen Bedürfnissen aus nur etwa folgendes anzuführen versuchen:
die theologischen Mittelparteien und den Protestantenverein brauche ich das
ganze Jahr nicht; so oft ich mich aber mit meinen Gedanken in das Über¬
natürliche begebe, scheint mir etwas Mystik oder, was der Verfasser Orthodoxie
nennt, von nöten. Seine Methode ist gut und scharf, aber hier versagt sie,
denn das menschliche Gemüt ist kein Präzisionsapparat. Und wenn sich
Menschen, die sich sonst hassen und zanken, einmal in etwas praktischem ver¬
einen, so freue ich mich, wen" ich auch vielleicht für ihren Verein noch einen
Passendern Namen wüßte.

Alle Aufsätze Gildemeisters handeln nebenher und zwei von ihnen aus¬
drücklich über die Sprache. Gildemeister ist bekannt als geschmackvoller und
vielseitiger Übersetzer. Seine Übersetzung von Byrons Don Juan darf man
ein kleines Wunderwerk der Übertragungskunst nennen. Als ich sie zum ersten¬
male las, war ich ganz überrascht von dem Eindruck; ich Hütte nie vorher
gedacht, daß so etwas eine Übersetzung leisten könnte. Wer so etwas fertig
bringt, der ist ein Künstler in der Sprache. Gildemeisters Prosa scheint nach
jenem Rezept Schopenhauers gemacht. Sie ist so einfach, und sein Ausdruck
so treffend, daß man meint, man könnte sich gar nicht anders ausdrücken. Ja,
aber! Darin liegt eben das Geheimnis der Kunst. Er hat auch gleich die
Bedeutung des Wustmaunschen Buches: "Allerhand Sprachdummheiten" er¬
kannt und giebt uns dazu schöne Beiträge seiner eignen Art, die Sprache zu
behandeln.

Gildemeister ist Politiker und Jurist, Mensch unter Menschen und ein
Sprachkenncr wie der beste Fachmann. Seine Essays enthalten einen Schatz
von Weisheit und geben zugleich das Muster in Bezug auf die Form der
Mitteilung. Er hat sein eignes selbständiges Sprachgefühl, das ihn auch bei
besondern Wendungen richtig leitet. Wir haben nur einen einzigen Fehler
bemerkt, deu "ungefähren Sinn" (S. 224), was wir nur deswegen anführen,
weil ausdrücklich dort über die Gattung des Fehlers gehandelt wird, man also
sieht, wie tief dem Deutschen die Inkorrektheit im Blute liegt. Wir sehen
erwartungsvoll den hoffentlich noch recht vielen folgenden Bänden entgegen.




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Essays

Der Verfasser reiht nun eine scharfe und interessante Beobachtung an die
andre. Er verlangt von seinem Leser gewissermaßen das Zugeständnis, daß
er Recht habe. Wollten wir daraufhin sagen: ich begreife den Standpunkt
bei dem „Milieu" des Verfassers, so könnte sich das einem so bedeutenden
Manne gegenüber ausnehmen wie eine triviale Umgehung der Hauptsache, auf
die er das Wort anwenden könnte, das er für die Orthodoxen bereit hat: „Mit
dieser Entschuldigung lasse ich sie nicht Passiren." Wir wollen darum von
unsern persönlichen Bedürfnissen aus nur etwa folgendes anzuführen versuchen:
die theologischen Mittelparteien und den Protestantenverein brauche ich das
ganze Jahr nicht; so oft ich mich aber mit meinen Gedanken in das Über¬
natürliche begebe, scheint mir etwas Mystik oder, was der Verfasser Orthodoxie
nennt, von nöten. Seine Methode ist gut und scharf, aber hier versagt sie,
denn das menschliche Gemüt ist kein Präzisionsapparat. Und wenn sich
Menschen, die sich sonst hassen und zanken, einmal in etwas praktischem ver¬
einen, so freue ich mich, wen» ich auch vielleicht für ihren Verein noch einen
Passendern Namen wüßte.

Alle Aufsätze Gildemeisters handeln nebenher und zwei von ihnen aus¬
drücklich über die Sprache. Gildemeister ist bekannt als geschmackvoller und
vielseitiger Übersetzer. Seine Übersetzung von Byrons Don Juan darf man
ein kleines Wunderwerk der Übertragungskunst nennen. Als ich sie zum ersten¬
male las, war ich ganz überrascht von dem Eindruck; ich Hütte nie vorher
gedacht, daß so etwas eine Übersetzung leisten könnte. Wer so etwas fertig
bringt, der ist ein Künstler in der Sprache. Gildemeisters Prosa scheint nach
jenem Rezept Schopenhauers gemacht. Sie ist so einfach, und sein Ausdruck
so treffend, daß man meint, man könnte sich gar nicht anders ausdrücken. Ja,
aber! Darin liegt eben das Geheimnis der Kunst. Er hat auch gleich die
Bedeutung des Wustmaunschen Buches: „Allerhand Sprachdummheiten" er¬
kannt und giebt uns dazu schöne Beiträge seiner eignen Art, die Sprache zu
behandeln.

Gildemeister ist Politiker und Jurist, Mensch unter Menschen und ein
Sprachkenncr wie der beste Fachmann. Seine Essays enthalten einen Schatz
von Weisheit und geben zugleich das Muster in Bezug auf die Form der
Mitteilung. Er hat sein eignes selbständiges Sprachgefühl, das ihn auch bei
besondern Wendungen richtig leitet. Wir haben nur einen einzigen Fehler
bemerkt, deu „ungefähren Sinn" (S. 224), was wir nur deswegen anführen,
weil ausdrücklich dort über die Gattung des Fehlers gehandelt wird, man also
sieht, wie tief dem Deutschen die Inkorrektheit im Blute liegt. Wir sehen
erwartungsvoll den hoffentlich noch recht vielen folgenden Bänden entgegen.




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[0049] Essays Der Verfasser reiht nun eine scharfe und interessante Beobachtung an die andre. Er verlangt von seinem Leser gewissermaßen das Zugeständnis, daß er Recht habe. Wollten wir daraufhin sagen: ich begreife den Standpunkt bei dem „Milieu" des Verfassers, so könnte sich das einem so bedeutenden Manne gegenüber ausnehmen wie eine triviale Umgehung der Hauptsache, auf die er das Wort anwenden könnte, das er für die Orthodoxen bereit hat: „Mit dieser Entschuldigung lasse ich sie nicht Passiren." Wir wollen darum von unsern persönlichen Bedürfnissen aus nur etwa folgendes anzuführen versuchen: die theologischen Mittelparteien und den Protestantenverein brauche ich das ganze Jahr nicht; so oft ich mich aber mit meinen Gedanken in das Über¬ natürliche begebe, scheint mir etwas Mystik oder, was der Verfasser Orthodoxie nennt, von nöten. Seine Methode ist gut und scharf, aber hier versagt sie, denn das menschliche Gemüt ist kein Präzisionsapparat. Und wenn sich Menschen, die sich sonst hassen und zanken, einmal in etwas praktischem ver¬ einen, so freue ich mich, wen» ich auch vielleicht für ihren Verein noch einen Passendern Namen wüßte. Alle Aufsätze Gildemeisters handeln nebenher und zwei von ihnen aus¬ drücklich über die Sprache. Gildemeister ist bekannt als geschmackvoller und vielseitiger Übersetzer. Seine Übersetzung von Byrons Don Juan darf man ein kleines Wunderwerk der Übertragungskunst nennen. Als ich sie zum ersten¬ male las, war ich ganz überrascht von dem Eindruck; ich Hütte nie vorher gedacht, daß so etwas eine Übersetzung leisten könnte. Wer so etwas fertig bringt, der ist ein Künstler in der Sprache. Gildemeisters Prosa scheint nach jenem Rezept Schopenhauers gemacht. Sie ist so einfach, und sein Ausdruck so treffend, daß man meint, man könnte sich gar nicht anders ausdrücken. Ja, aber! Darin liegt eben das Geheimnis der Kunst. Er hat auch gleich die Bedeutung des Wustmaunschen Buches: „Allerhand Sprachdummheiten" er¬ kannt und giebt uns dazu schöne Beiträge seiner eignen Art, die Sprache zu behandeln. Gildemeister ist Politiker und Jurist, Mensch unter Menschen und ein Sprachkenncr wie der beste Fachmann. Seine Essays enthalten einen Schatz von Weisheit und geben zugleich das Muster in Bezug auf die Form der Mitteilung. Er hat sein eignes selbständiges Sprachgefühl, das ihn auch bei besondern Wendungen richtig leitet. Wir haben nur einen einzigen Fehler bemerkt, deu „ungefähren Sinn" (S. 224), was wir nur deswegen anführen, weil ausdrücklich dort über die Gattung des Fehlers gehandelt wird, man also sieht, wie tief dem Deutschen die Inkorrektheit im Blute liegt. Wir sehen erwartungsvoll den hoffentlich noch recht vielen folgenden Bänden entgegen. Grenzboten I 18!>7II

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/49>, abgerufen am 22.05.2024.